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Der Königsweg: Teil 1

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Im April 2019 brannte nicht nur die Kathedrale der französischen Hauptstadt Paris, vielmehr stand das Zentrum des Landes in Flammen. Schließlich führen alle Wege nach Notre-Dame, jedenfalls alle Wege Frankreichs: Nur wenige Meter vor dem linken Eingangstor ist der „Nullpunkt der Straßen Frankreichs“ („point zéro des routes de France“) ins Pflaster eingelassen. Wird die Distanz eines Ortes in Frankreich zu Paris angegeben, bezieht sich die Messung auf diesen Punkt im Herzen der Stadt.

Während ich dieses Kapitel niederschreibe, weiß man noch immer nicht, warum der verheerende Brand ausgebrochen ist, der in der Nacht vom 15. zum 16. April den mittelalterlichen Dachstuhl der Kathedrale zerstört hat. Ihre Umgebung ist seither durch Bleirückstände belastet. Ich musste beim Anblick der brennenden Kirche unwillkürlich an meine alte zerfledderte Ausgabe von Victor Hugos „Notre-Dame de Paris“ denken. Auch auf deren Cover brennt die Kathedrale, wenn auch kontrolliert: Das vergilbte Taschenbuch, das ich als Student billig bei einem Pariser Altwarenhändler erstanden habe, zeigt Quasimodos Kampf gegen die anstürmenden Bettler des Hofs der Wunder, bei dem er durch die mittelalterlichen Wasserspeier einen Regen aus brennendem Pech und Blei auf die Angreifer niedergehen lässt.


Saint-Denis bzw. heiliger Dionysius

Auch vor dem Feuer von 2019 kam mir fast jedes Mal, wenn ich von der nahen Place Saint-Michel in Richtung Notre-Dame spazierte, Victor Hugos Roman in den Sinn. „Ceci tuera cela. – Dieses wird jenes töten“, sagt darin der dämonische Diakon Claude Frollo und zeigt zuerst auf ein Buch, dann auf die Kathedrale. Der spätmittelalterliche Priester bezieht sich auf die Gefahr, die das gedruckte Buch für die Macht der Kirche darstellte. In Wirklichkeit hat ein Buch die Kirche damals gerettet: Als Victor Hugos Roman 1831 erschien, galt Notre-Dame als Fall für die Spitzhacke. Der Zahn der Zeit, diverse Umbauten sowie die Beschädigungen durch die Revolutionäre hatten ihr arg zugesetzt. Bevor sich Napoleon selbst zum Kaiser krönte, ließ er den Innenraum der Kathedrale weiß anstreichen und durch Fahnen verhängen, um den baufälligen Zustand im wahrsten Wortsinn zu übertünchen. Notre Dame schien unrettbar verloren. Dann schrieb Victor Hugo seinen Roman, der zu einem immensen Publikumserfolg wurde und ein Umdenken einleitete, das schließlich zur aufwendigen Restaurierung der Kathedrale führte. Eine solche steht nun wieder an.

Mir dient die majestätische Kirche am Nullpunkt der Pfade, die zwar ihr altes Dach verloren, die Katastrophe aber doch erstaunlich glimpflich überstanden hat, bei meinem Spaziergang nur als Wegweiser: Ganz links neben dem linken Eingangstor befindet sich die Statue eines Mannes, der eine Bischofsmütze auf dem Kopf und selbigen in den Händen trägt. Es handelt sich um Saint Denis beziehungsweise den heiligen Dionysius, den ersten Bischof von Paris. Er wurde um das Jahr 250 n. Chr. auf dem Montmartre enthauptet, soll danach seinen Kopf unter den Arm genommen haben und sechs Kilometer in Richtung Nordosten marschiert sein. An dem Ort, an dem er schließlich zusammenbrach und begraben wurde, ließ die Pariser Stadtpatronin Genoveva ein Gotteshaus errichten, das im zwölften Jahrhundert zu einer der ersten gotischen Kirchen Europas umgebaut wurde. Wäre der bedauernswerte Bischof hier im Zentrum der Stadt hingerichtet worden, hätte er wahrscheinlich einen leichteren letzten Weg gehabt: Eine schnurgerade, von den Römern im ersten Jahrhundert angelegte Straße führt von der Île de la Cité zur späteren Basilika: die Rue Saint-Denis. Die französischen Könige wählten die seit den Römern in ihrem Verlauf unveränderte Straße nach erfolgreichen Kriegen für ihre Triumphzüge, und auch auf ihrem letzten Weg folgten sie derselben Strecke. Seit der Merowingerin Arnegunde, der vierten Ehefrau des Frankenkönigs Chlotar, wurden 68 Königinnen und Könige Frankreichs sowie mehrere Dutzend Prinzen, Prinzessinnen und verdiente Hochadelige in der Basilika bestattet.

Die königliche Triumph- und Trauerroute teilt die Stadt in eine West- und eine Osthälfte und lädt zu einem lohnenden, langen Spaziergang, den ich mir für heute vorgenommen habe. Auf diesem Weg den Kopf nicht allzu fest auf den Schultern zu tragen, also nicht nur stur geradeaus, sondern auch ausführlich nach rechts oder links zu schauen, empfiehlt sich dabei.

Ich kehre Bischof Saint Denis also den Rücken und spaziere durch die Rue de Lutèce, vorbei an der Polizeipräfektur und dem Marché aux fleurs, einem hübschen Blumen- und Kleintiermarkt, zum Boulevard du Palais. Angesichts des von monumentalen Gebäuden und breiten Straßen geprägten, von Reisegruppen abgesehen, jedoch recht leblosen Stadtteils ist kaum vorstellbar, dass er jahrhundertelang „Herz, Kopf und Mark der Stadt“ war, wie ein mittelalterlicher Chronist schrieb. Verantwortlich für seine heutige Anmutung ist Baron Eugène Haussmann, der auf Geheiß Kaiser Napoleons III. der verwinkelten und unhygienischen französischen Hauptstadt mit ihrem über die Jahrhunderte gewachsenen Häuser- und Hüttendickicht ein neues, strahlendes Gesicht verpasste. Er schuf das vertraute Pariser Stadtbild mit seinen typischen eleganten Häusern, radierte aber auch ganze Viertel aus – zum Leidwesen vieler Bewohner und Liebhaber der vertrauten Stadt wie zum Beispiel Charles Baudelaire, der in seinen „Blumen des Bösen“ die berühmten Verse schrieb: „Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville/Change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel) – Verschwunden Alt-Paris (das Bild der Stadt verwischt/sich schneller als ein sterblich Herz bekehrt).“

Besonders radikal war die Umgestaltung der Île de la Cité, deren ursprüngliche Bebauung bis auf wenige Ausnahmen völlig verschwand. Hunderte Häuser und Kirchen wurden abgerissen, 25 000 Bewohner mussten die Insel verlassen. Gerade einmal tausend leben heute noch dort.

Und doch sind gerade auf der Île de la Cité auch mittelalterliche Bauten erhalten, die ihr einen geradezu märchenhaften Glanz verleihen: Die Conciergerie, deren spitze Türme ich vom Pont au change aus betrachte, ist ein später zum Gefängnis umfunktionierter Überrest des hochmittelalterlichen französischen Königsschlosses. Bittere Ironie der Geschichte: Auch die letzte Königin von Frankreich und Navarra, Marie Antoinette, wartete darin auf ihre Hinrichtung – ein Schicksal, das sie unter anderem mit Danton und Robespierre teilte.

Die Place du Châtelet, eine etwas unwirtliche Gegend, der das namensgebende „Schlösschen“ irgendwie fehlt, bringe ich rasch hinter mich und beginne die Tour gleich mit einem Umweg. Statt in die Rue Saint-Denis biege ich noch schnell in die Rue des Halles, wo ich, wenn ich in der Nähe bin, gerne die Boulangerie von Monsieur und Madame Dheilly aufsuche. Sie gehört zum erlauchten Club der im legendären Boulangerie-Guide „Cherchez le pain“ aufgelisteten besten hundert Bäckereien der Stadt. Akribisch untersucht darin der amerikanische Historiker Steven L. Kaplan, der sich auf die Geschichte des Brotes spezialisiert hat, die Baguettes der Hauptstadt nach den Kriterien „Aussehen“ (drei Punkte), „Kruste“ (drei Punkte), „Teig“ (drei Punkte), „Kaugefühl“ (ein Punkt), „Duft/Aromen“ (fünf Punkte), „Geschmack“ (fünf Punkte). Zwanzig Punkte, wie im typisch französischen Schulnotensystem vorgesehen, sind also zu vergeben. Ich kenne das System noch aus dem Literaturstudium an der Sorbonne Nouvelle, dort funktioniert es so: Zwanzig Punkte bekommt der liebe Gott, 19 Racine, 18 Molière, 17 der Professor. Von Punkt 16 abwärts sind die Studenten dran.

Auch Steven L. Kaplan geht streng mit den ohnehin besten Bäckereien der Stadt ins Gericht: Das Brot von Laurent Dheilly findet er nicht schön genug, weil es ihm zu flach und zu länglich ist. Er lobt aber die Kruste und vor allem das Innere („schön luftige Struktur, crèmefarben, körperreich, rund, appetitlich“), den Duft („sehr aromatisch, frühlingshaft frisch“) und den Geschmack („erfreulich und gut ausgewogen“). Wer das nachprüfen will, muss für das Traditionsbaguette bloß 1,15 Euro investieren. Mir steht an diesem Morgen aber der Sinn nach Nahrhafterem, ein Pain au chocolat muss es sein. Ich finde es, ganz ohne Punkte zu vergeben, hervorragend. Mit dem Schokoladengebäck in der Hand und den Bröseln auf dem Mantel gebe ich mich sofort als Ausländer zu erkennen: Ein richtiger Pariser würde niemals mitten auf der Straße von seiner Viennoiserie abbeißen, sondern sich im nächsten Café einen Espresso bestellen und sein Gebäck dort verzehren. Das darf man nicht nur, es ist durchaus üblich. Wen der Anblick von totem Ungeziefer nicht vom Essen abhält, der kann auch vor der Auslage des legendären Ratten-Vernichters Aurouze gleich neben der Bäckerei an seinem Croissant knabbern und dabei die vor über hundert Jahren zwischen oder unter den Markthallen gefangenen Riesennager aus der goldenen Zeit des Hallenviertels bewundern.


Ratten-Vernichter Aurouze

Ich gehe lieber durch die Rue Courtalon, eine enge alte Straße, die bereits im dreizehnten Jahrhundert erwähnt wurde, in Richtung Rue Saint-Denis. In einer Parallelstraße, der Rue de la Ferronnerie, wurde der viel geliebte König Henri IV. erstochen, woran heute noch ein ins Pflaster gearbeitetes Wappen erinnert. Als ich die Rue Saint-Denis erreiche, wirkt diese gar nicht königlich, sondern schäbig: Fast-Food-Lokale, Schuhgeschäfte und die ersten paar Sex-Shops dieser vor wenigen Jahren noch als Sündenpfuhl berüchtigten Straße dominieren das Bild – immerhin kann man sich mit dem Wissen trösten, auf historischem Boden zu wandeln.

Das kann man auch bei der Fontaine des Innocents, wenige Schritte weiter stadtauswärts: Der Name dieses Brunnens erinnert an den ältesten Friedhof der Stadt, den „Cimetière des Innocents“. Benannt wurde er nach einer benachbarten, den unter König Herodes massakrierten Kindern geweihten Kirche, die heute nicht mehr steht. Bereits die Merowinger begruben hier ihre Toten, über zwei Millionen Menschen sollen bis 1780 auf dem ursprünglich außerhalb der Stadt gelegenen Friedhof bestattet worden sein. Neun Tage brauchte die Erde dieses Friedhofs, um einen Leichnam zu „fressen“, erzählte man sich. Die Knochen aus aufgelassenen Gräbern wurden in Beinhäusern gelagert. Kurz vor der Revolution von 1789, als Teile der Mauern und der überquellenden Beinhäuser zusammenzubrechen begannen, wurde der Friedhof geleert. Fünfzehn Monate lang rollten täglich makabre Prozessionen mit Wägen voller menschlicher Überreste, von Priestern begleitet, in Richtung der aufgelassenen Steinbrüche im vierzehnten Arrondissement, die von nun an als Katakomben dienten. Der Renaissance-Brunnen wurde von der Rue Saint-Denis, wo er Teil der Inszenierung königlicher Triumphzüge war, auf seinen heutigen Platz einige Meter von der Straße entfernt versetzt. Damals wurde auf dem vormaligen Friedhofsgelände ein neuer Markt eingerichtet. Dieser verlor seine Funktion wiederum im neunzehnten Jahrhundert mit dem Bau der Markthallen, die dem seit dem zwölften Jahrhundert bestehenden zentralen Markt der Hauptstadt einen würdigen, der Eleganz und Opulenz der Belle Époque entsprechenden Rahmen verliehen.


Ein wuchtiges „Blätterdach“, die Canopée

Ihrem gegen heftigen Widerstand durchgesetzten Abriss in den 1970er-Jahren folgten zehn Jahre, in denen ein gähnendes Loch genau dort klaffte, wo sich der von Émile Zola für alle Zeiten in der Literaturgeschichte verewigte „Bauch von Paris“ befunden hatte. Ein Teil wurde mit dem unterirdischen Riesenbahnhof Châtelet/Les Halles gefüllt, an dem sich fünf Métro- und drei RER-Linien kreuzen. 750 000 Passagiere benützen den Bahnhof täglich. Wer aus der Banlieue oder vom Flughafen nach Paris kam, wurde hier bis vor wenigen Jahren noch von einem schäbigen, unübersichtlichen Einkaufszentrum empfangen, doch damit ist es seit 2016 vorbei: Ein „Blätterdach“, auf Französisch „Canopée“, aus riesigen Stahl-Lamellen soll das heller und übersichtlicher gestaltete Einkaufszentrum vor Regen schützen, aber luft- und lichtdurchlässig belassen. Der spektakuläre Bau stieß zunächst auf gemischte Reaktionen: Er war um vieles teurer als vorgesehen, wirkte klobiger als auf den vorab präsentierten Modellen und hielt zu allem Überdruss den Regen auch nur teilweise ab. Freilich: Niemand behauptet, es wäre schlechter als das, was hier noch vor ein paar Jahren stand, und die Sache mit den undichten Stellen hat man mittlerweile in den Griff bekommen.

Mich zieht es ohnehin nicht wegen des Einkaufszentrums in die Gegend, sondern wegen dessen Umgebung: Das Herz des Viertels wurde 1971 zwar weggerissen, aber viele der Arterien, die zu ihm führten, pulsieren nach wie vor. Auch manche Gaststätten aus den goldenen Zeiten der Hallen gibt es noch, etwa in der Rue Rambuteau, die nördlich an der Baustelle vorbeiführt, das typische Hallen-Bistro Au Père Fouettard mit seiner stilvoll patinierten Inneneinrichtung und dem längst nicht mehr genützten Regal, in dem Stammgäste früher ihre Stoffservietten aufbewahrten, oder La Fresque, ein weiterer dieser praktischen Klassiker, die es einem ersparen, sich bei Shopping-Touren von Fast Food oder Systemgastronomie ernähren zu müssen, wie man das in ähnlichen Einkaufslandschaften andernorts eben hinnimmt. Hier bin ich gestern bei meinen Recherchen zu Mittag eingekehrt und habe den Wirt gleich um das Rezept des Kabeljaurückens mit Chorizo-Sauce gefragt, den es als Mittagsteller gab – typische Pariser Bistro-Küche: einfache Zutaten, ein schnelles Rezept und doch ein hervorragendes Gericht. Angesichts des Trubels hat er mich gebeten, am nächsten Vormittag wiederzukommen, hier bin ich nun. Und habe Glück. Der freundliche Mann, der gerade mit dem Besen in der Hand im Eingang lehnt und eine Verschnaufpause macht, ist Küchenchef Jean-Louis Winnebroot persönlich, der mir das Rezept gern weitergibt. Allerdings sind die Zutatenlisten, wenn man mit Restaurant-Köchen über ihre Rezepte spricht, meist gewöhnungsbedürftig: Man nehme fünf Liter Schlagobers … Hier gilt: Verlassen Sie sich auf Ihr Gefühl und Ihre Vorlieben, dann wird das schon. Wichtig ist ihm vor allem nach Gefühl zu kochen und die Qualität der Zutaten, auf die er beim Erklären immer wieder hinweist. Also:

Paris abseits der Pfade (Jumboband)

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