Читать книгу Das Weinberg-Paradoxon - Georg Rainer Hofmann - Страница 11
Normative Ethiken entsprechen einer generellen Neigung des Menschen
ОглавлениеWo können wir den Ursprung der normativen Ethik verorten? Könnte es denn sein, dass die Moral schlechthin „nichts als Illusion“ ist? Und die Ethik von daher den Gegenstand einer bloßen Fiktion lehrt? Michael Roth argumentiert, dass der Moral in der Tat ein schlüssiger rationaler Grund fehlt. Ein egoistisches Verhalten, aus einer Position der Überlegenheit heraus, ist rational begründet – weit mehr, als es ein empathisches „gutes“ Verhalten ist. Dies trifft sich mit Friedrich Nietzsches Diktum von der „Tüchtigkeit als neuer Tugend“, die das Glück des überlegenen Menschen in dessen Überwindung der „Moralen“ sieht.
Könnte es aber andererseits sein, dass die Setzung von Handlungsnormen als ein Attribut der Macht verstanden werden muss? Irdische Gesetze gelten in einem staatlichen herrschaftlichen Machtbereich, auch religiöse Gebote sind an die Offenbarung einer göttlichen Macht geknüpft. Hans Kelsen sieht in seiner „Reinen Rechtslehre“ die Gestaltung von Gesetzen durch Herrschende als einen Vorgang, der beliebige normative Inhalte produzieren kann. Kelsen lehnt die Existenz eines „Naturgesetzes“ ab: Insbesondere die Setzung von Normen in den sogenannten Unrechtsstaaten zeige die Beliebigkeit und Willkür des Vorgangs. In der Konsequenz könnten wir die Entstehung von normativen Vorgaben an das Auftreten von herrschenden Personen knüpfen. Wie aber entsteht eine „Herrschaft“?
Betrachten wir eine Gruppe begabter junger Menschen in einem sie herausfordernden Umfeld. Wir sehen etwa vier bis sieben Studierende, die sich in einem Seminar in Gruppenarbeit einer Aufgabenstellung widmen. Die Gruppe wurde durch das Los zusammengesetzt, die Leute kennen sich untereinander nicht oder kaum. Sie sind gemeinsam externen Normen verpflichtet, etwa einem Sorgfaltsgebot bei der Erstellung der Arbeit, einem Abgabetermin, etc. Die Frage ist, wie sich ihre gruppeninterne Kollaboration regelt. In der zunächst herrschaftsfreien Gruppe („Wir sind ein gleichberechtigtes Team“) zeigen sich beim Auftreten komplizierter Situationen sehr bald Norm- und Hierarchiestrukturen. Wer der Studierenden kann in der Gruppe im Konfliktfall einen sinnvollen Kompromissvorschlag unterbreiten – als „Bestimmer“, wie er von Grundschülern bezeichnet würde? Wer kann beim nächsten Präsentationstermin im Seminar welchen Teil der Arbeit am besten vorstellen und gegenüber dem Auditorium vertreten?
Die erfahrene Leserschaft dürfte in vergleichbaren Situationen – im Berufsleben, in Vereinen, in der gemeinsam verbrachten Freizeit – bemerkt haben, dass sich Führungsrollen quasi natürlich in einer Gruppe herausbilden. Biologisch könnte man formulieren, dass eine kleine Gruppe von Individuen der Art homo sapiens in einer Herausforderung sich fast immer ein Alpha-Individuum sucht. Der Mechanismus der Suche und das Finden von maßgebenden Personen scheint dem Menschen angeboren zu sein.
Die den handelnden Menschen fortwährend begleitende ethische Frage „Was soll ich tun?“ sucht ihre offenbar natürliche Antwort in der normgebenden Hierarchie, die durch das Auftreten von Führungspersonen definiert wird. Dieser einfachste normativ-ethische Mechanismus braucht für seine Funktion keine geschriebenen und ausformulierten Gesetze. Die Ethik definiert sich über eine Führungsperson, die sagt, „was zu tun ist“. Diese Art Ethik ist damit aber auch abhängig von der zeitlichen und örtlichen Präsenz und Verfügbarkeit der jeweiligen Führungsperson.
Unterstellen wir weiter, dass die in einer Gruppe gefundene natürliche Führungsperson sehr erfolgreich ist, aber leider irgendwann ausfällt. Dies ist im Berufsleben etwa der Fall, wenn der Gründer und „Übervater“ eines Unternehmens aus dem Betrieb ausscheidet. Das wird natürlicherweise früher oder später der Fall sein. Die nachfolgende Führungsperson wird angesichts der Erfolge des Vorgängers an diesem gemessen werden – sich gar messen lassen müssen.
Wir sehen diese einfachste Form des Traditionalismus als eine weitere naheliegende ethische Normsetzung. Eine Erinnerungskultur an ehemalige führende Personen als Leitlinie für das aktuelle Handeln („Wir werden das Unternehmen in seinem Sinn weiterführen“) ist in allen menschlichen Kulturen und weltweit präsent. Wir dürfen annehmen, dass dieser Traditionalismus dem homo sapiens ebenfalls quasi angeboren ist.
Selbstverständlich muss für eine solche einfache traditionalistische Ethik die Erinnerung an die ehemalige Führungsperson bewahrt werden. Dies gelingt zunächst nach Maßgabe mündlicher Überlieferung im Sinne der fiktiven Beantwortung der Frage „Was hätte der Seniorchef dazu gesagt?“; diese wird aber irgendwann verblassen, wenn sie nicht explizit als normgebende Chronik verschriftlicht wird.