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Einige Beispiele für paradoxe Szenen, die das Phänomen der nicht-normativen Ethik im Alltag zeigen

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Ein Paradoxon ist ein objektiv beobachtbares Phänomen, das dem allgemein Erwarteten oder dem Akzeptierten zuwiderläuft. Ein Paradoxon kann auch zu einer Antinomie und einem Widerspruch zu bisher gängigen Theorien und Modellen führen.

Die mutige Analyse von Paradoxa kann sehr lohnend sein; sie hat in vielfältigen akademischen Diskursen zu einem neuen Verständnis der Realität geführt. Nicht immer gelingt die Auflösung des (paradoxen) Widerspruchs, in den meisten Fällen finden sich aber nützliche Hinweise für eine kritisch-rationale Erweiterung des Weltverständnisses.

Wir kennen berühmte Beispiele aus der Physik. Das in Experimenten beobachtete paradoxe Phänomen der konstanten Lichtgeschwindigkeit führte zur Entwicklung der Relativitätstheorie, die wiederum in eine Neubewertung der klassischen Kategorien Raum und Zeit mündete. Die konsequente Analyse des Paradoxons, dass sich das Licht je nach Experimentaufbau dualistisch sowohl als Teilchen als auch als Welle verhält, führte zur Entwicklung der Quantenphysik.

Wir betrachten zunächst einige verwandte, isomorphe Paradoxa in alltäglichen Szenen. Sie haben gemeinsam, dass man ein als „gut“ erkanntes Tun nicht als eine allgemeine Norm formulieren und etablieren kann. Das gute Tun wäre als allgemeine Verhaltensnorm nicht brauchbar oder würde als allgemeine Verhaltensnorm gar zu Schäden führen – es handelt sich paradoxerweise um ein gutes Fehlverhalten.

Dieses gute Handeln, das sich derart einer Normierung entzieht, kann daher als ein nicht-normatives ethisches Handeln bezeichnet werden.

Erste Szene:

In der S-Bahn erscheint ein Fahrkartenkontrolleur. Er trifft auf eine Dame, die in arger Verlegenheit ist. Sie hat keine Fahrkarte und gibt als Begründung an, sie komme von auswärts und habe den komplizierten Fahrkartenautomaten hier am Bahnhof nicht verstanden. Das Ertappen der Schwarzfahrerin ruft die Aufmerksamkeit der Mitreisenden hervor. Nach einigem Hin und Her erlässt der Kontrolleur der Dame die eigentlich fällige – nicht unerhebliche – Geldstrafe. Der gnädige Kontrolleur lässt es „für diesmal“ gut sein. Das ruft den lautstarken Protest eines mitreisenden älteren Herrn hervor: Da könne ja jeder kommen, sich dumm stellen und dreist behaupten, man verstehe den Automaten nicht. Er selbst habe ja schließlich auch eine Fahrkarte am Automaten gekauft und bezahlt – so wie das vorgeschrieben sei.

Zweite Szene:

An der Kasse im Verbrauchermarkt quengelt ein Schulkind. Es begehrt von seiner Mutter, die bereits sichtlich genervt ist, den Erwerb eines an der Kasse im Display platzierten Comic-Hefts. Das Quengeln des Kindes steigert sich, es scheint so, als ob das künftige Lebensglück des Kindes vom Erwerb eben dieses Comic-Hefts und seiner Lektüre abhängt. Die Mutter wirkt überfordert, ihr ist das laute Lärmen ihres Nachwuchses nicht gerade willkommen. An der Nachbarkasse steht – der Zufall will es so – die Großmutter des Kindes an. Sie wird aufmerksam, erbarmt sich, kauft das Heft und schenkt es dem Kind mit den Worten: „Ich kann meinem Enkelkind ja auch einmal einen Gefallen tun.“ Das Kind ist selig, aber es erhebt sich nun ein vehementer Protest der Mutter: Ihre Schwiegermutter könne doch dem Kind nicht „einfach so“ einen derartigen Schund schenken. Das verbitte sie sich, denn es untergrabe ihre Autorität.

In einer ersten Zwischenbilanz sehen wir einen Fahrkartenkontrolleur und eine Großmutter. Die beiden bewirken für die Schwarzfahrerin eine Kulanz oder Gnade, beziehungsweise für das Schulkind eine Wohltat – das sind jeweils „gute Taten“. Wir sehen aber als ein Paradoxon, dass wir diese (an sich guten) Taten nicht als Norm etablieren können. Sie stellen paradoxerweise ein gutes Fehlverhalten dar. Die normative Folge wäre ja, dass die vorgebliche Unfähigkeit einen Fahrkartenautomaten zu bedienen zum Schwarzfahren berechtigt, und dass hinreichend lautes Quengeln zur Erfüllung aller kindlichen Konsumwünsche führt. Das ist offenbar abwegig. Der Fahrkartenkontrolleur und die Großmutter ignorieren zudem die Verordnungslage zur Schwarzfahrtbestrafung und das Gestaltungsrecht der elterlichen Erziehung; sie nehmen sich quasi ein Prärogativ (praerogatio – das Vorrecht) heraus. Sie sehen sich situativ als legibus solutus: von den Gesetzen und der Norm entbunden.

Ein solches Paradoxon zeigen auch andere gute Taten; es lassen sich leicht einige weitere Beispiele finden:

1 – Wenn hilfsbereite Tierfreunde hungrige Tauben in der Stadt füttern, so ist das zunächst eine gute Tat. Allerdings dürfte diese Form der wohlmeinenden Tierliebe, normativ und wiederholt ausgeübt, neue Tauben anlocken. Die Population wächst, die permanent gefütterten Tauben vermehren sich unkontrolliert. Die Folgen sind Schäden an Gebäuden durch Nisttätigkeit, Übertragung von Krankheiten, Belästigung von Passanten und dergleichen mehr. Wird ein Verbot gegen das gut gemeinte Taubenfüttern verhängt, so stößt das durchaus auf Unverständnis bei den Tierfreunden.

2 – Wird einem offenbar bedürftigen Menschen, der an der Haustür um ein Almosen bittet, dieses großzügig gewährt, dann ist dies per se eine gute Tat. Nun könnte es aber sein, dass es sich in den entsprechenden Kreisen herumspricht, dass ein bestimmtes Haus von besonders spendierfreudigen Leuten bewohnt wird. Es könnte sein, dass die Lokalität bald von echten und unechten Hilfsbedürftigen häufiger frequentiert wird. Sollen dann die Almosen situativ verweigert werden? Sollen sie zufällig oder nach Willkür gewährt werden? Oder immer gegeben werden, wenn danach gefragt wird? Eine Norm lässt sich offenbar nicht finden.

3 – Die moderne Bergwacht ist in der Lage, in Not geratene Personen ziemlich zuverlässig zu finden und zu retten. Diese Hilfe ist ohne Zweifel eine gute Tat. Entsprechende Hilferufe können bequem mit einem einfachen Mobiltelefon abgesetzt werden. Nun könnte es natürlich sein, dass die Verfügbarkeit der Hilfe auch Unkundige und Unfähige dazu verlockt, sich leichtfertig in Gefahr zu bringen, indem sich auf übermäßig waghalsige Touren begeben. Dadurch steigt wiederum die Zahl der von der Bergwacht zu erledigenden Einsätze. Die gute Tat der Rettung ist eine verpflichtende Norm, die aber offenbar sehr spezielle Begleiteffekte mit sich bringt.

Die Situationen sind jeweils paradox, denn auch das konsequente Ignorieren von hungrigen Tieren, bedürftigen Bettlern oder in Bergnot Geratenen kann ebenfalls kaum ein normativer Maßstab sein.

Dritte Szene:

In einem Seminar erteilt der Professor zum Semesterende allen Studierenden – einfach so – eine „1,3“ als Note. Mit einer Ausnahme: Es wird eine einzige „1,0“ vergeben. Eigentlich könnten ja alle Studierenden mit diesen – an sich – sehr guten Noten zufrieden sein. Sie sind es aber wahrscheinlich nicht, weil der Unterschied in der Entlohnung eine wesentliche Komponente der subjektiv empfundenen Gerechtigkeit darstellt. Einige der „1,3“-Kandidaten wollen auch eine „1,0“, andere fordern schlechtere Zensuren für diejenigen, die erkennbar weniger engagiert im Seminar mitgearbeitet haben. Die Wohltat, allen Studierenden unabhängig von der Leistung sehr gute Noten zu erteilen, führt zudem zu einer völligen Überfüllung des Seminars in den nächsten Semestern.

Eine zweite Zwischenbilanz zeigt, dass die dritte Szene kein echtes Prärogativ schildert. Diese exotische Notengebung des Professors ist zwar nicht ganz so üblich, aber auch nicht ungesetzlich. Die drohende Überfüllung des Seminars ist nicht paradox, man kann dieses nicht völlig unbekannte Problem wohl bewältigen. Besonders interessant ist hier aber der Protest der Studierenden.

Nicht der Norm entsprechende Wohltaten an Menschen, „die das gar nicht verdient haben“, rufen Proteste hervor. Der Fahrkarteninhaber protestiert gegen die Begnadigung der Schwarzfahrerin. Die Mutter protestiert gegen das Geschenk für das Kind.

Diese Art von Protest gegen gute Taten und gegen „Empfänger unverdienter Wohltaten“ ist im politischen Raum von erheblicher Bedeutung. Dieser Protest richtet sich gegen vermeintlich zu hohe Sozialleistungen, gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen, gegen eine vermeintlich zu komfortable Versorgung von Flüchtlingen und dergleichen mehr. Der Protest ist sogar geeignet, die parlamentarischen Kräfteverhältnisse zu beeinflussen. Eigens gegründete „Protestparteien“ erhalten einen nicht unerheblichen Wählerzuspruch. Demonstrationszüge von „Wutbürgern“ gegen Wohltaten für die „falschen Leute“ erhalten Zulauf und politische Aufmerksamkeit.

Nach Maßgabe der offenbaren politischen und philosophischen Bedeutung haben die drei Phänomene Paradoxon, Prärogativ und Protest unsere Aufmerksamkeit und eine genauere Untersuchung verdient.

Das Weinberg-Paradoxon

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