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Man muss sie nur finden Vorwort

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In Archiven, Bibliotheken, Schlössern, privaten Nachlässen …

Nein, im Fundamt werden sie nicht abgegeben, die Fundstücke, um die es in diesem Buch geht. Es bringt auch wenig, durch die Stadt zu spazieren und auf der Straße nachzusehen, ob sie irgendwo herumliegen. Sie sind mir vielmehr zugeflogen. In all den Jahren, seit ich über historische Themen schreibe, habe ich viele Menschen kennengelernt, die an der Quelle sitzen. In Archiven und Bibliotheken, in ehemals kaiserlichen Schlössern, in Verlagen, Film- und Theaterkanzleien, in Universitätsinstituten, Auktionshäusern und Museen, aber auch in privaten Familiennachlässen – seien sie aristokratischer oder bürgerlicher Provenienz. Und wenn irgendwo innerhalb ihrer meist altehrwürdigen Mauern etwas Interessantes auftaucht, dann rufen sie mich an oder schreiben mir, meine treuen Leserinnen und Informanten.

Unbekannte Geschichten über bekannte Leute

An manchen Tagen höre ich mir mehrere solcher Geschichten an. Unbekannte Geschichten über bekannte Leute, denen Ungewöhnliches widerfuhr. Geschichten aus plötzlich auftauchenden Tagebüchern, Briefen oder Testamenten. Geschichten, die von kuriosen oder tragischen Ereignissen und von heimlichen Liebesaffären historischer Persönlichkeiten erzählen. Ich schaue mir die Dokumente an, prüfe sie sehr genau, recherchiere das Umfeld – und das Wunder passiert dann immer wieder: dass echte Fundstücke darunter sind. Man muss sie nur finden.

Der letzte Adjutant des Kaisers

Um konkret zu werden: Es sind zwei Tagebücher von wahrhaft historischer Dimension, aus denen ich hier zitieren darf: Georg Graf Walterskirchen vertraute mir die seit Generationen in Familienbesitz befindlichen Aufzeichnungen seines Großvaters Adalbert von Spanyi an, der Kaiser Franz Josephs letzter Adjutant und diesem vertrauter war als irgendjemand anderer. Es ist ein berührender Bericht, in dem das letzte Lebensjahr und schließlich der Tod des alten Kaisers aus nächster Nähe geschildert werden. Spanyi beschreibt, wie sehr die engsten Angehörigen und Mitarbeiter bis zuletzt hofften, dass Franz Joseph – und mit ihm die Monarchie – weiterleben würden, bis er am 21. November 1916 resignierend notiert: »Um 8 Uhr Abend sagen (die Ärzte) Kerzl und Ortner, die Seine Majestät zu Bett gebracht haben, dass keine Rettung mehr möglich.«

Der Versuch, die Monarchie zu retten

Ein anderes, bisher ebenfalls unbekanntes Tagebuch stammt vom Grafen Thomas Erdödy, der als »Kurier des Kaisers« monatelang zwischen Österreich und der neutralen Schweiz hin- und herpendelte, um im Auftrag Kaiser Karls mitzuhelfen, den Ersten Weltkrieg zu beenden und damit das Habsburgerreich zu retten. Beides ist bekanntlich nicht gelungen, aber die Versuche, die mittels falscher Identitäten und gefälschter Dokumente getätigt wurden, lesen sich wie ein – streckenweise ziemlich skurriler – Spionagekrimi. Das Tagebuch wurde mir von Erdödys Nachfahren Klaus und Heinz Lukesch zur Verfügung gestellt.

Ich zitiere natürlich nicht nur aus den mir anvertrauten Tagebüchern, Briefen und sonstigen Aufzeichnungen – das ergäbe eine wohl eher trockene Lektüre –, sondern spüre auch biografisches Material der handelnden Personen auf, spreche mit Zeitzeugen, begebe mich auf Entdeckungsreisen in die Geschichte.

Die Frau Sacher verliebt sich

Im ersten Kapitel war es ein mir übergebenes Tonband, das zum Fundstück wurde. Auf diesem Tonband erzählt eine Cousine der Anna Sacher von der großen Liebe der legendären Hotelbesitzerin, die sich nach dem Tod ihres Mannes Eduard Sacher Hals über Kopf in den Zentraldirektor des Bankhauses Rothschild verliebte. Die Affäre mit Julius Schuster musste damals streng geheim bleiben, da der ebenso angesehene wie einflussreiche Geschäftsmann verheiratet war. In diesem Buch wird zum ersten Mal Schusters Lebensgeschichte und seine zum Teil dramatische Verbindung mit dem Hause Sacher geschildert, wobei mir seine Nachkommen Amelie Gräfin Trauttmansdorff und Carl von Rohrer mit wertvollen Auskünften zur Seite standen.

Das riesige Vermögen verspielt

Die Familie der Tortendynastie ist auch in einem weiteren Kapitel mit dem Untertitel »Die unglücklichen Sacher-Erben« vertreten. Es geht darin um den mir aus einer ganz anderen Quelle zugespielten schriftlichen Nachlass der Herren Franz und Eduard Sacher, dem zu entnehmen ist, wie vermögend die Hoteliers tatsächlich waren. Freilich zeigen Testamente und Korrespondenzen auch auf, wie die Nachfahren der beiden geschäftstüchtigen Kaufleute durch Leichtsinn das riesige Vermögen verloren haben.

Ein General schreibt dreitausend Liebesbriefe

Anna Sachers Geschichte ist nicht die einzige Lovestory, die durch Fundstücke belegt ist. Ich erzähle vom einzig unberühmten Liebhaber – neben so vielen berühmten – der Alma Mahler-Werfel. Er war ein katholischer Priester, der es im österreichischen Ständestaat fast zum Kardinal gebracht hätte. In einer weiteren Liebesaffäre geht es um den k. u. k. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf, der sich, wie seinen feurigen Liebesbriefen zu entnehmen ist, mitten im Ersten Weltkrieg mehr um seine große Liebe Gina von Reininghaus als um das Kriegsgeschehen zu kümmern schien. Nicht weniger als dreitausend Liebesbriefe geben Auskunft über diese Beziehung.

Richard Wagners »Vierecksverhältnis«

Ebenfalls um Liebe geht es bei Richard Wagner, von dem mir ein verloren geglaubter schriftlicher Heiratsantrag ausgehändigt wurde, der aufzeigt, dass der Meister 1864 – während ihm in Wien wegen zahlreicher Wechselschulden ein Haftbefehl drohte – in ein »Vierecksverhältnis« verstrickt war. Von erotischer Zuneigung handelt auch ein weiteres Franz-Joseph-Kapitel, in dem neue Indizien auftauchen, die es immer wahrscheinlicher machen, dass der Kaiser tatsächlich der Vater der Gattin des Komponisten Alban Berg war. Franz Joseph ist in noch einem Kapitel vertreten, das anhand eines bisher unveröffentlichten Briefes an seinen ehemaligen Erzieher schildert, wie unbeholfen der 18-Jährige in seine neue Aufgabe als Kaiser schlitterte.

Andere Fundstücke dokumentieren tragische Schicksale. Etwa den Tod der noch nicht 17-jährigen Enkelin Johann Wolfgang von Goethes in Wien. Oder das Unglück des Luxusdampfers »Baron Gautsch«, das der Grazer Arzt Hermann Pfeiffer in seinem Tagebuch schildert. Es tauchte erst hundert Jahre nach dem Untergang der »österreichischen Titanic« auf. Während Pfeiffer sich und seinen kleinen Sohn retten konnte, war seine Frau eines der 147 Todesopfer des Unglücks. Tragisch endeten die Kunststücke des Seiltänzers Josef Eisemann, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien ganze Straßenzüge bezwang, beim Versuch den Donaukanal zu überqueren jedoch mit seiner Tochter in den Tod stürzte. Mehrere, zum Teil prominente Zeitzeugen erinnern sich an das damals aufsehenerregende Unglück.

Maria Theresia und Kaiserin Charlotte

Ergreifend, wie freudlos Maria Theresia die ihr noch verbleibenden Jahre als Witwe zubrachte und wie Kaiserin Charlotte nach der Hinrichtung ihres Mannes, des Habsburgers Maximilian von Mexiko, dem Wahnsinn verfiel.

Nicht alle Fundstücke habe ich selbst entdeckt, viele wurden mir von Archivaren und Historikern zur Verfügung gestellt wie etwa die zum Mayerling-Kapitel, das nicht von der eigentlichen Tragödie handelt, sondern davon, wie Kronprinz Rudolf zum Kauf des Jagdschlosses erpresst wurde.

Das Kaffeehaus aus dem KZ

Direkt von Familienangehörigen wiederum wurden mir geradezu unglaubliche Fundstücke anvertraut. Es sind die detailreichen, im KZ Mauthausen entstandenen Baupläne für ein Kaffeehaus, die der jüdische Architekt Simon Wiesenthal für einen katholischen Mithäftling zeichnete, der ihm das Leben gerettet hatte. Das Kaffeehaus sollte nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager gebaut werden.

Qualtinger muss ins Gefängnis

Fundstücke aus jüngeren Tagen sind ein verloren geglaubter Hans-Moser-Film, der nach Jahrzehnten auf einem Pariser Flohmarkt auftauchte, ein vermisstes Theaterstück Ödön von Horváths und ein Brief Helmut Qualtingers, dem zu entnehmen ist, dass er unmittelbar nach Kriegsende eine Villa in Wien-Währing konfiszierte. Gleichzeitig versuchte der Theaterenthusiast und angehende Schauspieler eine Wiener Bühne zu beschlagnahmen – worauf er für drei Monate in Haft genommen wurde. »Er hat furchtbar darunter gelitten, sein Aufenthalt im Gefängnis war die schlimmste Zeit seines Lebens«, vertraute mir seine Witwe Vera Borek an.

Das Buch beginnt mit einer Liebesgeschichte und endet mit einer solchen. Letztere erzählt von Ludwig van Beethovens einziger Geliebten Josephine, die er jahrzehntelang verehrte, mit der er aber nur ein kurzes Glück fand. Es dauerte eineinhalb Jahrhunderte, bis die Briefe des Musikgenies ans Tageslicht kamen.

Die letzten Fundstücke

Fundstücke, wie die in diesem Buch beschriebenen, wird es wohl nie wieder geben. Denn kaum ein viel beschäftigter Künstler, Staatsmann oder Zeitzeuge wird in unserer schnelllebigen Zeit die Muße finden, ein Tagebuch zu führen. Und Briefe schreibt sowieso kein Mensch mehr. E-Mails jedoch werden bei der erstbesten Gelegenheit gelöscht und gehen damit für die Nachwelt verloren.

Die letzten Fundstücke also.

Georg Markus

Wien, im August 2017

Fundstücke

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