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Geld spielt keine Rolle

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Der Krieg liebt den Sieg und nicht die Dauer.

Sun Tzu

Die Redakteure von Brockhaus’ Conversations-Lexikon in der Jubiläums-Ausgabe von 1908, es handelte sich um die 14. Auflage, befanden den Begriff der Inflation keines eigenen Eintrags für würdig. Lediglich einen Satz hatte die Enzyklopädie übrig für die Partei der Inflationisten, die im fernen Amerika »eine möglichst große Vermehrung der auf Kredit beruhenden Umlaufsmittel verlangt, (…) welche den Geschäftsgang beleben, den verschuldeten Produzenten eine Erleichterung ihrer Last verschaffen und auch den Steuerzahlern bei der Verzinsung und Tilgung der Staatsschuld zu gute kommen würde«. Kein Wort über den Hintergrund der Debatte. Keine Erklärung, was Inflation ist, wie sie entsteht und was sie bedeutet. Die Deutschen waren nicht nur nicht auf eine Inflation vorbereitet, sie hatten kaum einen Namen dafür – weshalb sie diesem Phänomen gegenüber lange blind blieben. Im nationalen Gedankengut spielte die Geldentwertung keine, aber auch gar keine Rolle, und entsprechend begriffsstutzig reagierte das Land, als sie so plötzlich aus dem toten Winkel auftauchte.

Zu den wenigen, die einen klaren und deutlichen Begriff von der Inflation hatten, zählte Karl Helfferich, zu dieser Zeit einer der bekannteren Ökonomen und wichtigsten Geldtheoretiker Deutschlands. Das Schicksal wollte es, dass er 1915, im ersten vollen Kriegsjahr, für die Finanzen des Reichs verantwortlich zeichnete, als Staatssekretär im Reichsschatzamt – Finanzminister würden wir heute sagen. Er war kein geborener Politiker, und sein Lebensweg war so schief (und wurde bis zu seinem unschönen Ende 1924 immer schiefer), wie ihn nur Zeiten des Umbruchs hervorbringen können. Die entscheidenden Weichenstellungen zur Finanzierung des Krieges verantwortete damit ein ungewöhnlich intelligenter und kompetenter Mann, dem es nicht an Wissen mangelte, wohl aber an Weitsicht und, wie viele meinten, an Charakter.

Helfferich, 1872 geboren in eine national gesinnte Familie von Kleinindustriellen, war eine unscheinbare Gestalt, mit stets kurzgeschorenen Haaren, Schnauzbart und nach vorn gerecktem Hals. Wie es oft bei Gelehrten der Fall war, hatte das Bücherstudium seiner Wirbelsäule einen leichten Buckel eingeschrieben. In seiner Militärzeit als einjähriger Freiwilliger stürzte er vom Pferd, brach sich mehrere Rippen und verletzte sich so schwer an der Lunge, dass er für den Rest seines Lebens körperliche Anstrengungen möglichst vermeiden musste. Er sollte die Studierstube, die er nach seiner Genesung in Straßburg bezog, nur ausnahmsweise verlassen, so der ärztliche Rat, und darüber hinaus eine strenge Diät halten. Fortan widmete er sein Leben der Arbeit.

Nach seiner Promotion bei Georg Knapp, einem bedeutenden Geldtheoretiker, ging Helfferich nach Berlin, um dort seine Habilitationsschrift über die Währungsunion im Deutschen Reich und den Goldstandard vorzubereiten. Mit der Empfehlung seines Doktorvaters knüpfte er schnell ein Netzwerk, das ihn mit den wichtigsten Gestalten des politischen und wirtschaftlichen Establishments verband. Er war von konservativer Grundhaltung, aber dennoch fortschrittsgläubig wie ein Linkshegelianer, da er eine historische Notwendigkeit im Aufstieg Deutschlands zu erkennen glaubte. Um dieser Entwicklung willen akzeptierte er bereitwillig Gewalt als Teil des Kampfes der Nationen um ihre (imperiale) Stellung in der Welt. Allerdings ging er davon aus, dass die Kriege der Zukunft kurz und begrenzt sein würden, zu eng war die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit der Großmächte.

Helfferich entwickelte sich zu einem Sprachrohr der aufgeklärten Geschäftselite in Berlin. Man wurde aufmerksam auf den sprachgewandten, gelehrten und ambitionierten jungen Mann, der hervorragend in seine Zeit passte. Insbesondere eignete er sich als Publizist, denn er konnte schreiben, verstand etwas von der Sache und hatte wenig zu verlieren. Er hielt Vorlesungen an der Berliner Universität, gelegentlich auch in Hamburg und Kiel, zu geldtheoretischen Themen. Fleißig saß er tagtäglich von morgens um acht bis spät in den Abend hinein an seinem Schreibtisch und arbeitete an seinem Ruf, unterbrochen nur durch ein »Abendessen« in der Mitte des Nachmittags. Aus Rücksicht auf seine fragile Gesundheit rauchte er nicht, trank keinen Alkohol und aß nicht viel (er selbst behauptete, er stehe aus Zeitmangel niemals satt auf vom Tisch).

Ab 1902 durfte er sich zwar Professor der Staatswissenschaften nennen, realisierte aber gleichzeitig, dass das Gelehrtenleben nichts für ihn war. Er empfand sich nun als einen Mann der Tat, als Technokrat, der lieber im Staat aktiv war, als ihn bloß zu beschreiben. So ergriff er die Gelegenheit, in die Kolonialabteilung des Außenamts einzutreten, um sich dort um Währungsfragen zu kümmern. Er zeigte sich äußerst intelligent und engagiert und empfahl sich für höhere Aufgaben. Sein Aufstieg geriet allerdings kurzzeitig ins Stocken, als er die Aufmerksamkeit des württembergischen Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger erregte, dem Experten der Zentrumspartei für Kolonial- und Finanzpolitik, der es sich in dieser Zeit zur Hauptaufgabe gemacht hatte, die Missstände in den Überseegebieten scharf zu kritisieren.

Erzberger war ein junger Wilder in der Politik, der mitunter den Honoratioren der Zentrumspartei hemdsärmelig begegnete, dem lautes Auftreten nicht fremd war und der gerne mit gleicher Münze zurückzahlte, wenn er angegriffen wurde. Er war in der katholischen Arbeiter- und Sozialbewegung Württembergs groß geworden, nahm aber auch gerne ein Aufsichtsratsmandat bei Thyssen an. Er verstand es, mit der öffentlichen Meinung zu spielen, ein Medienprofi, der seinen erlernten Beruf als Journalist noch als Reichstagsabgeordneter ausübte. Seine Redekunst und Umtriebigkeit verhalfen ihm früh zu großer Bekanntheit, machten ihm aber auch viele Feinde in den Regierungsetagen Berlins. Er war ein ausnehmend talentierter Politiker, nicht ohne Interessenkonflikte, mit großer Angriffsfläche, der sich vermutlich nicht viel dabei dachte, als er sich Helfferich zum Feind machte.

Erzbergers Enthüllungen über Korruption, Vetternwirtschaft und Ausbeutung in den deutschen Kolonien führten dazu, dass Helfferich 1906 seinen Posten räumen musste. Als Entschädigung für dieses Bauernopfer erhielt dieser trotz seiner Jugend für seine Verdienste den Kronen-Orden (2. Klasse). Als im selben Jahr der Posten des zweiten Direktors der Anatolischen Eisenbahn frei wurde, ergriff Helfferich die Gelegenheit, seine Sporen an einem der bedeutsamsten Berührungspunkte zwischen Wirtschaft und Politik in dieser Zeit zu verdienen. Die Bahn war ein Tochterunternehmen der Deutschen Bank und Teil des großen Projekts einer Bagdadbahn, mit welcher Deutschland die Seeherrschaft Großbritanniens auszuhebeln suchte. Eine schnelle und zuverlässige Landverbindung zu den rohstoffreichen Gegenden im Mittleren Osten und zu einem Hafen am Persischen Golf war der große Preis der Außenpolitik, da so ein von Deutschland kontrollierter Handelsweg zum indischen Subkontinent erschlossen würde. Helfferich bewegte sich geschickt durch das politische Minenfeld, zu dem der Aufbau einer deutschen Infrastruktur im Osmanischen Reich unweigerlich werden musste. Es gelang ihm, die osmanische Regierung davon zu überzeugen, Franzosen und Engländer hätten imperiale Gelüste und wollten politischen Einfluss im Osmanischen Reich gewinnen, während Deutschland vorgeben konnte, rein kommerzielle Interessen zu verfolgen. Auch die 1908 an die Macht gelangten »Jungtürken« konnte Helfferich in diesem Sinne beeinflussen. Es sprach für sein diplomatisches Geschick, dass er mit diesem Argument Glauben fand. Der Bau der Bagdadbahn gehörte zu den wenigen diplomatischen Erfolgen des Wilhelminischen Deutschland in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg.7 Diese Aufgabe löste er zur größten Zufriedenheit seiner Förderer. 1908 wurde er, im Alter von nur 36 Jahren, Vorstand bei der Deutschen Bank.

Das eröffnete ihm den Zugang zu den höchsten Kreisen in Berlin, bis hinauf zum Kaiser, mit dem er bald ein besonders gutes Verhältnis pflegte. Nichts befeuert den Ehrgeizigen so sehr wie der Erfolg. Helfferichs Ambitionen richteten sich nun immer stärker auf die Politik. Er verfasste 1913, zum silbernen Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II., eine Schrift über Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913, eine Lobrede auf das tatsächlich beeindruckende Wachstum in beinahe allen wirtschaftlichen Belangen. Mit Stolz stellte er fest, dass das Nationaleinkommen sich durch den Fleiß der Deutschen seit 1896 verdoppelt hatte und nunmehr größer war als die Wirtschaftsleistung in Frankreich, das sich zu sehr auf seinem hergebrachten Reichtum ausruhte (»Frankreich ist das Land der Rente, Deutschland das Land der Arbeit.«). Er hob hervor, dass Deutschland mehr Eisen und Stahl produzierte als England, sah aber auch, dass die USA in dieser Hinsicht »auf Grund ihrer gewaltigen Vorkommen allen anderen Ländern weit voraus«8 waren. Den Kaiser freute diese Betrachtung, die zweifellos auch als eine Bewerbung für noch höhere Ämter zu lesen war.

Helfferich war bei Ausbruch des Krieges noch immer nicht alt, 42 Jahre, aber was für eine Karriere! Er trug den Professorentitel, war ein angesehener Ökonom, erfolgreicher Diplomat und Vorstand der Deutschen Bank. Im politischökonomischen Establishment Berlins war er zu einer festen Größe gereift, sein Wort hatte Gewicht und seine finanziellen Möglichkeiten suchten ihresgleichen. Er strahlte Energie und Tatendrang aus und verstand es, sich auch in großen Bürokratien durchzusetzen. Und er glaubte an die historische Mission Deutschlands und seiner Monarchie, an die kulturelle, wirtschaftliche, institutionelle und moralische Überlegenheit seines Vaterlandes.9

Helfferichs Berufung zum Finanzstaatssekretär wurde dennoch als Überraschung empfunden. Die Aufgabe war kolossal: Ein Jahr nach Kriegsbeginn, als er seinen Haushalt für das Jahr 1916 vorlegte, war es längst klar, dass dieser Konflikt nicht mit den kurzen und weitgehend schmerzlosen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts vergleichbar war. Er würde lange dauern und die Kosten an Menschen und Material immens sein. In seinem Amt schloss Helfferich sich der allgemeinen Auffassung an, dass am Ende des Krieges Deutschland den Verlierern eine gewaltige Rechnung präsentieren würde. Daher legte er ein äußerlich konventionelles Budget vor, in welchem die üblichen Einnahmen und Ausgaben, wie es sie auch in Friedenszeiten gegeben hätte, ausgeglichen waren. Die Kosten des Krieges wurden in einem Sonderhaushalt verbucht, als dessen wesentliche Einnahme die Erlöse aus dem Verkauf von Kriegsanleihen ausgewiesen wurden. Außerordentliche Haushalte hatte es immer wieder gegeben. Prinzipiell waren darin enthaltene Ausgaben nur für Investitionen vorgesehen, die sich in der Vorstellungswelt der Haushaltspolitiker über die Zeit von selbst finanzierten. So sollte es auch mit dem Kriegshaushalt sein, in welchem man den Verlierern gewissermaßen Geld vorstreckte, das sie zurückzahlen würden, wenn man ihnen nach der Kapitulation die Rechnung präsentierte.

Der Posten eines Finanzministers war im Krieg nicht dazu geeignet, seinem Inhaber zu Ruhm und Ehre zu verhelfen. Helfferichs Lage war aber noch ein Stück unbequemer als die seiner europäischen Kollegen. Auf der einen Seite hatte er es mit Generälen zu tun, die sich stets vor dem entscheidenden Durchbruch wähnten und für ihre Männer das nötige Material forderten. Kein Land möchte einen Krieg verlieren, bloß weil an der falschen Stelle gespart wurde. Wer wollte sich mit buchhalterischen Kleinigkeiten aufhalten, wenn draußen die größten Schlachten der Menschheitsgeschichte tobten? Sein Ehrgeiz richtete sich also nicht darauf, als Sparkommissar in die Geschichte einzugehen. Einen Besuch bei der Obersten Heeresleitung nutzte Helfferich daher lediglich dazu, das bisherige Motto »Geld spielt keine Rolle« durch »Wer die Millionen nicht ehrt, ist der Milliarden nicht wert« zu ersetzen. Wer mit solchen launigen Sprüchen vor Hindenburg und Ludendorff auftrat, konnte allerdings nicht viel erwarten. Jedenfalls weder Respekt noch Sparsamkeit.

Auf der anderen Seite sah Helfferich sich mit einem Problem konfrontiert, welches aus der Konstruktion der Bismarck’schen Reichsverfassung resultierte: Die Länder verteidigten hartnäckig ihre Hoheit über die direkten Steuern vor dem Zugriff aus Berlin. Das Reich schulterte gewaltige Ausgaben für den Krieg, hatte aber kaum Zugriff auf die finanziellen Ressourcen des Landes. Es hätte einer großen Verfassungsreform bedurft, um dem Reich und den Ländern jeweils eigene Steuern zuzuweisen, damit sie unabhängig ihre Aufgaben erfüllen konnten. Dafür war nach Helfferichs Auffassung nun aber nicht die Zeit, und ohnehin gab es rühmlichere Aufgaben als die Reform der Finanzverfassung. Also standen den entgrenzten Ausgaben nur tröpfelnde Einnahmen gegenüber, und in Helfferichs Haushalt türmten sich die Schulden.

Das naheliegendste Mittel zur Eindämmung der Staatsschulden wäre die Erhöhung der Steuern, etwa auf Kriegsgewinne, gewesen – wie es in Großbritannien und wenig später in den USA geschah. Die Erlöse in den kriegswichtigen Industrien kletterten in erstaunliche Höhen und sorgten für erhebliche Unruhe in der Bevölkerung, die den Gürtel immer enger schnallen musste. Auf diesem Wege wären hohe Steuereinnahmen zu holen gewesen und die Arbeiterklasse, aus der die Mehrzahl der Soldaten in diesem Krieg stammte, hätte nicht das Gefühl haben müssen, die Lasten wären ungleich verteilt. Während die jungen Arbeiter und Bauern an der Front die größten Opfer brachten, machten sich die Industriellen und die Händler die Taschen voll – so lautete der verbreitete Verdacht. Helfferich entschied sich aber gegen Steuererhöhungen und für die Fiktion einer nur vorübergehenden Finanzierungslücke.

Am 20. August 1915 rechtfertigte er in einer emotionalen Rede im Reichstag seinen Kurs.

»Meine Herren, wie die Dinge liegen, bleibt also vorläufig nur der Weg, die endgültige Regelung der Kriegskosten durch das Mittel des Kredits auf die Zukunft zu schieben, auf den Friedensschluß und auf die Friedenszeit. Und dabei möchte ich auch heute wieder betonen: wenn Gott uns den Sieg verleiht und damit die Möglichkeit, den Frieden nach unseren Bedürfnissen und nach unseren Lebensnotwendigkeiten zu gestalten, dann wollen und dürfen wir neben allem anderen auch die Kostenfrage nicht vergessen;

(lebhafte Zustimmung)

das sind wir der Zukunft unseres Volkes schuldig.

(Sehr wahr!)

Die ganze künftige Lebenshaltung unseres Volkes muß, soweit es irgend möglich ist, von der ungeheuren Bürde befreit bleiben und entlastet werden, die der Krieg anwachsen läßt.

(Sehr wahr!)

Das Bleigewicht der Milliarden haben die Anstifter dieses Krieges verdient;

(sehr richtig!)

sie mögen es durch die Jahrzehnte schleppen, nicht wir.

(Sehr gut!)«10

Der Reichstag lauschte offensichtlich in bester Stimmung den Ausführungen des Finanzministers. Im Anschluss an diese Worte sinnierte Helfferich noch kurz darüber, ob die arg geschwächten Kriegsgegner angesichts ihrer »ungeheuren finanziellen Schwächung« überhaupt zu ausreichenden Entschädigungen in der Lage sein würden – aber diesem Gedanken hing er nicht weiter nach und wandte sich praktischen Überlegungen zu, wie die gegenwärtige Kreditaufnahme bewerkstelligt werden konnte.

Insgesamt wurde in Deutschland nicht viel über die Finanzierung des Krieges nachgedacht. Geld spielte in den Köpfen zu dieser Zeit tatsächlich keine Rolle. Helfferich glaubte, wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen, an einen kurz bevorstehenden Sieg. Und dennoch, er blieb der Minister, der für die fatale Entscheidung verantwortlich zeichnete, den Krieg über Schulden und nicht über Steuern zu finanzieren. 1915 konnte von einem schnellen Sieg (der die Voraussetzung für die Zahlungsfähigkeit der Verlierer war) nicht mehr die Rede sein und ein kluger Finanzminister hätte das Risiko erkennen müssen, zumindest auf den Schulden bei der eigenen Bevölkerung sitzen zu bleiben.

Indem Helfferich sich dafür entschied, den Krieg gegen den Rest der Welt auf dieselbe Weise zu finanzieren, wie Preußen im 19. Jahrhundert seine Kriege bezahlt hatte, handelte er auf eine Weise, wie man sie in Deutschland oft beobachten konnte. Der Pragmatismus der Engländer bestand in der Tradition des Empirismus darin, sich den Fakten, auch den neuen, zu stellen, ihre Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und daraus das Beste zu machen. Der Pragmatismus der Deutschen hingegen speiste sich, ganz im Sinne Hegels, aus den Lehren der Geschichte: Sie hielten an dem fest, was in der Vergangenheit funktioniert hatte.

Der Staatssekretär im Reichsschatzamt war wie kaum ein anderer darauf vorbereitet, die Gefahren der Inflation zu verstehen. Im Unterschied zum Brockhaus hatte er durchaus einen Begriff von diesem Phänomen. An historischer Bildung mangelte es ihm nicht, und er hatte seine akademische Karriere auf dem Thema Geld gegründet. Inflationen hatte es immer wieder gegeben, insbesondere in Kriegszeiten, und die letzte Hyperinflation lag nur gut hundert Jahre zurück, als die Revolution in Frankreich zwar das ancien régime verschlang, aber auf dessen Schulden und dem eigenen Versprechen besserer Lebensbedingungen für alle sitzen blieb. Allerdings waren seine Auffassungen über den Ursprung der Inflation alles andere als theoretisch gefestigt, gerade weil er sich als Anhänger der Historischen Schule nicht um Modellierungen und Abstraktionen bemüht hatte.

Helfferich war der Überzeugung, die Verschuldung sei unschädlich, solange die Reichsbank sich auf die Zwischenfinanzierung der Kredite beschränkte. Die eigentliche Finanzierung erfolgte durch große Kriegsanleihen, wodurch die Geldmenge nicht stieg, denn der Staat gab nur aus, was ansonsten seine Bürger ausgegeben hätten. Es jagte also nicht eine immer größere Geldsumme nach einer gleichbleibenden oder schrumpfenden Gütermenge. Und so gab es keinen Grund für inflationären Druck.

Dieses Argument ist aber brüchig, denn ein steigendes Kreditvolumen führt erfahrungsgemäß auch zu einem Anwachsen der Geldmenge. Den Krieg über Steuern zu finanzieren hätte einen anderen Effekt gehabt, denn die Abgaben, die der Bürger an den Fiskus leistet, sind für ihn tatsächlich verloren. Steckt er es hingegen in eine Anleihe, so ist er nicht ärmer geworden und kann das Geld immer noch ausgeben, etwa wenn er die Anleihe bei einer Bank als Sicherheit hinterlegt, um einen Kredit zu bekommen. Die Nachfrage nach Gütern wird durch Besteuerung also in ganz anderer Weise gebremst als durch die Begebung von Anleihen. Zudem übersah Helfferich, dass die Anleihe zum größten Teil von Industriellen und Großbürgern gezeichnet wurde. Deren Ersparnisse konnten kaum noch ins Ausland fließen und lagen nutzlos auf Bankkonten herum. Also lag es nahe, diese in Zinspapiere zu investieren. Damit floss im Wesentlichen Geld in die Kriegsanleihen, das ohnehin nicht für den Konsum vorgesehen war (und daher nicht für Preisdruck sorgte). Gleichzeitig stieg die Nachfrage durch den Staat enorm, insbesondere nach militärischen Gütern, die nicht schnell genug produziert werden konnten. Spiegelbildlich war im zivilen Bereich ein schrumpfendes Angebot zu verzeichnen, das eine etwa gleichbleibende Nachfrage durch eine Bevölkerung, die sich noch immer nicht arm fühlte, kaum befriedigen konnte. Das Resultat der Staatsverschuldung waren in diesem Kontext steigende Preise.

Wenige Wochen nach dem Ende des Krieges, als die Kritik am alten Regime möglich wurde, wiesen hellsichtige Kommentatoren auf diese Fehler bereits hin: »Das alte Regime hat diesen Krieg geführt wie ein verzweifeltes Hazardspiel, bei dem alles auf eine Karte gesetzt wurde (…). Auf Geld kam es nicht an, weder auf Preise noch auf Löhne. (…) Sinnlose Überpreise wurden bewilligt, um die Produktion anzuregen. Die hohen Preise zogen hohe Löhne nach sich und umgekehrt. Die bis zu einem gewissen Grade unvermeidliche Inflation nahm einen unheimlichen Umfang an.«11

Auch wenn Helfferich keine gute Erklärung dafür hatte, sank während des Krieges die Kaufkraft der Mark. Er selbst berechnete einen Inflationsindex, der im Jahr 1915 von 106 auf 142 stieg und bis Ende 1917 auf 189.12 Am Ende des Krieges hatten sich die Preise nur gut verdoppelt, was noch kein Katastrophengefühl auslöste, weder beim Volk noch beim Minister. Der entscheidende Grund für die moderate Entwicklung der Inflation war allerdings weniger Helfferichs Handhabung der Kriegsfinanzierung als vielmehr der Umstand, dass die Deutschen, solange sie keinen Begriff von Inflation hatten, auch keine erwarteten. Vielmehr horteten sie ihr Bargeld unter der Matratze oder auf dem Konto, wie es in unsicheren Zeiten ganz natürlich war. Die Geldbasis (Bargeld + Einlagen bei der Reichsbank), die ein guter Indikator für die Kassenbestände war, lag 1919 beim Dreifachen des Vorkriegsniveaus.13 Unter der Annahme stabiler Preise und der Rückkehr zum Goldstandard war das Auffüllen des Sparstrumpfes ein rationales Verhalten. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, eine der entscheidenden Zutaten für die Entstehung einer Inflation, blieb somit verhältnismäßig niedrig. Helfferich hatte als Finanzminister das Glück, dass mit den Inflationserwartungen und der Umlaufgeschwindigkeit zwei wesentliche Faktoren, die außerhalb seiner Einflusssphäre lagen, die Inflation vertagten.

Nach gut einem Jahr schied Helfferich am 9. November 1917, also genau ein Jahr vor Kriegsende, als angesehener Mann aus dem Amt und seine Karriere konnte weitergehen. Er stieg noch ein Stück weiter auf, wurde Vizekanzler. Aber 1917 war dieser Titel nicht mehr viel wert.

Heute gilt in Deutschland allgemein die Finanzierung von Haushaltsdefiziten durch die Zentralbank – mit einer entsprechenden Ausweitung der Geldmenge – als finanzieller Verrat an der arbeitenden und sparenden Bevölkerung. Allein das laute Darübernachdenken zöge auf der Stelle eine derart schlechte Presse nach sich, dass es das Karriereende eines jeden Politikers oder Bundesbankers bedeuten würde. Ist nicht die Entwicklung in Deutschland zwischen 1914 und 1923 nur das prominenteste Beispiel für den Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Inflation? Die ersten Jahre der Weimarer Republik und insbesondere die Staatsfinanzierung durch die Notenbank bleiben der Orientierungspunkt der Deutschen und ihrer Ökonomen, wenn es um Geld und Wirtschaft geht.14

Seit das Geld von jeder materiellen Basis entkoppelt ist, nur noch durch Funktion und nicht mehr durch Form definiert ist, waren Notenbanken immer versucht, mehr Papier (oder seine Äquivalente) in Umlauf zu bringen, als es der Wirtschaftskreislauf vertrug. Und waren diese Banken, seit sie verstaatlicht sind, nicht allzu oft willige Befehlsempfänger der Regierungen, deren Ausgabenwünsche sie finanzierten, ohne sich lange zu fragen, ob der Wohlstand, der hier verteilt wurde, einen realen Grund hatte, ob also dem Geld überhaupt Waren gegenüberstanden? Haben sie den Wohlstand nicht vielmehr oft genug vernichtet, indem sie das Geld schlecht gemacht haben? Rechtfertigt das Destillat aus jenem schmerzhaften Kapitel der Geschichte Deutschlands zwischen 1914 und 1923 etwa nicht ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Staatsschulden? Ist der Status, den Gold bis heute als Währungsreserve genießt, nicht ein deutliches Zeichen, dass die Zentralbanker ihren Kollegen kaum mehr Vertrauen entgegenbringen als einem Pferdehändler?

Geld und Schulden entstehen, grob gesagt, indem eine Bank dem Kreditnehmer auf dessen Konto ein Guthaben einbucht. Dieses Geld wird nicht einem anderen weggenommen, es entsteht neu, aus dem Nichts. Mit den Bankschulden wächst also auch die Geldmenge.15 Die Schöpfung des Geldes aus heiterem Himmel ist für viele Menschen schwer zu akzeptieren, auch wenn sie jeden einzelnen Schritt und die Funktionsweise des Bankensystems nachvollziehen können. Nichts daran ist obskur, und dennoch bleibt ein Unbehagen. Der einzige Trost mag darin liegen, dass eine gewisse Unverständlichkeit weder selten ist noch schädlich sein muss – solange das Vertrauen in die handelnden Personen gut begründet ist. Friedrich Schlegel hat – in einem ganz anderen Kontext – darauf hingewiesen, dass es in menschgemachten Verhältnissen häufig vorkommt, dass auch das Wichtigste »irgendwo an einem solchen Punkte [hängt], der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte«.16 Es gibt nicht den einen Archimedischen Punkt, aus dem sich der Wert des Geldes wie in einer mathematischen Formel stringent herleiten ließe, sondern nur Buchungen, Funktionen und Kontrollmechanismen, die, wenn sie verantwortlich gehandhabt werden, ihren Zweck erfüllen. Nicht mehr und nicht weniger.

Privatpersonen machen Schulden meistens zum Erwerb oder zur Schaffung neuer Wirtschaftsgüter. Die durch die entsprechenden Buchungen bei der Bank gestiegene Geldmenge steht dann einer gestiegenen Menge an werthaltigen Wirtschaftsgütern (wozu Kriegswaffen nicht zählen, die in der Regel schnell kaputtgehen und nicht zur Produktion von etwas Neuem taugen) entgegen, so dass in der Regel kein inflationärer Effekt entsteht – zumal die Kredite irgendwann zurückbezahlt werden müssen, wodurch die Geldmenge wieder schrumpfen kann. Der Staat ist in einer anderen Situation: Da er (theoretisch) das ewige Leben hat, muss er seine Schulden nicht zurückzahlen, sondern kann sie bei Fälligkeit durch neue ersetzen (»rollen«), sofern er noch kreditwürdig ist. Und wenn er weder willige Geldgeber findet noch seinen Steuerzahlern zusätzliche Bürden zumuten möchte, kann er die Notenbank anweisen, die ausstehenden Staatsanleihen zurückzukaufen (zu monetisieren). Das vergrößert die Geldbasis, löst aber kurzfristig das Finanzierungsproblem. Da der Staat also die Möglichkeit hat, in schwierigen Situationen mit Hilfe der Zentralbank unbegrenzt Geld zu schaffen, das er oft nur langsam (oder gar nicht) zurückzahlt, ist der Zusammenhang zwischen hoher Staatsverschuldung und anschließender Geldentwertung theoretisch plausibel und in der Praxis oft beobachtet worden.

Dennoch gibt es hier keinen Automatismus. Eine hohe Staatsverschuldung ist (ebenso wenig wie eine stark wachsende Geldmenge) weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für eine Inflation. Im Zweiten Weltkrieg stiegen die Schulden Großbritanniens auf 250 % der Wirtschaftsleistung an. Obwohl der Krieg lange Zeit ungünstig für Großbritannien verlief, kam es nicht zu einer Schuldenkrise. In dieser Situation höchster Unsicherheit war offensichtlich die Nachfrage nach einem sicheren Hafen für die Ersparnisse hoch. Japan ist für die Gegenwart ein Beispiel für Stabilität und niedrige Inflationsraten, obwohl dort die Notenbankliquidität seit 2013 dramatisch angewachsen ist und die Staatsverschuldung nach Jahrzehnten struktureller Defizite ebenfalls bei etwa 250 % der Wirtschaftsleistung liegt – ohne dass ein merklicher Einfluss auf die Zinsen oder die Inflationserwartungen spürbar wäre. In diesem Fall legt ein guter Teil der gealterten Bevölkerung ihr Geld in Staatsanleihen an und sorgt dadurch für Stabilität und niedrige Zinsen. Auch der Umstand, dass die Bank of Japan einen immer größeren Teil der Staatsschulden hält, ist seit Jahrzehnten unproblematisch. Die Europäische Zentralbank und die Bank of England halten heute etwa 35 % der jeweiligen Staatsschulden, ohne dadurch eine bemerkenswerte Inflation auszulösen. Olivier Blanchard, ehemaliger Chefökonom des Weltwährungsfonds, stellt angesichts dieser Entwicklung (die in Europa und den USA nicht unähnlich ist) die Überlegung an, ob Staatsschulden für Länder, die sich in eigener Währung verschulden können, überhaupt ein Problem darstellen müssen. Solange sie ihre Zinskosten unterhalb der Rate des Wirtschaftswachstums (und damit des Wachstums der Steuereinnahmen) halten können, zahlen sich demnach die Schulden praktisch von allein zurück und es gibt keinen Grund, sich um die Höhe der Schulden Sorgen zu machen.17 Demnach wäre auch nicht das Verhältnis von Schulden zu Wirtschaftsleistung die entscheidende Größe bei der Beantwortung der Frage: Wie viele Schulden sind zu viel? Die relevante Größe wäre der Anteil der Wirtschaftsleistung, der für den Schuldendienst aufgewendet werden muss. Ein Land, in dem für Staatsanleihen niedrige Zinsen gezahlt werden, kann sich höhere Schulden leisten als ein Land mit hohem Zinsniveau.

Es gibt bis heute keine vollständig befriedigende Theorie zur Inflation. Aber es gibt eine Reihe von Faktoren, die immer wieder im Zusammenhang mit Inflation auftauchen, wie die Täter am Ort des Verbrechens. Die Staatsverschuldung zählt dazu. Ebenso wie die Geldmenge, die von der in den 1970er und 1980er Jahren beliebten Quantitätstheorie der Inflation als wesentliche Ursache ausgemacht wurde.

7Zur deutsch-britischen Konkurrenz vor dem Ersten Weltkrieg und den Parallelen zum chinesisch-amerikanischen Antagonismus in der Gegenwart vgl. Markus Brunnermeier et al.: »Beijing’s Bismarckian Ghosts: How Great Powers Compete Economically«. In: The Washington Quarterly, Vol. 41/3 Herbst 2018, S. 161–176.

8Helfferich: Deutschlands Volkswohlstand 1888–1913, S. 100 und S. 63.

9Zu Helfferich gibt es nur eine brauchbare Biographie, aus der alle hier erwähnten Angaben zu seiner Lebensgeschichte stammen: Williamson: Karl Helfferich.

10Das Protokoll der Reichstagssitzung findet sich unter https://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt_k13_bsb00003402_00235.html.

11Felix Pinner: »Entfesselte Instinkte«. In: Berliner Tageblatt, 21. 12. 1918, Abendausgabe, S. 4.

12Vgl. Williamson: Karl Helfferich, S. 146. Diese Berechnungen stimmen ungefähr überein mit Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914–1923, S. 15.

13Holtfrerich: Die deutsche Inflation 1914–1923, S. 185ff.

14Vgl. beispielsweise Hans-Werner Sinn: Corona und die wundersame Geldvermehrung in Europa. Vortrag gehalten am 14. 12. 2020 am Ifo-Institut München. https://www.ifo.de/vortrag/2020/weihnachtsvorlesung/corona-und-geldvermehrung.

15Anders verhält es sich, wenn der Schuldner (privat oder staatlich) Geld aufnimmt, indem er eine Anleihe auf dem Kapitalmarkt begibt. Dann fließt bestehendes Geld und es entsteht kein neues – oder nur wenn der Käufer der Anleihe sich die entsprechende Summe bei einer Bank leiht.

16Schlegel: Über die Unverständlichkeit, S. 370.

17Blanchard: »Public Debt and Low Interest Rates«. Dagegen ist eingewandt worden, dass ein Land seine Zinskosten nicht vollständig selbst kontrollieren kann. Es handelt sich teilweise um eine endogene Größe, die von der Markteinschätzung der Schuldentragfähigkeit eines Landes abhängt.

Die große Inflation

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