Читать книгу Das Weinberg-Paradoxon - Georg Rainer Hofmann - Страница 10
Die bekannte Parabel der Arbeiter im Weinberg schildert ein Paradoxon, ein Prärogativ und einen Protest
ОглавлениеDie Parabel (die Bezeichnung παραβολη – parabole – übersetzt Luther mit „Gleichnis“) von den Arbeitern im Weinberg im Matthäus-Evangelium dürfte der Leserschaft allgemein bekannt sein. Sie wurde bereits in der Antike aufgeschrieben und enthält das – für unsere Betrachtung titelgebende – Weinberg-Paradoxon. Es ist an dieser Stelle völlig unerheblich, ob die Parabel von den Arbeitern im Weinberg textkritisch auf eine tatsächliche Rede des historischen Jesus von Nazareth zurückgeführt werden kann. Es geht hier um den Inhalt des Textes; das geschilderte Paradoxon existiert von seiner Quelle völlig unabhängig.
Wir lesen den griechischen Text als deutsche Übersetzung und aus einer rational-ökonomischen Perspektive. Er ist als letzter Vers (das ist eigentlich die Überschrift) des Kapitels 19 und als die Verse 1 bis 15 des Kapitels 20 im Matthäus-Evangelium enthalten; der abschließende Vers 16 in Kapitel 20 wiederholt die Überschrift resümierend:
Aber es werden viele Erste die Letzten sein, und viele Letzte werden Erste. Der Himmel kann auf der Erde verstanden werden – indem wir einen Unternehmer betrachten, den Besitzer eines Weinbergs. Dieser heuerte bei Tagesanbruch Tagelöhner für seinen Weinberg an. Er vereinbarte mit den Arbeitern einen Denar als Lohn für den ganzen Tag, und er schickte sie in den Weinberg. Im Laufe des Vormittags sah der Weinbergbesitzer weitere Arbeiter, die noch auf dem Marktplatz herumstanden und die nach Arbeit suchten. Zu diesen sagte er: „Geht ihr auch noch in den Weinberg, es wird euch der gerechte Tageslohn gegeben werden!“ Die Arbeiter folgten dem Angebot und begannen so verspätet mit der Arbeit. Das Anwerben neuer Arbeiter wiederholte sich in gleicher Form um die Mittagszeit, und noch einmal am Nachmittag. Eine Stunde vor Feierabend fand der Weinbergbesitzer immer noch Untätige, und er sagte ihnen: „Warum habt ihr denn den ganzen Tag hier so untätig herumgestanden?“ Sie antworteten ihm: „Weil uns keiner beauftragt hat.“ Der Weinbergbesitzer entgegnete ihnen: „Geht ihr auch noch in den Weinberg!“ Am Abend dann sagte der Weinbergbesitzer zu seinem Verwalter: „Hole die Arbeiter zusammen und erstatte ihnen den Lohn, beginnend bei den Letzten bis hin zu den Ersten!“ Und die, die erst eine Stunde vor Feierabend gekommen waren, empfingen jeweils einen Denar Tageslohn. Da erwarteten diejenigen, die schon vom Morgen an dabei waren, dass sie mehr Lohn erhalten sollten, aber auch sie empfingen jeweils nur einen Denar. Da protestierten sie beim Weinbergbesitzer: „Diese Letzten arbeiteten nur eine einzige Stunde, und du stellst sie uns gleich, die wir die Last und die Hitze des Tages ertragen haben.“ Der Herr des Weinbergs aber antworte ihnen jeweils: „Mein lieber Kamerad, ich tue dir kein Unrecht; denn es war ja dieser eine Denar mit dir so vereinbart. Nimm das Deine und gehe heim! Ich will aber diesem Letzten das Gleiche geben wie dir. Oder sollte es mir nicht erlaubt sein, mit meinem Geld und meinen Tagelöhnern zu tun, was ich will? Wollt ihr mir einen bösen Vorwurf daraus machen, dass ich ein gutes Werk getan habe?“ So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.
Die Parabel kann – und sollte wohl auch – vor allem allegorisch interpretiert werden. Wir sehen sie aber aus einer rational-ökonomischen Perspektive. Das erscheint uns zulässig, denn man muss sehen, dass der Text den konkreten Realitätsbezug nicht verlässt. Die geschilderte Handlung könnte in Wirklichkeit genauso gewesen sein: Es treten keine Phantasiewesen wie Drachen, Engel, sprechende Tiere oder andere bekannte allegorische Elemente auf. Wir haben es hier weder mit einer Fabel noch mit einer Komödie zu tun. Keinesfalls soll bei der Parabel von den Arbeitern im Weinberg die ökonomische Dummheit des Weinbergbesitzers quasi komödiantisch in den Vordergrund gestellt werden, allen Arbeitern den gleichen Lohn zu zahlen, auch wenn einige von ihnen fast nichts gearbeitet haben.
Die Parabel handelt von den in der Antike sozial schwächsten Wirtschaftssubjekten, den Tagelöhnern. Ein Tagelöhner musste jeden Tag aufs Neue zusehen, wie er den Tagessatz eines Denars verdient, der zum Lebensunterhalt der Familie nötig war. Damit unterschieden sich Tagelöhner wesentlich von den Sklaven. Sklaven wurden quasi „komplett erworben“, damit gehörten sie zum produktiven Kapital des sie besitzenden Betriebs. Qualifizierte Sklaven waren zum Teil teuer und stellten daher eine wertvolle Investition dar. Die soziale, wirtschaftliche und gesundheitliche Absicherung qualifizierter, hochwertiger Sklaven war daher bedeutend besser als die der quasi „freiberuflich selbstständigen“ Tagelöhner; die Letzteren bildeten ein frühes kapitalistisches Prekariat.
Der geschilderte vermögende Weinbergbesitzer ist wörtlich ein οικοδεσποτης (ökodespotes), ein „Beherrscher des Wirtschaftsbetriebs“; das wäre heute der geschäftsführende Alleingesellschafter des Unternehmens. Der Weinbergbesitzer handelte souverän und nicht der Norm entsprechend. Er zeigte objektiv ein Fehlverhalten, denn es wäre normativ einwandfrei – und den Gepflogenheiten entsprechend – gewesen, die Tagelöhner, die erst später am Tag die Arbeit aufnahmen, mit dem entsprechenden Bruchteil des Tageslohns nach Hause zu schicken. Das normativ korrekte Verhalten des Weinbergbesitzers hätte allerdings die wirtschaftliche Existenz der Tagelöhner gefährdet, da der Bruchteil des Lohns deren Lebensunterhalt nicht zu sichern vermochte. Daher kann man hier ein wohltätiges – aber paradoxes – gutes Fehlverhalten des Weinbergbesitzers identifizieren.
Wir interessieren uns nicht weiter dafür, dass gleiche Löhne für ungleiche Arbeiten bekanntermaßen irritieren können – und wären diese Löhne auch noch so hoch angesetzt.
Das uns interessierende eigentliche Paradoxon resultiert aus der in der Parabel beschriebenen Lohnwohltat, die zwar einerseits eine – auch vom Weinbergbesitzer so verstandene – „gute Tat“ ist, andererseits aber nicht als eine allgemeine normative Regelung taugt. Denn was würde passieren, wenn der Weinbergbesitzer an einem neuen Arbeitstag noch einmal den gleichen Lohn zahlte, egal wann die Arbeit aufgenommen worden wäre, und dies gar zum allgemeinen Prinzip, zur Norm, erheben würde?
Rational-ökonomisch würden künftig alle Arbeiter natürlich danach streben, erst kurz vor Feierabend mit der Arbeit zu beginnen, denn es würde ja sowieso der gesamte Tageslohn gezahlt. Die guten Lohnwohltaten – das Zahlen des vollen Lohns für einen Bruchteil der Arbeit – des Weinbergbesitzers würden unweigerlich zu dessen wirtschaftlichem Ruin führen, etablierte man sie zum Vorbild und zu einer (neuen) Norm. Wir können uns in der Phantasie sogar ausmalen, was die Kollegen des Weinbergbesitzers von dessen Wohltaten halten würden: Wahrscheinlich würden sie nicht gerade begeistert sein und protestieren, dass die bewährten Gepflogenheiten der Entlohnung derart sinnlos zerstört würden.
Das Weinberg-Paradoxon zeigt uns eine Unvollständigkeit der normativen Ethik: Es gibt das ethisch „gut“ zu nennende Handeln, das sich einer Normierung entzieht – das ist der Ethos der nicht-normative Ethik.
Das Paradoxon in der Parabel vom Weinberg wird von zwei weiteren – bei „guten Taten gegen die Norm“ typisch zu nennenden – Phänomenen begleitet, nämlich dem Prärogativ und dem Protest.
Zum Prärogativ stellen wir fest, dass sich der Weinbergbesitzer die nicht der Norm entsprechende Wohltat despotisch und autokratisch herausnimmt. Er reklamiert für sich, dass er ja mit seinem eigenen Geld und mit seinen eigenen Leuten nach Belieben umgehen könne, auch wenn es eine ziemlich übertriebene Kulanz ist. Er fordert für sich das souveräne Prärogativ ein, eine Ausnahme von der gängigen Norm realisieren zu dürfen.
Einen Protest erheben diejenigen Arbeiter, die sich durch die (an den anderen Arbeitern) begangene Wohltat des Weinbergbesitzers benachteiligt sehen. Ihnen hält der Hausherr entgegen, er könne nicht als böse angesehen werden, wenn er Gutes tue. Die bekannte Luther-Übersetzung mit „Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ ist etwas freier, aber prägnant.
Wir kennen die Zeichnung von Rembrandt, wo einer der Tagelöhner dem Weinbergbesitzer verwundert und enttäuscht protestierend „einen Vogel zeigt“ – womit der Weinbergbesitzer als nicht ganz zurechnungsfähig und die Situation als absurd gekennzeichnet werden soll.
Die Weinberg-Parabel mit dem Paradoxon, dem Prärogativ und Protest wie auch andere verwandte isomorphe Paradoxa fordern unsere Aufmerksamkeit. Worin ist der Sinn der Paradoxa zu suchen? Wir müssen für ein besseres Verständnis einige Strukturen der normativen Ethik erneut anschauen.