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Rathenaus Planwirtschaft

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Unmittelbar nach Kriegsbeginn schrieb Walther Rathenau einen Brief an den Reichskanzler Theobald von Bethmann-Hollweg, in welchem er sich zur Verfügung stellte, sollte dieser ihn »für die Dauer des Feldzuges für jede, wie immer geartete Tätigkeit verwenden (…) wollen«.22 Bereits am 9. August erhielt er die Gelegenheit, dem preußischen Kriegsminister Erich von Falkenhayn seine Überlegungen zur Organisation des wirtschaftlichen Rückgrats der Kriegsanstrengung zu unterbreiten. Rathenau legte insbesondere dar, wie unter den Bedingungen der Blockade die nötigen Ressourcen für einen Zwei-Fronten-Krieg organisiert werden konnten. Falkenhayn sah in seinem Gesprächspartner nicht nur einen Mann mit guten Ideen, sondern auch den Richtigen, sie umzusetzen. Er beschloss, eine Kriegsrohstoff-Abteilung im Kriegsministerium einzurichten, in der die Beschaffung der kriegswichtigen Ressourcen zentral geplant und besorgt wurde. Zu deren Leiter ernannte er Rathenau, der sich damit plötzlich an einer der entscheidenden Stellen der deutschen Militärmaschinerie wiederfand. Damit nahm er die zu Helfferich spiegelbildliche Funktion ein. Die Mittel, die der Finanzminister irgendwie beschaffte, wurden von Rathenau und seiner Abteilung ihrer Verwendung zugeführt. Rathenau wurde der Mann, der über die Allokation eines großen Teils der staatlichen Ressourcen entschied.

Walther war der Sohn von Emil Rathenau, dem Gründer der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft (AEG), die es sich zum Ziel gemacht hatte, nach dem Vorbild von Thomas Edisons General Electric Corporation in Deutschland die Stromerzeugung und -verteilung voranzubringen und zu diesem Zweck auch die entsprechenden brauchbaren Produkte auf den Markt zu bringen. Das war eine außerordentliche Idee, denn im selbstverliebten Europa der Belle Époque hatten nur wenige Unternehmer begriffen, dass in den USA nicht nur sehr viel Getreide wuchs, sondern auch neue Techniken entwickelt wurden. So erwarb der ältere Rathenau Edisons Patente auf Glühbirnen für Deutschland. Die AEG war aber auch aus eigenem Recht erfinderisch, wie etwa die Erfindung des Drehstrommotors und die Entwicklung der drahtlosen Telegraphie (im Rahmen der gemeinsam mit Siemens & Halske gegründeten Tochtergesellschaft Telefunken) bewiesen. Die AEG war innerhalb weniger Jahre zu einem der großen Konglomerate in Deutschland aufgestiegen. Siemens und die AEG wurden für die Elektroindustrie, was Thyssen, Krupp und Stinnes für die Kohle- und Eisenindustrie wurden, Bayer, BASF und Höchst für die Chemische Industrie sowie die Deutsche, Dresdner und Danat Bank für die Kreditwirtschaft. Diese nationalen Champions steckten nach dem Vorbild der amerikanischen Trusts oder der mittelalterlichen Zünfte ihre Reviere in Syndikaten (heute »Kartelle« genannt) ab, um Konkurrenz zu vermeiden und Gewinne zu sichern. In den Syndikaten wurden Preise und Produktionsmengen einvernehmlich festgelegt, so dass niemand das Geschäft des anderen beschädigte. Für die Verbraucher bedeutete dies eine stabile Versorgung zu hohen Preisen und für die Unternehmer ein angenehmes Leben, in welchem sie sich nicht um niedrigere Kosten oder bessere Qualität kümmern mussten, um ihren Teil vom Kuchen zu verteidigen. In der wohlgeordneten Kaiserzeit versorgten die Syndikate einen meist dankbaren Staat mit Industriearbeitsplätzen und standen dem rasant steigenden allgemeinen Wohlstand jedenfalls nicht im Wege. Im Gegenzug wurde die Wirtschaft weitgehend in Ruhe gelassen, wenig besteuert und reguliert, in dem Vertrauen, sie werde schon von allein das Richtige tun. Industrielle und Bankiers mochten auf der gesellschaftlichen Bühne hinter Adel und Militär zurückstehen, ihr Ansehen und ihr Einfluss waren durch ihre Staatsnähe dennoch erheblich. In der Regierung standen ihnen die Türen immer offen, ihr Rat wurde gerne gehört und in entsprechenden Gremien institutionalisiert. Sie gehörten zum personellen Motor des Aufstiegs Deutschlands zur wirtschaftlichen (und damit auch militärischen) Großmacht.

In diesem Club der Firmenpatriarchen kannte jeder jeden, man war staatsnah, technikaffin und, je nach Neigung, patriotisch, national oder imperialistisch gesinnt. Walther Rathenau war doppelt Mitglied als Industrieller und Bankier, denn er hatte, um dem Vater seine Tauglichkeit zu beweisen und sich eine Existenz jenseits des Familienbetriebs aufzubauen, 1902 das Angebot angenommen, Vorstand der Berliner Handelsgesellschaft des legendären Bankiers Carl Fürstenberg zu werden. Sein Erfolg als Finanzier konnte ihn nicht darüber hinwegtrösten, dass er in der AEG nie wirklich das Ruder übernehmen durfte. Nach dem Tod seines ursprünglich als Firmenerbe vorgesehenen jüngeren Bruders Erich wurde er zwar Aufsichtsratsvorsitzender, aber in der Rolle eines zahnlosen Erben. Sein Vater hielt ihn für zu weich, für einen Mann von hohen Geistesgaben, dem aber der rohe Geschäftsinstinkt abgehe. Als Vorstandsvorsitzenden berief er Felix Deutsch, der zu allem Überfluss auch noch mit Lili Kahn, der einzig wahren Liebe in Walther Rathenaus Leben, verheiratet war.

Kreativ und außerordentlich werden Menschen oft erst, wenn es ihnen gelingt, Fertigkeiten und Ideen, die sie sich in einem Bereich angeeignet haben, auf einen völlig anderen zu übertragen, um dort etwas Neues zu schaffen. Walther Rathenau war von Ausbildung und Beruf her Techniker und Unternehmer, ein Mann auf dem Boden der Tatsachen. Solche Menschen denken viel über Zwecke nach und die Mittel, die zu ihrer Erreichung nötig sind – welche Produkte sich in welchem Markt zu welchem Preis verkaufen lassen. Manche (nicht eben viele, aber doch einige) geraten dabei ins Grübeln und fragen nach immer höheren Zwecken, ihres Unternehmens, ihrer eigenen Existenz oder des Staates, in dem sie etwas bewegen. Walther Rathenau wurde zu einem solchen Grübler. Er brachte ohnehin eine melancholische Veranlagung mit und einen ausgeprägten Sinn für alles Ästhetische. 1907 ließ er sich von Edvard Munch porträtieren, er umgab sich gerne mit den herausragenden Künstlern seiner Zeit, war gut mit Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, Frank Wedekind, Alfred Messel und Harry Graf Kessler befreundet, förderte Maler, Musiker und Bildhauer, Schriftsteller und Journalisten. Er selbst schrieb zeitkritische Essays und Bücher über Philosophie, Ästhetik, Architektur, Ökonomie und Staatskunst, oft in einem schwermütigen, von Einsamkeit geprägten Ton.

Als Intellektueller und Industrieller wurde Rathenau in beiden Lagern schief angesehen. »Prophet im Frack« nannte man ihn, wobei ihm die einen das Prophetische und die anderen den Frack übelnahmen. Die Unternehmer zweifelten an der Tatkraft des Verfassers von Texten, die dem Zeitgeist entsprechen mochten, den Autor aber doch von der Praxis abhalten mussten. Was mochten sie sich gedacht haben, als Rathenau 1911 von den »Schatten« schrieb, die er sah, wohin er sich wendete? »Ich sehe sie, wenn ich abends durch die gellenden Straßen Berlins gehe; wenn ich die Insolenz unseres wahnsinnig gewordenen Reichtums erblicke, wenn ich die Nichtigkeit kraftstrotzender Worte vernehme (…) Eine Zeit ist nicht deshalb sorglos, weil der Leutnant strahlt und der Attaché voll Hoffnung ist. Seit Jahrzehnten hat Deutschland keine ernstere Periode durchlebt als diese (…).«23 Auf der anderen Seite akzeptierten seine Freunde aus der Kunstszene ihn nie vorbehaltlos als einen der ihren. Konnte der Vorstand einer Großbank und Erbe eines Industrieimperiums, der sich nie nach der Decke gestreckt und sein Brot nie mit Tränen gegessen hatte, wirklich bedeutende Texte zu Kunst und Philosophie schreiben? In seiner Doppelexistenz fehlte Rathenau am Ende in beiden Ställen der passende Geruch. Es blieb, in Lothar Galls Worten, »ein tiefes Misstrauen gegenüber der Person, die nicht recht einzuordnen, zu etikettieren war und die ihrerseits, bei aller äußeren intellektuellen Brillanz, die ihr die Mehrheit zugestand, in der Unsicherheit des Außenseiters verharrte«.24 In beiden Welten blieb er bestenfalls geachtet und oft nur geduldet.

Vielleicht hätte er es mit einer weniger komplizierten Persönlichkeit einfacher gehabt. Sein elitärer Habitus schaffte auch zu Freunden eine Distanz, die ihn zu einem Rätsel machte. »Er stand mir nahe, da wir sehr offen Alles miteinander besprachen und so viele gemeinsame Erlebnisse uns verbanden«, schrieb Max M. Warburg am Tag des Attentats, dem Rathenau im Sommer 1922 zum Opfer fiel, »aber er blieb mir immer fremd in seiner Auffassung, weil er zu sehr auf die Außenwirkung hin arbeitete, zu eitel war und zu häufig seine Ansichten änderte; er hatte eine große Combinationsgabe, aber ein ganz Großer war er doch nicht, er hatte mehr Talente als Größe, er war nicht ehrlich bis zum Äußersten und gefiel sich im Verdunkeln der Geschehnisse, anstatt Klarheit zu erstreben; es war mir körperlich direct schmerzhaft, wenn er so docierte und pathetisch paradoxierte, wo Einfachheit namentlich in der Jetztzeit für uns alle allein erträglich ist.«25 Robert Musil, der Rathenau ausführlich in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften beschrieb, sah in ihm eine ziel- und wirkungslose Existenz, wie ein Faust ohne Mephisto, einen Menschen ohne festen Grund in Anschauungen oder Persönlichkeit, welcher sich rastlos für eine Moderne ereiferte, die ihm stets entglitt, weil sie sich am Ende immer anders manifestierte, als ein Mann ohne Eigenschaften es sich vorstellen konnte. Und dennoch nagte auch an seinen Kritikern stets der Zweifel, ob die Brillanz dieses Mannes nicht eine echte Substanz reflektierte, hatte er doch in Theorie und Praxis seine haushohe Überlegenheit gegenüber seinen einfacher strukturierten Zeitgenossen bewiesen.

1907 war Rathenau aus der Berliner Handels-Gesellschaft ausgeschieden und wurde Privatier. Er verfasste politische, ökonomische und literarisch-philosophische Schriften, engagierte sich in der deutschen Ostafrikapolitik und kaufte 1909 das Schloss Freienwalde nordöstlich von Berlin, das 1798/99 für Friederike Luise, die Witwe Friedrich Wilhelms II., erbaut worden war, um dort, in einem von Peter Joseph Lenné gestalteten Park, seinen Träumen nachzuhängen und Pläne zu schmieden. Diese exzentrische Figur liebte ihr preußisches Vaterland, wie es im friderizianischen Zeitalter seinen höchsten Ausdruck gefunden haben mochte. Vor dem Krieg sah Rathenau im alten Preußen ein ideales Staatsgebilde, in welchem die Krone und die Stände, die Künste und das Handwerk, das Militär und das Volk einen harmonischen Ausgleich gefunden hatten. Aber auch diese Verehrung war nie ohne Zweifel. So wenig er sich persönlich festlegen mochte, ob er Industrieller, Bankier oder Intellektueller war, so wenig konnte er sich in dem Konflikt zwischen dem altpreußisch-aristokratisch-ländlichen und dem bürgerlich-industriell-städtischen Lager entscheiden. Er gehörte allen Traditionen an, aber keiner mit Konsequenz. Niemand sprach ihm aber seine weltgewandte und kosmopolitische Erscheinung ab, vom Scheitel bis zur Sohle elegant.

Im Frühjahr 1914 war Rathenau 46 Jahre alt und hatte nahezu alles erreicht, wovon ehrgeizige Männer nur träumen können. Seine Existenz hatte eine traurige Note angenommen, denn er spürte, wie die meisten Männer in diesem schwierigen Alter, dass sich in seinem Leben nicht mehr viel Neues ergeben würde. Wonach noch streben, mit wem sich noch verbinden? Woher die Kraft für einen Aufbruch nehmen, wie das Falsche im Bequemen erkennen, warum Fesseln sprengen? Rathenaus Leben war auf höchstem Niveau langweilig geworden.

Alles Grübeln und Sinnieren fand im Sommer 1914 ein Ende. Rathenau zeigte sich vom Kriegsbeginn zwar nicht eben begeistert, denn er ahnte, dass nicht ein kurzes, reinigendes Gewitter bevorstand, sondern ein langes, zähes Ringen. »Den Stolz des Opfers und der Kraft durfte ich teilen«, schrieb er in der Rückschau, »doch dieser Taumel erschien mir als ein Fest des Todes, als die Eingangssymphonie eines Verhängnisses, das ich dunkel und furchtbar, doch niemals jauchzend (…) geahnt hatte.«26 Wie fast das ganze bürgerliche Deutschland empfand er ein »Emporgerissensein, Pathos der Not, Schicksalsergriffenheit, Kraftgefühl und Opferbereitschaft«, das Ende eines bleiernen Zeitalters. Eine ganze Generation spürte eine Opfer- und Todesbereitschaft, »Befreiung aus einer Welt-Stagnation, (…) Zukunftsbegeisterung«.27 Die drohende Langeweile verflog mit einem Schlag für immer aus Rathenaus Leben. Seine rationale Seite mochte den Anlass für den Krieg für nicht eben überzeugend halten, und der Lärm und der Rausch erschienen ihm würdelos. Aber sein Patriotismus gebot es ihm, sich ganz der deutschen Kriegsanstrengung zur Verfügung zu stellen und im selben Zug seine Midlife-Crisis zu beenden. Also schrieb er seinen Brief an den Reichskanzler.

So wollten es die Umstände, dass mit Rathenau ein Mann zur Verfügung stand, wie ihn die Militärführung sich kaum besser wünschen konnte. Denn die sofortige und grenzenlose Bereitstellung der Finanzmittel war nur das eine. Sehr viel anspruchsvoller war die Aufgabe, die Mittel in die richtige Richtung zu leiten und ihre Verwendung zu organisieren. Die Wirtschaft musste auf Kriegsproduktion umgestellt werden. In normalen Zeiten sorgt der freie Markt dafür, dass die richtigen Güter in der richtigen Menge hergestellt werden, aber in einer solchen Situation dauerte der Preisfindungsprozess zu lange, und der Staat wollte und konnte nicht in Konkurrenz mit der privaten Nachfrage treten. Etwa wollte er die Reichsbahn für sich allein nutzen und dabei nicht erst die Reisenden auf dem Weg in die Sommerfrische überbieten müssen. Die Gesetze des Marktes mussten also zu einem guten Teil außer Kraft gesetzt werden. Dazu bedurfte es der Erfahrung in der Planung großer Betriebe, Sinn für Organisation und einen intelligenten Blick auf die Gesamtsituation – Talente, die sich selten in einer Person verbinden, mit denen Rathenau aber reich gesegnet war.

Als Jude, Bankier, Kaufmann und Zivilist war er zu dieser Zeit und im Kriegsministerium ein absoluter Fremdkörper. »Für die Oberkaste der Adligen, Offiziere und Höflinge, zu der er nun einmal nicht gehörte, war er ein ›Koofmich‹.«28 Er war aber wohl Snob genug, um sein Umfeld zu ignorieren und seiner Tätigkeit mit rücksichtsloser Effizienz nachzugehen. Er hatte die Macht und (unausgesprochen und unbeabsichtigt) die Aufgabe, Staat und Wirtschaft grundsätzlich neu zu gestalten. Privilegien und Gewohnheitsrechte spielten, angesichts des alles überragenden Ziels, alle Ressourcen des Landes auf den Sieg hin zu konzentrieren, auf einmal keine Rolle mehr. »Eine Aufgabe also«, schrieb Golo Mann, »die seinem doppelten Ingenium wie keine andere entsprach. Hier durfte er zum ersten Mal ganz zeigen, was er konnte, nicht im Interesse dieses oder jenes Unternehmens, viel weniger im eigenen, sondern im Interesse des Staates, an den er leidenschaftlich glaubte, der Nation, der er sich zugehörig fühlte.«29 Rathenau war selten so vollkommen in seinem Element wie zu Anfang des Krieges.

Im Dezember 1915 schilderte er vor kleinem Publikum, noch spürbar erfüllt von seiner Leistung, wie er in rasender Geschwindigkeit eine mächtige Behörde aus dem Nichts geschaffen hatte, die die ganze deutsche Wirtschaft auf den Krieg ausrichtete. In der Kriegsrohstoff-Abteilung experimentierte Rathenau mit einem dritten Weg zwischen Plan- und Marktwirtschaft und etablierte eine Art Wirtschaftsregierung durch Experten, die keiner Ideologie verpflichtet waren. Er setzte auf nationaler Ebene Ideen um, mit denen er als großer Mitspieler im Elektro-Industrie-Kartell in anderer Weise schon lange vertraut war. »Es ist ein wirtschaftliches Geschehnis, das eng an die Methoden des Sozialismus oder Kommunismus streift, und dennoch nicht in dem Sinne, wie radikale Theorien es vorausgesagt und gefordert haben.«30 Beispielsweise bediente er sich des Mittels der Beschlagnahme. »Dieser Begriff der Beschlagnahme bedeutet nicht, dass eine Ware in Staatseigentum übergeht, sondern nur, dass ihr eine Beschränkung anhaftet (…). Diese Ware darf nur noch für Kriegszwecke verwendet werden.« »Der Güterverkehr gehorchte nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte, sondern war zwangsläufig geworden.« Nichts durfte mehr verlorengehen, das Land konnte sich keinen Luxus und keine Verschwendung mehr leisten. Rathenau gründete »Kriegsgesellschaften«, Zwitterwesen aus Behörde und Unternehmen, die in ihren jeweiligen Branchen den wirtschaftlichen Kreislauf bis ins Detail kontrollierten. »Ihre Aufgabe ist es, den Zufluss der Rohstoffe in einer Hand zusammenzufassen und ihre Bewegung so zu leiten, dass jede Produktionsstätte nach Maßgabe ihrer behördlichen Aufträge zu festgesetzten Preisen und Bedingungen mit Material versorgt wird.« Unter Rathenaus sichtbarer Hand wurde die deutsche Wirtschaft zu einem einzigen gewaltigen Kartell umgebaut. An der Spitze dieser Konstruktion saßen aber nicht wie früher die Verbände, sondern wie ein wirtschaftlicher Generalstab die Kriegsrohstoff-Abteilung, die innerhalb weniger Monate zu einer der größten Behörden des Reichs heranwuchs. Der Organismus der Wirtschaft funktionierte nicht mehr nach dem Prinzip der freien Selbstorganisation, sondern wurde durch ein zentrales planendes Nervensystem gesteuert. Der Erfolg war beträchtlich: Deutschland gelang es, seinem Belagerungszustand zum Trotz, sich weitgehend selbst mit allen wesentlichen Gütern zu versorgen, die es bislang an den internationalen Märkten bezogen hatte.

Unter dem Stichwort »Zwangswirtschaft« ergriff Rathenaus Behörde eine Vielzahl von Maßnahmen. Etwa wurde eine Kriegsgetreidegesellschaft gegründet, welche die gesamte heimische Getreideproduktion und den -import kontrollierte. Das Kriegsernährungsamt war dafür zuständig, die Nahrungsmittel gleichmäßig und insbesondere an die Soldaten, Schwerstarbeiter und Stadtbevölkerung zu verteilen. Bald war eine unüberschaubare Zahl von Ämtern damit beschäftigt, den »richtigen« Preis für die lebensnotwendigen Waren festzusetzen. Aber welcher Preis ist schon richtig? Insbesondere in den Augen der Städter waren das Angebot und die Preise bestenfalls ein Witz. Ihr Zorn richtete sich aber nicht auf die staatlichen Stellen, sondern auf die Einzelhändler, denen sie vorwarfen, die Situation auszunutzen, indem sie knappe Waren in der Hoffnung auf höhere Preise zurückhielten. Im Juli 1915 wurde daher eine Preistreibereiverordnung erlassen, wonach niemand im Kriege eine höhere Gewinnspanne verlangen durfte als zu Friedenszeiten. Um die Richtigkeit der Preise vor dem Gesetz zu gewährleisten, wurden Preisprüfungsstellen dekretiert, die der Volkswirtschaftlichen Abteilung des Kriegsernährungsamts unterstellt waren und auf Kreisebene nicht nur kontrollieren, sondern auch die konsumierende Bevölkerung mit nützlichen Informationen versorgen sollten. Es gab Versuche, den »Kettenhandel« zu verbieten, also Zwischenhändler, Makler und Vermittler aus dem Markt zu verdrängen. Deutschland, das Land der Planer und Organisatoren, entschied sich im Krieg für eine weitgehend gelenkte Wirtschaft.

Unter den Bedingungen der Planwirtschaft wird meist der Mangel, den sie eigentlich beheben sollte, ungewollt verstärkt. Bei dem Bestreben, der Bevölkerung etwas Gutes zu tun und sie hoffentlich auch ruhigzustellen, werden die Preise regelmäßig zu niedrig festgesetzt. Die Konsumenten sind dadurch versucht, mehr zu kaufen, als sie benötigen, während die Produzenten angesichts dieser Hamsterei keinen Anreiz verspüren, mehr als das Nötigste herzustellen, wenn sie den Betrieb nicht sogar ganz einstellen oder ihre Ware an das Ausland verkaufen. Ausländische Produzenten werden ohnehin nicht mehr liefern und somit die Ware noch weiter verknappen. Die Festsetzung eines Preises allein löst nicht das Problem, gesuchte Güter erschwinglich zu machen. Um die Mangelerscheinungen in einer Wirtschaft mit staatlich gedeckelten Preisen zu beseitigen, müssen die Behörden also auch dafür sorgen, dass hinreichend Güter auf den Markt kommen. Die Erfolge der Zwangswirtschaft waren in dieser Hinsicht aber erwartbar gering. Es kam bald zu Versorgungsengpässen, die zu unschönen Szenen führten. So bemerkten in Leipzig im Mai 1916 vor einem Buttergeschäft wartende Frauen und Kinder, dass in dem Geschäft bereits Kundschaft bedient wurde, welche offensichtlich durch den Hintereingang Einlass gefunden hatte. Erregt klopften die Wartenden an das Schaufenster, und es dauerte nicht lange, bis auch Steine flogen. Es kam zum Tumult, die Polizei musste einschreiten. In anderen Teilen der Stadt meinten die Hausfrauen ähnliche Zustände bemerkt zu haben, und am Ende dauerte es drei lange Tage, bis das Feuer des Aufruhrs schließlich erstickt war.31

Das Vereinigte Königreich ging einen anderen Weg. Die Briten hielten schon lange den Markt für das ordnende Genie, das aus den unzähligen, mehr oder weniger wohlinformierten Entscheidungen der einzelnen Bürger, Unternehmen und Staatsorganen entsteht. War England in den Augen von Adam Smith, Napoleon und einer Reihe anderer kompetenter Beobachter eine nation of shopkeepers, so wollte Deutschland als das Land der Ingenieure glänzen, dessen Planer in den Komitees dank ihres Vorsprungs an Wissen und Erfahrung die besseren Entscheidungen trafen. Großbritannien entschied sich auch und gerade in dieser unsicheren Zeit dagegen, die Produktion staatlich zu organisieren. Vielmehr subventionierte der Staat die Unternehmer und kaufte, wenn die Preissteigerungen unerträglich wurden, hinreichend viele dieser knappen Güter auf, um sie dann zu einem Preis seiner Wahl an die Bevölkerung weiterzugeben. (Das Geld holte er sich über eine Kriegsgewinnsteuer wieder zurück.) Damit ging er bewusst das Risiko ein, zu viel für diese Waren zu zahlen, sind die Kaufleute doch am patriotischsten ihrer eigenen Geldbörse gegenüber. Aber die Preissignale, welche man als den Tastsinn der »Unsichtbaren Hand« in der Marktwirtschaft bezeichnen könnte, blieben erhalten. In Deutschland bedeutete deren Abwesenheit erhebliche Verzerrungen bei Konsum und Produktion, welche die Planer bald an ihre Grenzen brachten.

In Deutschland wusste man genau, was von den Briten zu halten war. 1915 erscheinen unter dem Titel Händler und Helden einige patriotische Besinnungen von Werner Sombart, einem prominenten und publizistisch aktiven Professor für Staatswissenschaften (später Volkswirtschaftslehre genannt). Darin überhöht er den Ersten Weltkrieg zu einem »Glaubenskrieg« zwischen »händlerischer und heldischer Weltanschauung und dementsprechender Kultur«.32 Die Engländer seien ein Händlervolk, das »an das Leben mit der Frage herantritt: was kannst du Leben mir geben; die also das ganze Dasein des einzelnen auf Erden als eine Summe von Handelsgeschäften ansieht (…)«. (14) Dort könne man durch »Handelstätigkeit zu Ehre und Ansehen gelangen«, was für die Gesellschaft zur Folge habe, dass sich »händlerische Weltanschauung und praktischer Kommerzialismus schließlich zu einer gar nicht mehr zu trennenden Einheit zusammenfügen«. (14) Zu beobachten sei ein »Kommerzialisierungsprozeß der gesamten englischen Kultur«, durch alle Schichten hindurch. »Kaum eines der heute lebenden Adelsgeschlechter Englands ist feudalen Ursprungs. So gut wie alle sind aus dem Kontor hervorgegangen.« (15) Selbst die englischen Philosophen seien sich nicht zu schade, sich auch wirtschaftlichen Themen zu widmen. »Platt und hausbacken fürwahr ist alle echt englische Ethik, (…) Und jeder Gedanke aus händlerischem Geist geboren« (18f.), wie man es dem Utilitarismus der Engländer in jeder Zeile anmerke. Krieg könne für ein Händlervolk »immer nur die Bedeutung haben, daß er materielle Interessen schützt oder verteidigt, (…) die Interessen der Kapitalbesitzer im Auslande«. (40) Darin unterscheide der Engländer sich nur oberflächlich vom Seeräuber. Dazu passend hätten die Engländer den Sport als Ersatz für den Krieg entwickelt, könne diesen doch der Händler »nimmermehr begreifen«. (48) Während die Händlerseele niemals »geistigen Kulturwert« hervorbringen könne, sei das »deutsche Heldentum« von ganz anderem Schlage. Deutsche Philosophen redeten von Pflicht, nicht von Glück. Der Held »will sich verschwenden, will sich opfern – ohne Gegengabe«. (64) Die Tugenden des Helden seien die entgegengesetzten des Händlers: »Opfermut, Treue, Arglosigkeit, Ehrfurcht, Tapferkeit, Frömmigkeit, Gehorsam, Güte.« (65).

Sombart formuliert eine Haltung, die bis heute in Deutschland nachhallt. Die Verachtung gegenüber der angeblich oder tatsächlich kommerzialisierten Gesellschaft der Angelsachsen und das damit verbundene Gefühl der moralischen Überlegenheit wird heute diskreter ausgedrückt, aber es gehört keine große Sensibilität dazu, um sie in vielen deutschen Gesprächen und Medien zu spüren.33

Dieser verbreitete Geist der Geringschätzung wirtschaftlichen Denkens ließ nichts Gutes für die Haushaltsführung im Krieg ahnen. Die Deutschen waren ein agrarisch geprägtes Volk, das insgesamt wenig von Geld und Schulden verstand. Während die Briten, die nach wie vor Zugang zu den internationalen Kapitalmärkten hatten, auch im Krieg auf einen einigermaßen verantwortungsvollen Umgang mit Geld achteten, übten die deutschen Finanzpolitiker, die allein auf die finanziellen Ressourcen des eigenen Landes angewiesen waren, bedingungslosen Hurrapatriotismus, setzten heroisch auf Sieg und verzichteten auf die unsichtbare Hand und überhörten die warnende Stimme des Marktes.

Der schwere Daumen des Staates sorgte dafür, dass die Preise unter dem Regime der Zwangswirtschaft kaum stiegen, obwohl die Hausfrauen immer öfter vor leeren Regalen standen. Dies war zum Teil der alliierten Seeblockade zuzurechnen und galt insbesondere für alltägliche Luxusgüter wie Tee, Kaffee, Zucker, Schokolade oder geschnittenen Tabak. Der Einsatz von immer mehr Arbeitern an der Front und die ausbleibenden Investitionen in Maschinen, die nicht unmittelbar kriegswichtig waren, ließen aber auch die Quantität und Qualität der heimischen Produktion mit den Jahren zusehends abnehmen – und dabei ging es bald nicht um Überflüssiges, sondern um das Eingemachte.

Die Nachfrage nach den immer knapperen Gütern war also hoch und die Bevölkerung insgesamt, dank der regen Tätigkeit der Darlehenskassen, liquide. Wenn in den offiziellen Statistiken sich dennoch wenig von einer Inflation zeigte, so lag dies an der mittlerweile prominenten Rolle des Schwarzmarktes, jenes ungeliebten Zwillingsgeschwisters der Zwangswirtschaft. Insbesondere die Bauern erwiesen sich immer wieder als unpatriotisch und schlau und führten einen Teil ihrer Ernte den dunklen Kanälen der Wirtschaft zu. Sie gaben die mehligen Äpfel an die offiziellen Märkte ab und verkauften die guten unter der Hand zu stetig höheren Preisen. Der bessere Teil der Ernte ließ sich immer abzweigen und an illegale Zwischenhändler, die Schieber, weiterverkaufen, die ihre gute, aber unrechtmäßige Ware mit großem Gewinn in den Städten teurer und immer teurer veräußerten. Die Preiskontrollen waren zwar effizient, aber der Preisauftrieb war trotzdem da, auch wenn er sich nur in den dunkleren Gassen und Hinterhöfen manifestierte. Wie eine Wühlmaus im Wurzelwerk eines Baumes nagte die unterdrückte Inflation unsichtbar weiter und richtete einen Schaden an, der erst sehr viel später offiziell sichtbar werden würde. Die Kombination aus Planwirtschaft und unbegrenzt verfügbarem Geld erwies sich im Ersten Weltkrieg jedenfalls als unheilige Allianz.

Das Leben in Deutschland wurde nicht nur teuer, sondern auch schäbig und lückenhaft. Durch den Mangel wurden die Sachgüter ebenso abgenutzt wie die Moral, was sich in der Neigung zum Diebstahl bei den Armen und zur plumpen Prasserei bei den neureichen Kriegsgewinnlern zeigte. Je länger er sich hinzog, desto offensichtlicher wurde es, dass die deutsche Wirtschaftskraft nicht für einen großen Krieg ausgelegt war. In der Geschichte war Inflation oft die Konsequenz aus langen, zehrenden Kämpfen – das wusste man spätestens seit der Geldverschlechterung im Rom des 2. und 3. Jahrhunderts n. Chr. Das Phänomen wiederholte sich im Ersten Weltkrieg, vor aller Augen. Dennoch machte sich Rathenau, wie die ganze deutsche Elite, keine Gedanken über das Thema, zu fern schien es, zu unwahrscheinlich, vielleicht auch zu unwichtig.

In einer Planwirtschaft sind die Abläufe selten so effizient, wie die Planer sich vorstellen. Die Dinge werden oft nicht in der richtigen Menge oder der richtigen Qualität hergestellt, was die Ressourcen stärker strapaziert als nötig. Die heute – neben der Quantitätstheorie und der Fiskalischen Theorie der Inflation – in Umlauf befindliche neukeynesianische Theorie der Inflation untersucht unter anderem die Effekte, die sich ergeben, wenn der Wettbewerb nicht reibungslos funktioniert, weil der Markt versagt oder Löhne und Preise starr sind und sich neuen Marktlagen nicht flexibel anpassen. Die Neukeynesianer sehen den Zusammenhang zwischen Löhnen (die normalerweise nur nach oben flexibel sind) und Inflationsrate in der sogenannten Phillipskurve. Niedrige Arbeitslosenzahlen gehen mit hohen Inflationsraten einher (denn die Arbeitnehmer können höhere Löhne fordern) und umgekehrt. Aber auch diese Theorie hat es, wie die anderen auch, nicht leicht gehabt. In den 1970er Jahren kam es zu einer Stagflation (so der Name für die Koinzidenz von hoher Inflationsrate bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit), die mit der Phillipskurve im Widerspruch zu stehen schien. Und seit der Jahrtausendwende ist die Kurve flach geworden, so flach, dass man heute darüber spekuliert, ob der Zusammenhang überhaupt noch besteht.

Rathenau begriff dank seiner Tätigkeit in der Kriegsrohstoff-Abteilung relativ bald, dass dieser Krieg kaum einen Stein auf dem anderen lassen würde. Und er ahnte, dass die Konsequenzen weit über den militärischen Bereich hinausgehen sollten. Nach nur acht Monaten zog er sich von der Aufgabe als oberster Wirtschaftsdirektor des Landes zurück und begab sich wieder in seinen Wartestand, halb literarischer Privatier, halb politökonomisches Tier. Er spürte, wie die alte Ordnung sich auflöste und dass es in dieser Situation dankbarer war, die Beobachterrolle einzunehmen als ein Amt innezuhaben. Spätestens mit dem Kriegseintritt der USA 1917 sah er, dass die Träume vom Sieg- und Annexionsfrieden längst nicht mehr der Wirklichkeit entsprachen, und seine Stimmung wurde zunehmend pessimistisch. Weder das Kaisertum, so viel war ihm klar, noch die deutsche Vormachtstellung in Europa würden die sich abzeichnende Niederlage überleben.

Sein System von Preiskontrollen, Rationierungen und staatlicher Verteilung löste sich allerdings nach Kriegsende nur langsam auf und blieb teilweise durch die ganze Inflationszeit hindurch bestehen. Bürokratien sind zählebig.

22Zit. nach Schölzel: Walther Rathenau, S. 175.

23Zit. nach G. Mann: Walther Rathenau, Praktiker und Philosoph, S. 10.

24Gall: Walther Rathenau – Portrait einer Epoche, S. 157.

25Zit. nach Schölzel: Walther Rathenau, S. 372f.

26Rathenau: Von kommenden Dingen, S. 220.

27Th. Mann: Doktor Faustus, S. 436.

28H. Fürstenberg: Erinnerungen, S. 105.

29G. Mann: Walther Rathenau, Praktiker und Philosoph, S. 12.

30Dieses und die folgenden Zitate finden sich bei Walther Rathenau: Die Organisation der Rohstoffversorgung. Vortrag, gehalten am 20. 12. 1915 vor der Deutschen Gesellschaft.

31Feldman: The Great Disorder, S. 63.

32Sombart: Händler und Helden, S. 4. Die Seitenangaben im folgenden Absatz beziehen sich ebenfalls auf diesen Text.

33Vgl. Diner: Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments.

Die große Inflation

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