Читать книгу Die große Inflation - Georg von Wallwitz - Страница 6

Einleitung

Оглавление

Mit einer Leichtigkeit wie nie zuvor und nie danach wurden in der Inflationszeit gewaltige Vermögen gemacht und wieder verloren. Aus den Ruinen des protestantisch-sittsamen Kaiserreichs tastete sich eine finanziell, moralisch und politisch unsichere Gesellschaft hervor, in der die Schieber, Spekulanten, Raffkes und Kriegsgewinnler das große Los gezogen zu haben schienen (und es jedem und jederzeit zu zeigen bereit waren), während die große Masse derer, die weder gewitzt noch wendig waren, nicht mehr wussten, wie sie sich und ihre Familien ernähren sollten, nachdem sie das Tafelsilber und das vorletzte Hemd versetzt hatten. In den Großstädten tummelte sich eine amüsierwillige Jugend, die eben dem Krieg entronnen war, die gegen jede Erwartung ein Leben hatte und es auskosten wollte, als könnte sich der Umstand des Am-Leben-Seins doch noch als ein Irrtum erweisen. Die jungen Frauen tauschten Mieder und Reifrock gegen kurze, zu kurze Kleider, und die Veteranen, wenn sie nicht traumatisiert oder verkrüppelt waren, nahmen jede Einladung zum Tanz gerne an, als sei es ihr letzter. Das Geld verlor seinen Wert, was die einen dazu brachte, es möglichst schnell zu verjubeln oder zu investieren, während die anderen ihre Notgroschen, ihren Erbteil, ihren Lohn oder ihre Rente sich in Luft auflösen sahen. Während die windigen Schwarzmarkthändler ihr Glück zu fassen versuchten, wussten Beamte, Pastoren und die meisten anderen Stützen der Gesellschaft kaum, wie ihnen geschah. Die Umwälzung der Preisverhältnisse führte zur Umschichtung der Besitzverhältnisse und produzierte damit sozialen Sprengstoff erster Güte. Die politischen Extreme fanden immer mehr Zuspruch, und bürgerkriegsartige Gewalt erschütterte das Land in immer kürzeren Abständen. Es war eine Zeit und eine Gesellschaft ohne Halt, ohne Ziel, in der sich die meisten Menschen, enttäuscht vom Staat und den Eliten, bald nur noch um sich selbst drehten, gedankenlos den nächsten unberechenbaren Tag erwartend. So fasste es zu Anfang der 1950er Jahre einer zusammen, der die Vorgänge aus nächster Nähe beobachten konnte: »›Inflationszeit‹, das ist für alle, die sich noch daran erinnern: Hungerblockade, Ablieferung von Sachwerten an fremde Mächte, politische Rechtlosigkeit. Umschichtung der Bevölkerung, Aufstieg dunkler Gestalten zu plötzlichem Reichtum. Substanzverlust der bisher vermögenden Klassen, Verarmung der groß-, mittel- und kleinbürgerlichen Schichten. Korruption in Regierungsund Beamtenkreisen, politische Geschäftemacherei zwischen den Parteien, der Wehrmacht und den Ministerien. Wachsende Kindersterblichkeit, wachsende Kriminalität, rachitische Verkrüppelung der Jungen, früher Tod der Alten.«1

Dies ungefähr ist das Bild, das bis heute das kollektive Gedächtnis der Deutschen prägt. Daran ist vieles richtig, insbesondere die Anekdoten von der guten Stimmung in den Varietés und den Millionenbeträgen, die für eine Straßenbahnfahrt aufgewendet werden mussten. Aber viele Vorstellungen von der Inflationszeit, die heute weit verbreitet sind, haben wenig mit der historischen Wahrheit zu tun. In der Inflationszeit herrschte fast immer Vollbeschäftigung, und die Nationalsozialisten blieben eine Randerscheinung (bei der Reichstagswahl am Ende der Inflationszeit im Mai 1924 erhielten sie 6,5 % der Stimmen). Da insbesondere das Besitzbürgertum sein Geldvermögen verlor, war die Inflationszeit eine Phase abnehmender Ungleichheit. Die tatsächlich geleisteten Reparationszahlungen nach dem Ersten Weltkrieg sind kaum unter die Hauptursachen der Inflation zu zählen. Viele der gängigen Vorstellungen von der Inflationszeit 1914–1923 verschwimmen mit denen von der Weltwirtschaftskrise nach dem Schwarzen Freitag 1929, als es zu einer Deflation kam, die zu Massenarbeitslosigkeit und dem Aufstieg Hitlers führte.

Das finanzielle Gedächtnis als Teil des kulturellen Gedächtnisses ist ein Erfahrungsschatz, der von Generation zu Generation weitergereicht wird. Familien, Regionen und Länder pflegen ihre eigene, über Generationen stabile Einstellung zu Geld und den passenden Umgang damit. In Deutschland ist der Referenzpunkt des finanziellen Gedächtnisses die Geldentwertung. Dabei scheint es diesem Phänomen zu ergehen wie dem geheimnisumwitterten Titelhelden in F. Scott Fitzgeralds 1925 erschienenem Roman The Great Gatsby, der weithin sichtbar ist und doch ein Mysterium bleibt. Viele reden über die Inflation, aber kaum einer versteht sie. Ihre Reputation scheint eine eingehendere Beschäftigung mit ihr zu verhindern.

Da Geld eine in alle Lebensbereiche hineinreichende Ordnungsfunktion hat, wirkt seine Zersetzung wie ein Krebsgeschwür in der Gesellschaft. Inflation bedeutet das Ende aller Planung und Hoffnung, sie reduziert den Zeithorizont auf den täglichen Überlebenskampf. Und wie ein Tumor breitet sie sich plötzlich an Stellen aus, wo niemand sie erwartet hätte. Die Furcht vor der Inflation ist wohlbegründet, denn sie bringt weit mehr mit sich als nur den Verlust des Geldes.

Um sie zu begreifen, muss man sie vielleicht erfahren haben, so wie Erfahrung des Hungers nicht durch gelegentliches Fasten zu machen ist. Von der Hand in den Mund zu leben ruft ein grimmiges Gefühl hervor. Und wer es einmal erfahren hat, der vergisst es nicht wieder. Der Verlust der Ersparnisse ist ein ebensolches existenzielles Erlebnis. Diese Erfahrung lässt sich nicht wieder abschütteln. Generationenlang.

Mit diesem festen, aber unreflektierten Haltepunkt sind die Deutschen ein Volk, das in seinen finanziellen Angelegenheiten eine Verunsicherung ausstrahlt, die kaum mit seinem Wohlstand unter einen Hut zu bringen ist. Ihr Umgang mit Schulden ist bis heute von großer Naivität gekennzeichnet.2 Sie pflegen eine Sparquote, deren Höhe nur mit einer verzweifelten Angst vor der Zukunft zu erklären ist. Als folgten sie dem Motto penny-wise and pound-foolish, ziehen sie, auch wenn sie es nicht müssen, in ihren Anlagen häufig grotesk niedrig verzinste Girokonten, Sparbücher, Bargeld unter der Matratze und Lebensversicherungen allen sinnvollen Alternativen vor. Sie suchen für ihre Zukunft – und insbesondere ihre finanzielle Zukunft – oft eine Sicherheit, die vollkommen unrealistisch ist. Die Erfahrung des finanziellen Totalverlusts sitzt tief.

Es gibt hinreichend Anlass, sich mit dem Thema Inflation über das tradierte Wissen hinaus zu beschäftigen. Wir leben zwar in einer Zeit zahmer Inflationszahlen. Die Kerninflationsrate bleibt seit Jahren allzu weit unter dem erklärten Ziel der Zentralbanken von 2 %. Aber die Begleitumstände der außerordentlichen Maßnahmen, die diese seit der großen Finanzkrise von 2008/09 eingeleitet und immer weiter verstärkt haben, assoziieren wir normalerweise mit Zeiten der Geldentwertung. Die Sparer können nicht mehr vom Zins leben, und oft genug müssen sie sogar negative Zinsen ertragen. Die Hausse an den Aktienmärkten ist an der Mittelschicht, aus der die klassischen Sparer nach wie vor stammen, weitgehend vorübergegangen. Weite Teile der Bevölkerung beschleicht ein finanzielles Panikgefühl: Egal wo ich meine Ersparnisse investiere, wahrscheinlich gehen sie zum Teufel. Wie in den frühen 1920er Jahren gibt es eine neue Klasse von Spekulanten, und wie damals wird das Abenteuer Finanzmarkt nicht für alle gut ausgehen. Es tut sich eine Schere auf zwischen den neuen Schichten der Gewinner der digitalen Revolution und den vielen Verlierern der Umwälzung. Das wiederum führt zu Ressentiment, politischer Polarisierung und Korruption. Das Vertrauen in das staatliche Geld schwindet: Deutlichstes Zeichen ist der Aufstieg von Bitcoin, Ethereum und Dogecoin, die manche Merkmale eines Notgeldes aufweisen.

Weiten Teilen der Bevölkerung ist tief im Herzen die Geldschöpfung aus dem Nichts durch Zentral- und Geschäftsbanken unheimlich geblieben. Wie kann eine Zentralbank, etwa in den Jahren der Finanz-, Euro- oder Coronakrise, einfach riesige Summen Geldes schaffen, denen keine Wirtschaftsgüter gegenüberstehen, die nicht Produkt von Arbeit, sondern eine reine Kopfgeburt sind? Wie sollen die Menschen nicht bald ihren Glauben an das Geld verlieren, wenn es nur eine Setzung ist, deren Grund ein juristischer und kein wirtschaftlicher ist? Warum sollten die Menschen eine solche Währung halten und nicht lieber Gold oder Bitcoin? Viele denken heute in Deutschland so. Und wer wollte es ihnen verübeln, nach der immerhin zwar einhundert Jahre zurückliegenden, aber dennoch traumatisch nachwirkenden Erfahrung der Hyperinflation?

Die Entwicklung zur Großen Inflation hat nur in der Rückschau die Notwendigkeit, die ihr gerne zugesprochen wird. Die Kombination von Staatsverschuldung, hohen Reparationsforderungen nach dem Ersten Weltkrieg, Staatsfinanzierung durch die Reichsbank (so der damalige Name der deutschen Zentralbank) und Ausweitung der Geldmenge, der Verlust des Vertrauens in den Staat und das Defizit in der Leistungsbilanz ergaben zwar ein toxisches Gemisch, aber es hätte lange Zeit auch anders kommen können. Die Gläubigerstaaten, insbesondere die Amerikaner, hätten erkennen können, dass viele ihrer Forderungen wertlos waren, die Deutschen hätten Kredit bekommen können, die finanzielle Reform in Deutschland hätte konsequenter verfolgt werden können. Inflation ist kein Schicksal, sie ist meistens nicht mehr als der monetäre Ausdruck politischer Entscheidungen. In diesem Falle folgte sie aus dem Konsens, die Inflation sei das beste Mittel, die Reparationsforderungen aus dem Versailler Vertrag ins Leere laufen zu lassen, den Staat zu entschulden und im Krieg verlorengegangene Exportmärkte so schnell wie möglich wieder zu besetzen.

Lord D’Abernon, der Botschafter des Vereinigten Königreichs in Berlin während der Inflationszeit, assoziierte die Hauptursachen der Inflation mit bestimmten Persönlichkeiten. Die Schuld an der fahrlässigen Finanzierung des Staatsdefizits durch die Notenbank schrieb er dem Reichsbankpräsidenten Havenstein zu, für die Zwietracht und das Klima der Missgunst machte er den zum Agitator gewandelten Ökonomen Karl Helfferich verantwortlich, das Interesse der deutschen Exportindustrie an einer schwachen Mark sah er in Hugo Stinnes, dem »König der Inflation«, verkörpert, und schließlich lastete er die merkwürdige Idee der Erfüllungspolitik, die Zahlungsunfähigkeit durch den Ruin der eigenen Währung zu demonstrieren, Walther Rathenau an, dem von ihm sonst hochgeschätzten Industriellen, Schriftsteller und Außenminister. Der bemerkenswerte Zufall, dass diese vier innerhalb kurzer Zeit vor dem Ende der Inflation starben – und nur einer von ihnen eines natürlichen Todes –, ist den Zeitgenossen nicht verborgen geblieben. D’Abernon behauptete später sogar, diese vier mussten sterben, um die Inflation wirksam zu beenden.

1Schacht: 76 Jahre meines Lebens, S. 206.

2Carl-Ludwig Holtfrerich: »Die Deutschen können nicht mit Schulden umgehen«. Interview in der Zeit vom 10.6.2021.

Die große Inflation

Подняться наверх