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I Einführung

1. Satirische Annäherungen im Feld: Fragmente zu Psychotherapie und Spiritualität

»Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,

die sich über die Dinge ziehn.

Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,

aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,

und ich kreise jahrtausendelang;

und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm

oder ein großer Gesang.«

(Rainer Maria Rilke 1972, 11)

»Es gibt viele grosse Theorien über Gott und die Welt.

Doch am Ende kommt es immer darauf an, wie ich mit den ganz

praktischen Anforderungen des ganz gewöhnlichen Alltags umgehe.

Der Ort, an dem die grossen Fragen des Lebens zu reflektieren […] sind,

ist immer da, wo ich gerade bin.«

(Lorenz Marti 2004, 11f, zit. n. Hiestand & Müller 2005, 277)

»Das Erstaunliche ist, dass die wissenschaftlichen Revolutionen

uns nicht fundamental traurig machen.

Wir werden auf ein Bündel von Chemikalien reduziert,

ohne wirklich freien Willen, wir leben auf einem kreuznormalen Planeten,

aber viele Menschen finden das immer noch aufregend.

Vielleicht liegt es daran, dass wir durch unser größeres Verständnis der Welt

nun das ganze Bild sehen können.

Wir sind Teil von etwas Größerem, und wenn wir das wirklich verstehen,

ist es nicht degradierend, es adelt uns vielmehr.«

(Vilaynur S. Ramachandran 2005, 4, zit. n. Horx 2005b, 282)

Divisionismus oder Pointillismus – so nennt sich eine französische Malrichtung Ende des 19. Jahrhunderts. Farbtupfer auf einer Leinwand. Aus der Distanz ergeben farbige Punkte für den Betrachter ein sinnvolles Ganzes. Fragmente sind ähnlich. Gedankensplitter. Sentenzen.

Die hier folgenden sind bewusst pointiert formuliert, weil Ausführungen über Spiritualität oft schwerfällig und mühsam zu lesen sind. In guter gestalttherapeutischer Manier und Praxis, dass ein gewisser Hintergrund erst die Prägnanz einer Figur deutlich macht und ein Pol erst den Gegenpol richtig zur Geltung bringt, sind diese rudimentären Spuren zu sehen. »Unfertige« Ansichten sind dabei, bei längerem Verweilen vielleicht auch sehr untherapeutische, unspirituelle, »unmögliche«. Sie stehen wie ein unzensiertes Promemoria am Beginn des Buches. Fragmente1 sind sie, weil sie nicht fertig sind oder – wie bei einer archäologischen Grabung – erst zu säubern sind, zu verifizieren, zu katalogisieren. Fragmente – darauf hat Ulrich Lessin (2002) schon hingewiesen – sind ein Gegengewicht zu Totalisierungstendenzen. Eine fragmentarische Perspektive kann wie ein Korrektiv wirken gegen den Wahn, alles unterordnen und einordnen zu wollen. Sie brechen auf, ecken an. Gar nicht rund wollen sie zum eigenen Nachdenken anregen. Das ist ihr Ziel. Sie bleiben Notizen, die, wenn sie auch manchmal bissig oder sarkastisch erscheinen, niemals verletzen wollen.

Gute phänomenologische Grundeinsicht ist, dass der eigene »Standpunkt« immer auch begrenzt ist und man daher auch nicht alles sehen, begreifen oder erfassen kann. Leben und vor allem Lebensweisheit (die sich mit zunehmender Erfahrung hoffentlich verändert) dürfen wohl unvollendet bleiben …

Fragment 1: Spiritualität gilt als ein Weg nach innen. Aber wie komme ich nach innen, wenn es kein Innen gibt? Und: Wo bleibt das Außen?

Fragment 2: Der Begriff »Spiritualität« ist ein so missbrauchter bzw. inflationär verwendeter Begriff, gegenwärtig so verwaschen und trotzdem immer noch in Mode. Unter dem Deckmantel des Spirituellen wird vieles verkauft, wo sich einem bei näherem Hinsehen der Magen umdreht. Was aber nun ist Spiritualität?

Fragment 3: Spiritualität präsentiert sich so vergeistigt und weltfremd, abgehoben vom Leben, perfektionistisch, dass ein normal sterbliches Menschlein dem, was Spiritualität meint, erst gar nicht nachzueifern beginnen braucht.

Fragment 4: »Triffst du Buddha unterwegs…« (Kopp 1988) höre ihm zu und misstraue ihm, schalte deinen Kopf nicht aus und lebe, zwänge dich nicht ein und höre auf dich …

Und überhaupt: Sagt mir nur ein erleuchteter Buddha, wie Leben, wie Spiritualität geht und wie es oder sie zu sein hat?

Fragment 5: »If you meet Buddha, kill him!«2 Sektiererischen Ausartungen jeglicher Art, sei es von spirituellen Gurus und sendungsbewussten Messiassen, sei es von Star-Therapeuten oder Möchtegern-Seelenklempnern, ist prinzipiell zu misstrauen. Allein ein klarer Kopf, allein ein in sich fest ruhender Mensch kann dem Adäquates entgegenhalten.

Fragment 6: Alles, was nicht dem »lebendigen Leben« verhilft, kann ich getrost ins Museum stellen, denn: Spiritualität ist auch Lebenshilfe.

Fragment 7: Wir haben nur dieses eine Leben, deshalb will ich es bunt treiben. Indem ich lebendig lebe und nicht bloß überlebe, nähere ich mich dem, was die »Sache mit Gott« (Heinz Zahrnt) und all die spirituellen Dinge meinen.

Fragment 8: Spiritualität – besonders im Rahmen von Therapie – muss so angelegt sein, dass mehrere weltanschauliche Positionen Platz finden. Das hat für mich mit einer Weite nach innen wie nach außen zu tun. Genau dies ist im Übrigen die ursprüngliche Bedeutung von »katholisch« …

Fragment 9: Wenn die sogenannte Erleuchtung nicht im einfachen, alltäglichen Leben möglich ist, kann sie bleiben, wo sie ist. Oder: Muss denn alles kompliziert und schwierig sein?

Und andersherum: »Die Erleuchtung findet am Hauptbahnhof statt!«3

Fragment 10: Allen Erleuchteten sei hinter die Ohren geschrieben: Ein Erleuchteter »vergisst«, dass er erleuchtet ist und tut das, was er immer schon getan hat. Oder: Gegen spirituellen Snobismus und für eine Betonung der Horizontalen innerhalb der Spiritualität.

Fragment 11: Eine authentische Spiritualität kann mit den Attributen gesund, lebendig, erdig, ganzheitlich, vernünftig, alltäglich, verantwortet, erfahrungsorientiert … beschrieben werden. Das ist theologisch wie psychotherapeutisch veritabel und vertretbar.

Fragment 12: Aschewerfende und Goldkettchen herbeizaubernde Spiri-Gurus, keifende, polternde und moralinsaure Prediger haben hier wohl nichts (mehr) zu suchen. Im Namen Gottes »Gott sei Dank!« Weil sie einen Nimbus ums Göttliche machen, wissen, wo der (mein!) Weg hingeht, apodiktisch Wahrheit verkünden und dadurch »Andersdenkende« ausgrenzen.

Fragment 13: Die eine Wahrheit gibt es nicht (mehr) und hat es nie gegeben. Wahr ist vielmehr, dass Wahrheit sich individuell ortet, von jedem Individuum für sich selbst je neu erfahrbar und erlebt/gelebt, gesucht werden muss (religiös ausgedrückt: um seines »Heiles« willen; therapeutisch: um seiner Authentizität willen).

Fragment 14: Spiritualität hat mit Qualitäten von Gehen, Wandeln, Innehalten zu tun. Diese Kennzeichen implizieren automatisch auch einen ethischen Impuls und Ansatz.

Fragment 15: Vielleicht lässt sich das umkämpfte Territorium von Spiritualität und Religion sowie Psychologie und Therapie um des Menschen willen – weg von einer dualistischen Hortung des je eigenen Bereiches – überwinden durch den Vergleich mit einem bunt gemischten Blumenstrauß. Die – personifizierend gedachte – Religion/Spiritualität und die Psychologie/Therapie sitzen im Kreis, in dessen Mitte dieser Blumenstrauß als Symbol der Wahrheit ist. Wer hat Recht, wenn die eine behauptet, es sei bloß ein Rosenstrauß, weil sie nur die Rosen sieht, die andere auf einem Lilienstrauß beharrt? Ein Strauß ist ein Strauß, ist ein Strauß. Wollen wir den Strauß sehen, der die Buntheit erst ausmacht oder nur die einzelnen Blumen?

Fragment 16: Der Therapeut darf ruhig Buddhist sein. Das ist seine Privatangelegenheit. In der Praxis aber muss er dem suchenden, fragenden, unsicheren Christen-Klienten zum Christ-Sein, dem Buddhisten-Klienten zu seinem je eigenen, individuellen Buddhist-Sein verhelfen (sofern er will) und darf ihm nicht seine spirituellen Ansichten aufoktroyieren, mögen seine eigenen Erfahrungen auch noch so plausibel, noch so »spirituell erhebend« sein und ihn »weitergebracht« haben.

Fragment 17: »Ungetrennt und unvermischt« rangen sich die alten Kirchenväter vormals ab. Diese theologische Grundformel, ursprünglich auf die Gottes- und Menschennatur Jesu appliziert, könnte eine Spur sein für das Verhältnis von Theologie, Spiritualität und Therapie. In gestalttherapeutischen Termini ausgedrückt: »Nicht trennen und nicht mischen«. Das meint hier: keine Konfluenz, aber auch kein statisch abgekapseltes, monadisches In-der-Welt-Sein, sondern ein Sein in Beziehung, ein Sein im Feld.

Fragment 18: Alte Gräben zwischen Spiritualität, Theologie, Religion einerseits und Psychologie, Therapie andererseits überwinden, weil sie nicht mehr relevant sind und uns in einer »Wir sind wir«-Mentalität verharren lassen und daher abschotten?

Fragment 19: »Gott ist tot« (F. Nietzsche) – »Du bist alt, lieber Gott« (W. Borchert).

Und ich bin müde, dich zu verteidigen und will nicht noch mehr Zeit verschwenden, dich in neuen, verständnisvolleren, gütigeren, moderneren Worten erklären müssen und am Leben erhalten. Zweitausend Jahre und mehr müssen reichen. Zweitausend und mehr Jahre und die Welt ist auch nicht besser und nichts hat sich verändert (vgl. Ventura & Hillman 2005).

Fragment 20: Oder bist du das, was uns letztlich zutiefst angeht? (Paul Tillich)

Dann gilt es, Prioritäten zu setzen und zu schauen, wie wir persönlich, individuell-privat, aber auch gesellschaftlich-politisch leben und handeln, ohne moralistisch zu werden, einzuengen und auf Fixiertheit zuzusteuern.

Fragment 21: Einige Ansätze – spirituelle wie therapeutische – scheinen mir die himmlische Vertikale hinaufzuflüchten. Wo aber bleibt der Pöbel (im guten Sinn des Wortes)? Wo ist eine »normale« Psychotherapie und Spiritualität für die real existierenden, im Produktionsprozess schwitzenden, am Bruttosozialprodukt beteiligten Menschen?

Fragment 22: Promemoria und Plädoyer für eine alltägliche, »stinknormale«, spirituelle (ja!), therapeutisch (na klar!) verantwortete Lebenseinstellung, Lebenshaltung. Hier begegnen sich Spiritualität und Psychotherapie. Aber nur für jene, die das auch sehen können.

Schau genauer hin also!4

Fragment 23: Wenn Therapie (griechisch »therapeìa«) die »Arbeit der Götter tun«5 bedeutet und »religio« Rückverwurzelung meint in meinem eigenen Grund, dann müsste es doch ein wie auch immer geartetes Naheverhältnis von Therapie und Religion/Spiritualität geben.

Fragment 24: Eine gefährliche Gleichung? Das Leben besteht im Gehen, im Kochen, im Sitzen, im Putzen, im Hintern-Abwischen. So weit, so gut. Gott ist das Leben, sagt MAN. Gott ist im Leben, behauptet SIE. Also: Gott ist im Gehen, im Kochen, usw. Würde MAN mir noch folgen oder bereits »Blasphemie« schreien, würde SIE da noch fromm sein?

Wo aber, bitte schön, soll ein Unterschied sein zwischen Gott und Leben?6

Fragment 25: Ist heute nicht vielmehr eine trans-religiöse, konfessionslose Spiritualität gefragt und nötiger denn je, die Heimat und Räume bieten kann für Menschen, die sich keinem traditionellen religiösen Weg, auch keiner spirituellen Disziplin verpflichten möchten? Wie könnte eine solche aussehen? Ist dies ein apriorischer Widerspruch, das Gebot der Stunde oder nur wieder eine jener verkaufsfördernden Moden (»der letzte und neueste Schrei«) im Eso-Eck aufgrund einer Profilierungssucht irgendeines Autors?

Fragment 26: Wie heute von Spiritualität reden und schreiben, wenn die Informationsgesellschaft mit ihren Beschleunigungstendenzen gegen jegliches Innehalten arbeitet, das Wirrwarr der Sinnangebote unüberschaubar geworden ist und die Komplexität des heutigen gesellschaftlichen Lebens eine Orientierungsmöglichkeit schier unmöglich macht? Eine von »unten« kommende Spiritualität darf buchstäblich und ganz wirklich unvollkommen sein. Das schmeckt, ist natürlich und herzhaft. Heilige sind immer nur tote Menschen. Spirituelle Menschen dürfen auch noch (ein wenig) leben.

Fragment 27: Es gibt vielfältige Menschen, mit unterschiedlichen Persönlichkeitsstilen. Eine Spiritualität, die »ankommen« will, muss im Blickfeld haben, dass diese Menschen konkrete Bedürfnisse und ganz eigene Eigenheiten haben.7 Auf diese Vielfalt an »einzigartigen« Lebensmöglichkeiten und Daseins-Varianten muss eine Spiritualität reagieren, Angebote bereit stellen und nicht einseitig, monopolartig Monokulturen schaffen und gebetsmühlenartig immer das gleiche spirituelle Rezept aus dem Kult-Koffer zaubern. Bewährtes und Erprobtes aus jahrhundertealter Tradition hat selbstverständlich Platz in seiner Gültigkeit und in seinem Bemühen, dem Menschen in der Welt menschenwürdig sowie lebensfreundlich »Unendlichkeit« offen zu halten und darauf hinzuweisen.

Fragment 28: Dies gilt auch im therapeutischen Bereich, ist da allerdings differenzierter zu sehen. Die provokante Forderung bzw. das Postulat steht im Raum, für jeden Klienten eine eigene Therapie zu »erfinden«.8 Dies bedeutet, auf die Therapie bezogen, sich überraschen zu lassen, immer wieder ganz neu und mit frischem, wachem Blick dem Klienten9 zu begegnen, und nicht standardmäßig bestimmte Methoden und Techniken anzuwenden.

Fragment 29: »Der Erleuchtung ist es egal, wo und wie du sie erlangst«10, Hauptsache du lebst und fragst dich (immer wieder und ab und an), du suchst und gehst deinen Weg und versuchst aus dem, was du bist, aus dem, wie du bist – mit deinen individuellen Begabungen, Anlagen und Problemen – das Beste zu machen.

Fragment 30: An die Reinkarnation zu glauben ist nicht unbedingt notwendig. Es reicht dieses eine Leben und dafür steht im Prinzip genügend Zeit zur Verfügung. Denn: Was ist schon Zeit? Dieses »Zeitfenster« gilt es zu nutzen, mit dem, was zur Verfügung steht. Hoffentlich reicht es, Spuren zu hinterlassen, die »gut« sind. Der Wunsch? Die Menschen, denen man nahe steht, nicht zu sehr verletzen und mit ihnen »gut« zu leben und ins relativ kleine Lebens-Umfeld, wenn das geht, »auszustrahlen«. Die große Welt zu reformieren, zu missionieren oder gar zu therapieren ist nicht mein Anspruch. Das hat nichts mit einem biedermeierischen oder resignativen Rückzug ins Private zu tun und schließt – wo es notwendig ist und wird – »Mund-Aufmachen« und gesellschaftskritische Anliegen selbstverständlich mit ein und nicht aus.11

Fragment 31: Das Wort »Glauben« zeigt in seinen verschiedenen Wurzeln interessante Bedeutungsvarianten auf, die auf Fragen hinweisen, die ebenso im Therapieraum gestellt werden, geht es dort doch auch immer wieder um ein Finden von Antworten auf folgende und ähnliche Fragen »Wohin zieht dich dein Herz?« »Woran hängt eigentlich dein Herz?« »Was gibt dir Boden und Halt?«

Fragment 32: Glauben ist – normalerweise12 – kein heimliches Getue, sondern ein (freudig, begeistertes, überzeugtes, melancholisches, trauriges, verzweifeltes …) Reden, Erzählen, Feiern und Leben dessen, was mich erfüllt, ausmacht, was mir gut tut, was mich beschäftigt. Spiritualität zeigt sich im Alltag, im gewöhnlichen Leben, am Arbeitsplatz, in der Freizeit. Spiritualität hat zu tun mit: den eigenen Weg finden, klären, was wichtig ist, wofür ich einstehen will bzw. wofür es sich zu leben lohnt. Bei diesen Fragen hilft auch die Therapie weiter, weil diese Fragen u.a. Kern-Kompetenzen der Therapie sind.

Fragment 33: Spiritualität hat Auswirkungen auf die konkrete, alltägliche Lebensgestaltung. Sie ist weltzugewandt und hat mit einer Rückbindung an den Alltag und einer Belebung bzw. Befruchtung des Lebens zu tun. Ansonsten verbleibt Spiritualität in einem Wolkenkuckucksheim, verkommt und degradiert. Therapie dient ebenso wenig allein dem Renommee des Therapeuten, sondern hat den Klienten im Blick und letztlich: Gutes Leben eben.

Fragment 34: Spiritualität hat mit Integration zu tun. Therapie, insbesondere Gestalttherapie, hat ebenso mit Integration zu tun: »There is no end to integration« (F. Perls).

Die Gleichung »Gestalttherapie = Spiritualität« scheint perfekt zu sein bzw. realistischer, das Naheverhältnis begründet genug zu sein.

2. Der erweiterte Horizont

»Ich glaube, wir sollten eher ein neues Weltbild entwickeln,

in welchem das Bewusstsein als fundamentale Komponente der Realität gilt,

als das Bewusstsein innerhalb der Begriffe der materiellen Welt

zu erklären versuchen.«

(Peter Russel 2002, 33)

»Die psychologischen Wissenschaften stehen an der Schwelle

einer spirituellen Revolution.«

(Robert Emmons 1999, zit. n. Bucher 2007, 5)

»Wir sind dazu gemacht, in die Zukunft zu sehen,

damit wir rechtzeitig die Richtung unserer Schritte ändern können.«

(Daniel C. Dennet, zit. n. Horx 2005b, 340)

Keine Frage, der Horizont ist erweitert, wenn wir uns umsehen. Vielfältige Ansätze, unterschiedliche Tendenzen und Milieus sind erkennbar, viele Stimmen hörbar.

Einige Schlaglichter, die nun als Einleitung folgen, sollen dies verdeutlichen. Kurz und bündig. Wie im Zeitraffer, in einem von der Regie schnell geschnittenen Film, der von der Leserin und dem Leser einiges abverlangt: Szene – Cut – nächste Einblende – Schnitt – weitere Klappe – Wechsel – Zoom: Film ab!

Es erwartet Sie hier kein einführender Dokumentarfilm über Spiritualität, Gesellschaft, Psychoszene. Eher eine Melange nach Art der Familiensendung »Wetten, dass?«, ein bunt gemischtes Potpourri aus philosophischem Kabinett oder einer Lese-Sendung à la Heidenreich, mit Beiträgen aus diversen Wissensbereichen und unterschiedlichen Kommentatoren …

Spiritualität ist »in«. Abseits der traditionellen Wege der Großreligionen, welche der wieder aufgetauchten Sehnsucht nach Transzendenz (meist) mit keinem adäquaten Angebot zu antworten vermögen, begeben sich viele Menschen »auf die Suche nach etwas – irgendeinem fehlenden Wert, irgendeinem abwesenden Ziel, irgendeinem neuen Sinn, irgendeiner Präsenz des Heiligen« (Keen 1996, 17).

Der Markt boomt: Visionssuchen, Schwitzhütten, Feuerlauf, schamanische Reisen, Pilgerreisen nach Compostela, Zen-Meditation, Essenzarbeit, Hexen- und Vollmondrituale, (katholische) Benedetto-Events … Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.

Inflationäre Verwendung. Das Wort »Spiritualität« bzw. »spirituell« ist schon länger in aller Munde. Wer etwas auf sich hält, benützt dieses Wort. Auch Therapeuten. Konturlos. Undifferenziert. Nichtssagend, inflationär verwendet und dadurch entwertet, weil alles und nichts meinend, ist »Spiritualität« zu einem Begriff geworden, der Gefahr läuft, zur Stopfgans zu werden (Honecker 2000a, 14).

Mit dem Wort »Spiritualität« verhält es sich meines Erachtens wie mit der Verwendung des Wortes »Gott«, worüber Martin Buber einmal gesprochen hat (vgl. Ratzinger 2005, 183). Es sei so missbraucht worden, dass man es fast nicht mehr in den Mund nehmen könne. Dennoch, um das Phänomen »Spiritualität« zu benennen, finde ich, müssen wir versuchen, es neu sehen zu lernen. Wir müssen es von bestimmten einseitigen Einengungen befreien, abstauben, wo alter Muff sich breit gemacht hat. Im Sinne von: »Nichts ist besser als eine gute Theorie« – wie es der Gestaltpsychologe Kurt Lewin formuliert hat.

Spiritualität im Zeichen eines neuen Paradigmas. Das alte Galileische Wissenschaftsparadigma, der Fortschrittsglaube mit seiner Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten, das »Alles ist machbar« ist an Grenzen gestoßen. Sam Keen (1996, 24), Theologe und Psychologe, ortet eine – bereits seit den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts andauernde – spirituelle Krise. Sie erinnert an Zeiten, als der homo sapiens sapiens allmählich vom Jäger zum Bauern mutierte oder – viel später dann – an den Beginn der industriellen Ära. Den tiefgreifenden Wandel apostrophiert der Autor dadurch, dass alte Mythen schal geworden, Werte, Visionen und Weltanschauungen, aber auch gesellschaftliches sowie wirtschaftliches Leben in Wandlung begriffen sind. In solchen Schwellenzeiten wird stets die Tendenz sichtbar, in regressiver Weise an Althergebrachtem (verzweifelt, sektiererisch) festzuklammern, während andere versuchen, neue Wege zu beschreiten. Keen folgert daraus: »Ihres und mein Schicksal ist es, unser Leben inmitten des Krieges des Großen Paradigmas zu fristen, dem weltweiten Konflikt zwischen drei mythischen Systemen – dem technologischökonomischen Mythos des Fortschritts, der autoritären Religion und der im Entstehen begriffenen spirituellen Weltsicht.« (Ebd.)

Die Zeiten eines allgemeingültigen Königsweges zur Transzendenz, in denen ein Herrscher bestimmte, was zu glauben war, gehören hinsichtlich der Vielschichtigkeit und Komplexität der postmodernen Kultur endgültig der Vergangenheit an.

Megatrend »Religion«: Totgesagte leben offensichtlich länger … Religion ist – trotz Säkularisierung – nicht ausgestorben. Die Parole vom Tode Gottes (Nietzsche) ließ sich nicht auf die soziologische Großmacht Religion umlegen. Manche Autoren sprechen – an der Wende zum dritten Jahrtausend – sogar von einem »Megatrend Religion« (Polak 2002). Sie ist präsent, sei es in Form fundamentalistischer Ausprägung oder in aufblühenden, unterschiedlichen spirituellen Bewegungen mit einer zum Teil kreativen Mixtur von trendigen News und traditionellen, uralten Elementen (Nägeli 2005, 27; Horx 1995b).

Im säkularistischen Paradigma hatte Religion keinen Platz mehr (Zulehner et al. 2001, 13) und wurde tabuisiert. Im postmodernen Paradigma kommt es nun zu einem vielgestaltigen Comeback von Spiritualität, zu einer Individualisierung bei gleichzeitiger Pluralisierung von Religion und Spiritualität durch Atheisten, Humanisten, Religionskomponisten, traditionell Religiösen …


Spiritualität – ein Thema mit Zukunft. Der augenscheinliche Wandel im Bereich des Religiösen und der Spiritualität erfordert eine Standortbestimmung. Unvoreingenommen. Mit Interesse am »Fremden«. Dialog eben und Kontakt. Die Beschäftigung mit dem Thema atmet Zukunft und ist von einer gewissen Dringlichkeit für die Menschheit, »die allzu lange die Sinnfrage als belanglos ausgeklammert hat« (Nägeli 2005, 27). Die Globalisierung hat auch die Spiritualität erfasst. Mittlerweile haben wir es mit einer »spirituellen Globalisierungsbewegung« (Leutwyler 2005, 23) zu tun. Neu ist die Vielzahl an Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen spirituellen Erfahrungsangeboten.

»Nur der Nüchterne ahnt das Heilige, alles andere ist Geflunker, glaub mir, nicht wert, daß wir uns aufhalten darin.« Dieses Zitat von Max Frisch (zit. n. Zahrnt 1989, 11) ist aktueller denn je.

Angesichts des religiösen Rückenwindes reaktionärer, fundamentalistischer Gruppierungen – nicht erst seit dem Angriff auf die Twin Towers – erscheint es notwendiger denn je, dem gesellschaftlichen Phänomen Spiritualität mit Vernunft zu begegnen und andererseits dem offensichtlichen aufkeimenden Grundbedürfnis des Menschen nach Sinn und persönlicher Spiritualität mit aufrichtiger Offenheit und Sensibilität nachzugehen. Hier sind Psychologie und Therapie gefordert. Es gilt – angesichts des sich auftuenden Sinnvakuums – die Aufsplitterung der einzelnen Wissens- und Lebensbereiche interdisziplinär zu vernetzen (Rutishauser 2005, 186; Utsch 2005, 202).

Von medizinischer Seite wird neuerdings sogar gefordert, zementierte Positionen, die noch zu sehr auf die mittelalterliche Trennung zwischen Wissen und Glauben zurückgehen, aufzulösen. Es sei höchste Zeit, dass Spiritualität im Kontext von Universitäten und Wissenschaft angegangen werde, meinte unlängst der Mediziner Heusser (2006b, 22). Und er spitzt diese Forderung sogar noch zu: »In der Zukunft wird es darauf ankommen, dass die Gewinnung spiritueller Erfahrungen und Erkenntnisse selbst zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Dass also eine empirische Wissenschaft des Realgeistigen sich entwickele.«

Sehnsucht nach Ganzheit? In letzter Zeit ist ein starker Zuwachs an Veröffentlichungen zu verzeichnen, die sich mit Fragen von Spiritualität, mit der menschlichen Sehnsucht nach Ganzheit befassen. Spiritualität wird wohltuend enttabuisiert und nicht mehr infantilisiert (Bucher 2007). Verschiedene Wissenschaftszweige wie Medizin, Psychologie, Soziologie, Theologie, Wirtschaft usw. nähern sich der Komplexität des Themenbereiches auf differenzierte Weise (Leutwyler & Nägeli 2005; Utsch 2005; Heusser 2006a; Hundt 2007). Für die Zukunft ist eine noch intensivere Zusammenarbeit wünschenswert, in einem interdisziplinären Dialog diverser Fachdisziplinen ohne Scheuklappenmentalität und Diskreditierung. Dazu ist eine grundsätzliche Offenheit und Unvoreingenommenheit sinnvoll. Das Phänomen Spiritualität erfordert meines Erachtens einen solchen mehrperspektivischen Ansatz. Denn, wie C.G. Jung (1973, 98) trocken festgestellt hat: »Wie auch immer religiöse Erfahrungen gewertet werden, ihr Auftreten ist ein Bewusstheitsphänomen und damit eine ›psychologische Tatsache‹« (zit. n. Utsch 2005, 235).

Spiritualität – ein heilsamer Gegentrend. Unserer Fast-Food-Gesellschaft mit ihrer Schnelllebigkeit sowie jeglichem Glaubenswahn einer Instant-Erleuchtung bzw. »Instant-Spiritualität« (Keen 1996, 28) und Eventisierung bzw. Nutzenorientierung möchte ich bereits in dieser Einführung eine klare Absage erteilen. Entwicklung geschieht zwar manchmal auch in Sprüngen, in der Regel ist sie jedoch ein langwieriger Prozess, der Zeit braucht, weil alles Werden und Wachsen ohne (Inkubations-)Zeit nicht realistisch ist (Mack 1999, 150). Zuweilen braucht es ein Leben lang, bis wir begriffen haben und Gewissheit erlangen. Ein Blick hinaus in die Natur würde genügen, um diese Hauruck-Mentalität zu entkräften.

Diese Einsicht – darauf hat Walach (2006, 91) schon hingewiesen – trifft auch auf das in der Vergangenheit angespannte Verhältnis von Wissenschaft und Spiritualität zu. Auch ein wissenschaftliches Paradigma ändert sich nicht von heute auf morgen.

Ein Wissenschaftsprozess ist immer ein

»sozialer Prozess, bei dem einzelne Wissenschaftler in Kommunikation mit ihren Kollegen, im Austausch mit der belebten und unbelebten Natur, im Ringen um Ressourcen für Forschung und um Raum für Publikation Tatsachen gestalten, neue Ordnungssysteme vorschlagen, neue Begriffssysteme erfinden«.

Das Entdecken von »Tatsachen« hängt immer auch davon ab, ob der gewählte Ansatz im Mainstream der Wissenschaftsakademie gebilligt wird und ob die Forschungsergebnisse so kommuniziert werden, dass der neue Ansatz in das herrschende System stringent und überzeugend eingebunden werden kann (ebd. 91f). Ein berühmtes Beispiel aus der europäischen Tradition ist Galileo Galilei, der die kopernikanische Wende (und damit eine »Kränkung« der Menschheit) einläutete und erst im vorigen Jahrhundert offiziell rehabilitiert wurde.

Die Zeiten der Inquisition sind vorbei. Trotzdem: Spiritualität ist ein »heikles« Thema, sowohl auf der persönlichen Ebene wie auch im wissenschaftlichen Diskurs. Indem sie an überkommenen (weltanschaulichen) Überzeugungen »kratzt«, indem sie wissenschaftliche Weltbilder in Frage stellt. Auch therapeutische Schulen und Therapeuten dürfen sich fragen, ob das eigene Weltbild vielleicht blind macht, eingeschränkt oder hinreichend ist …

Wo bleibt das neue Paradigma? Die Quantenphysik rüttelt schon länger an unserem kausal-analytischen Weltbild. Als Stichworte seien genannt: die Heisenbergsche Unschärferelation, die Quantenmechanik, der Welle-Teilchen-Dualismus, Quarks …

Klar ist: Obwohl es einen historischen Paradigmenwechsel in der Physik gegeben hat, ist dieser in anderen Wissenschaftsbereichen noch nicht »in das allgemeine Bewusstsein gedrungen« (Hartmann-Kottek 2004, 97). Max Plank (zit. n. Russell 2002, 23) beweist diesbezüglich eine stoische Ruhe: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit trumpft nicht auf, indem ihre Gegner überzeugt und erleuchtet werden, sondern dadurch, dass diese Gegner allmählich sterben.« Physiker selbst äußerten sich in der Vergangenheit bezüglich Spiritualität in seltener Offenheit (z.B. Heisenberg, Einstein). Russell, ein Physiker und experimenteller Psychologe, plädiert zu Recht für eine kritische Hinterfragung unseres Metaparadigmas, das unhinterfragt unser Leben bestimmt. Darauf aufbauend setzt er sich dann für einen konsequenten Paradigmenwechsel bzw. für eine Paradigmenkonvergenz ein, in der »Bewusstsein« ein entscheidender Faktor ist. Ausgehend von Kants Unterscheidung, dass wir nur das Phänomen (das Produkt des Geistes) wahrnehmen können, nicht aber das Noumenon, die Welt, der die Wahrnehmung entspringt, möchte er Brücken schlagen zwischen Wissenschaft und Spiritualität. Er verweist auf spirituelle Lehrer, denen es möglich war, andere Bewusstseinsmodi zu erlangen sowie zu erfahren, dass sich alles aus dem Bewusstsein heraus manifestiert.

Unabhängig, ob man dieser Argumentationslinie folgt oder nicht, zuzustimmen ist ihm – mit vielen anderen Autoren und Autorinnen – in dem Punkt, dass wir ein Weltbild brauchen, das den aktuellen naturwissenschaftlichen Erkenntnisstand berücksichtigt und der Spiritualität – am Puls der Zeit – Raum gibt in einer angemessenen Sprache, in einem Bewusstsein, das auf der Höhe der Zeit ist.

Vielleicht wird Spiritualität erst dann zu einem »Mega-Trend«, zu einer Investition in unser Humankapital.




Die schwierige Ausgangsfrage: Wie heute von Spiritualität reden und schreiben? Nach der Emanzipation der Wissenschaft von kirchlichen Obrigkeiten, die im Westen lange Zeit das Primat über Welt- und Sinndeutung hatten und den Wissenschaftsdiskurs mitbestimmten, steht fest: »Für Sentimentalitäten und rückwärtsgewandtes Religionsgefasel scheint kein Platz zu sein, außer in fundamentalistischen Enklaven. Inwiefern kann dann überhaupt noch von Spiritualität im wissenschaftlichen Kontext vernünftig informiert und aufgeklärt die Rede sein?« (Walach 2006, 93f). Hier müsse – so Walach weiter – eine notwendige Unterscheidung zwischen Religion und Spiritualität getroffen werden. Viele Autoren sehen das ähnlich und differenzieren Spiritualität als einen umfassenderen, offenen Begriff, der nicht unmittelbar mit Religion deckungsgleich ist (Bucher 2007; Utsch 2005; Hundt 2007; van Quekelberghe 2007).

Die gängige Masche »Spiritualität ja – Religion nein« greift zu kurz. Spiritualität und Religiosität schließen sich nicht prinzipiell aus. Sie überlappen sich, wenn man letztere spezifischer fasst als »Beziehung des Menschen, die er zu jener Wirklichkeit eingeht, die für ihn göttlich oder heilig ist« (Bucher 2007, 54). Und um diese Wirklichkeit bemühen sich seit Jahrhunderten Religionen. Ihre Aufgabe war und ist es, den Geschmack nach dem Unendlichen (Schleiermacher) aufzuzeigen, herzustellen, wachzuhalten.

Die andere Seite der Medaille ist, was deren Vertreter daraus machten und machen. Fairerweise ist dies festzuhalten. Die Einstellung »institutionalisierte Religion nein, weil einengend – Spiritualität ja, weil befreiend, erfahrungsorientiert« greift zu kurz. Dies belegen auch etliche empirische Studien. Eine differenzierte Sichtweise ist hier vonnöten. Bucher bringt in diesem Zusammenhang die Unterscheidung Erich Fromms ein, die diesbezüglich einen Schritt weiter in die richtige Richtung geht. Er unterscheidet zwischen »biophil« und »nekrophil«. Das Kriterium lautet demnach nicht lediglich »Spiritualität ja – Religion nein«. Es gilt zu differenzieren, ob Religiosität lebensförderlich ist oder lediglich Menschen einengt, kleinmacht. Diese Messlatte lässt sich genauso gut auf das Phänomen der Spiritualität anwenden. Denn eine bloß äußerlich praktizierte Spiritualität ist genauso wenig intrinsisch und authentisch, wie eine nur in sozialen Konventionen eingebettete und vollzogene Religiosität.



Den eigenen Stil und Standpunkt finden. Wenn Spiritualität also nichts mehr mit einer Konfession oder Religion im engeren bzw. tradierten Sinne zu tun hat, dann kann es nicht um Indoktrination oder ein Festschreiben dessen, was »richtige« Spiritualität ist, gehen. Vielleicht ist ein bescheidenes Aufzeigen von großen Linien oder genauer, von Erfahrungsräumen angezeigt, innerhalb derer jeder seinen eigenen Weg und jede ihren Standpunkt reflektieren kann.

Spiritualität heißt dann meines Erachtens, den eigenen »Stil« ausmachen. Oder: Einen Ausdruck finden für das je Eigene. Oder: Zu leben. Seinen Platz zu finden im Kreislauf des Lebens. Oder: Die Erfahrung, Teil eines Ganzen zu sein. Den Platz einzunehmen im ewigen Werden und Vergehen, so wie es im erfolgreichen Walt-Disney-Film »Der König der Löwen« umgesetzt wird. Rafiki, der weise Affe, verhilft darin dem Löwenjungen Simba sinngemäß zu folgender Erfahrung: »Erinnere dich, wer du bist!« Erinnern verstanden als »Eingedenk-Werden«: Den Stil finden (nicht im ästhetischen Sinn), die eigene Lebens-Figur, Gestalt herausbilden auf dem Hintergrund des Lebens, die dann subjektiv – und auch von anderen – sehr wohl als schön und ästhetisch empfunden werden kann.

Eine solche Einstellung hat nichts mit einem Laissez-faire-Denken zu tun, auch nicht mit einem biederen Anpassen an den Lifestyle. Den eigenen Weg oder den authentischen Stil zu finden ist mitunter kein Honigschlecken. Es ist nicht etwas, das sich während eines Wochenendseminars in einer Sitzung herauskristallisiert und dann für immer und ewig zum Besitz wird.

Spiritualität bedeutet für mich ebenso wenig, keine Zweifel mehr zu haben. Vielleicht vermag sie modernen Menschen zu vermitteln, dass es eine Art Intuition gibt, dass sie eingebettet sind, dass es Sinn macht, hier zu sein in dieser Welt. Dieses »Wissen« kann dann Ausdruck werden für eine persönliche Überzeugung, für ein »Sich-im-Einklang-Befinden« mit dem, was man ist, denkt und für wertvoll hält.

Einige bedenkenswerte Tatsachen. Im Alltagsleben sind immer noch Tendenzen anzutreffen, die zum Nachdenken herausfordern, weil sie einem ganzheitlichen Verständnis entgegenstehen. Nicht auszurotten ist die Unterteilung in die Kategorien »spirituell« und »weltlich«. Auch die rigorose zeitliche Einteilung in das westlich-christlich tradierte Schema von Wochentagen und besonderen spirituellen Zeiten (meist sonntags zwischen 9 und 11 Uhr) geht in diese Richtung. Oder es werden qualitativquantitative Bewertungsmaßstäbe angesetzt, indem behauptet wird: »Der ist mehr spirituell als …« oder »Die ist schon weiter …« (impliziert im Grund ein Ziel, einen Zustand …).

Neuplatonisches Gedankengut scheint sich besonders in spirituellen Anschauungen widerzuspiegeln. Der Geist (Seele) wird als eingekerkert und damit getrennt vom wahren Sein bezeichnet oder von der reinen, wahren, strahlenden Essenz. In einem solchen Sinne kann Spiritualität immer nur ein Aufstieg aus der Höhle Platons in das Reich der Ideen sein. In etwas Höheres, Reineres. Ein Reinigungsprozess (Katharsis) und ein Sich-Erinnern an das Ur-Eine, an die Einheit.

Persönliche Lebensart. »Wenn ich sitze, sitze ich, wenn ich gehe, gehe ich usw.« lautet ein bekannter Meditationsspruch. Wenn wir Spiritualität in diesem Sinn verstehen, dann wird sie zu einer Lebenshaltung, zu einer individuellen, persönlichen Lebenskunst, aus der kein »niedrigerer Teil«, in welcher Weise auch immer, ausgeschlossen wird.

Ein leidenschaftliches Plädoyer für Ganzheitlichkeit. Bei der Frage nach dem persönlichen Lebensstil taucht die Frage auf, wie jeder von uns konsequent lebt. Fromm oder spirituell sein wird in bestimmten Kreisen oft noch mit Antiquiertheit assoziiert, riecht vordergründig immer noch nach Mottenkugeln.

Ein Grund mag sein, dass Spiritualität im Westen eine Domäne der Volks- und Massenkirchen war und bis heute daran gekoppelt erlebt wird. Salopp formuliert heißt das berechtigte Vorurteil gegenüber den tradierten Kirchen: Alles, was man nicht darf, was Lust, Freude, Leichtigkeit heißt, was Spaß macht, ist nicht spirituell. Somit kann Spiritualität auch nicht in Mode sein, höchstens bei einigen wenigen Frommen.

Wenn es aber um eine Grundhaltung dem Leben gegenüber geht, um innere Freiheit und Frieden mit mir und mit den Menschen, mit denen ich in meiner Lebenswelt lebe, wenn ich mich getragen weiß von einem größeren Ganzen, einer Transzendenz im weiteren Sinne, dann gilt es, gerade leibliche, lust- und lebensfreundliche Aspekte im Sinne der Ganzheitlichkeit einzubeziehen.

Spiritualität heißt Abstand nehmen, Entscheidungen finden und leben. Es geht um Aufmerksamkeit im Alltag, um das, was persönlich wichtig ist, wie jedes Individuum mit allen Sinnen den eigenen Lebensweg gestalten kann. Spiritualität ist Lebenspraxis, die zum notwendigen Abstand im Trubel des Alltags hinführen soll. Diese Auszeit fordert, ehrlich angegangen, heraus. Sie tut gut, wenn wir dadurch notwendige Distanz erhalten und den Mut erlangen, längst fällige Entscheidungen anzugehen und wenn wir eine andere Perspektive erhalten, aus der wir mit einem »Mehr« an Freiheit wieder in unseren Alltag gehen können.




Ist das Gras denn nicht überall grün? Die Flucht in den Osten. »Auf der anderen Seite ist das Gras grüner« – so lautet ein englisches Sprichwort. Es scheint, auf den Trend »Spiritualität« angewandt, auf Westeuropa zuzutreffen. Ohne theologische Wehmut: Viele pflegen den fernöstlichen Dialog bzw. spirituelle Wege des Ostens, ohne westliche Wege zu kennen. Der Osten scheint eine Faszination auszuüben. Der Meditationslehrer Willigis Jäger (1991) weist darauf hin, dass der westliche Weg ein Weg von Einzelnen war, am Rande der Klöster, teils im Schatten und im Hintergrund der großen, z.T. bombastischen, offiziellen Linie, teils auch beargwöhnt von dieser und immer wieder in Misskredit geraten. Die Vertreter des spirituellen Weges im Westen mussten und müssen noch immer vorsichtig ihren kontemplativen Weg und ihre Erfahrungen rückübersetzen in eine offizielle, notwendigerweise dualistische Theologie, Dogmatik und Sprache: ein schier unmögliches Unterfangen. Wahr ist, dass der Osten auf jahrhundertealte Traditionen zurückgreifen kann im Bereich der Erforschung menschlichen Bewusstseins. Was wir vom Osten lernen können ist die Verlagerung nach innen, zum Individuum. Was wiederum der Osten vom Westen lernen könnte ist die Sorge in der Welt für die Welt, die soziale Komponente eben.


Abb. 2: Wege zur Transzendenz. Der Unterschied zwischen esoterischer (erfahrungsorientierter) und exoterischer (theologischer, dogmatischer) Spiritualität nach Jäger (1991, 72; vgl. dazu auch Wilber 1991, 267–273)

Was Knoblauch mit Spiritualität zu tun hat. Der blonde, langhaarige Moderator versucht am Ende der Sendung vor dem Abspann noch alles zusammenzufassen. Hie und da verteilt er seine Sprüche für die Sonntagsausgabe des deutschen Massenblattes und holt dann zum finalen Statement aus: »Esoterischen Snobisten, evangelikalen Fundis, weihrauchumhüllten Katholen, dahinschwebenden Transzendentalen und wie sie alle heißen, sei gesagt: Über Spiritualität könnte man lange sprechen – ich hab’ ja auch heute wieder überzogen – letztlich wird es so sein wie beim Knoblauchessen. Man riecht es und deshalb sollte man lieber ein wenig öfters schweigen. Lieber ein wenig mehr lieben. Und Sie sollten besser riechen als Knoblauch.« Sagt’s, bedankt und verbeugt sich.





Spiritualität als Lebenskunst

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