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3. WOCHE DIE URTEILSVERKüNDUNG 10. März bis 16. März 2019
ОглавлениеSonntag, 10. März 2019
Wieder ein Sonntag ohne Eucharistiefeier. Ich bete meine anderen Gebete mit besonderer Andacht, um den Tag des Herrn zu heiligen. Das Essen ist sonntags ein bisschen besser. Die Hauptmahlzeit gibt es gegen 11.30 Uhr und um 15.30 Uhr noch einmal einen feinen Salat und ein Stück Biskuitrolle – Schweizer Rolle, wie wir sie in meiner Kindheit genannt haben. Beides gar nicht schlecht. Ich vermute, dass ich ein bisschen zugenommen habe, obwohl ich von den kalorienreichen Sachen einiges unberührt gelassen habe.
Heute Morgen ist der Arzt überraschenderweise vorbeigekommen, um meinen Blutdruck zu messen: Er lag etwa bei 145 zu 80. Ich habe mich immer noch ein bisschen benommen gefühlt, aber besser als gestern.
Da meine Füße bis zum Fußende meines Bettes reichen und dieses an eine Steinwand stößt, hatte ich kalte Füße und einige Mühe einzuschlafen. Ich habe Socken angezogen und das Gefängnisoberteil abgelegt, denn das war unter den paar Decken einfach zu viel. Gegen 2.00 Uhr bin ich aufgewacht, aber ich habe meine Zuflucht zum Rosenkranzgebet genommen. Das hat wie üblich funktioniert und ich bin wieder eingeschlafen.
Früher habe ich für gewöhnlich zu den Jugendlichen und jungen Erwachsenen gesagt, dass ihr Glaube wirklich schwach wäre, wenn sie in einer schwierigen Situation nicht beten würden. Demzufolge sollte ich mich hier im Gefängnis nicht schuldig oder unbehaglich fühlen, wenn ich bete, weil ich Hilfe benötige. Ich entdecke, dass ich mich an Gott wenden und zu ihm beten kann, wenn ich Leerlauf habe, das heißt, wenn es keine Arbeit oder Ablenkung für mich gibt, und ich danke Gott für diesen kleinen Fortschritt.
Selbst wenn ich mich nicht so gut fühle und mit dem Gebet beginne, bitte ich nicht immer um etwas Bestimmtes. Allerdings bitte ich oft um Frieden und Kraft und bete für alle, für die ich nicht gebetet habe, als ich es hätte tun sollen.
Einen Teil meines täglichen Breviers bete ich für alle Opfer der Pädophilie in der Kirche von Australien – und nicht nur für meinen Kläger, wie berichtet worden ist. Dass man von den Klägern verlangt, ihre Beschuldigung zu beweisen, richtet sich nicht gegen die Opfer, sondern dient der Feststellung, dass sie Opfer sind. Viele sind – wie auch ich viele Male – falsch beschuldigt worden, und Gerechtigkeit haben wir erst dann erlangt, wenn sie allen Seiten zuteilwird.
Denjenigen, die früher gegen diesen Missbrauch hätten vorgehen müssen, hat es oft an Mut gefehlt, und manchmal fehlt es auch dort an Mut, wo das Pendel die Richtung ändert und ins andere Extrem ausschlägt.
Das Truth, Justice and Healing Council1 hat fünf Jahre lang die Hauptlast der kirchlichen Mitarbeit in der Royal Commission2 getragen, aber sie hätten auf dem Recht bestehen müssen, die Kläger ins Kreuzverhör zu nehmen, selbst wenn sie nur selten davon Gebrauch gemacht hätten. Das hätte der Sachlichkeit gedient.
Sie haben es auch versäumt, den Erfolg von Towards Healing und der Melbourne Response angemessen zu würdigen, so partiell und defizitär er auch gewesen sein mag.3 Sogar Gail Furness, die Beraterin von [Richter Peter] McClellan, hat eingeräumt, dass die Zahl der Übergriffe seit Anfang der 1990er-Jahre signifikant abgenommen hat. Was das Eindämmen oder Beenden der Missbrauchswelle angeht, hatten wir das Problem spätestens seit 1996/97 im Griff. Es wird der Wahrheit nicht gerecht, wenn man den Eindruck entstehen lässt, dass die Amtskirche vor Einrichtung des Truth, Justice and Healing Council nichts unternommen hätte. Und es wird der Wahrheit auch nicht gerecht, wenn man den Eindruck entstehen lässt, dass die Kirche bis zu irgendeinem nicht näher genannten Datum keine »guten« Bischöfe gehabt hätte, dass alle eine große »Seilschaft« gewesen seien, für die die Kirche wichtiger gewesen sei als die Opfer. Das ist unfaire Effekthascherei, ein Zugeständnis an eine feindselige Masse.
Die Pädophilie-Krise ist und bleibt der heftigste Schlag, dem die Kirche in Australien ausgesetzt war. So viele furchtbare und so viele wirklich abscheuliche Verbrechen. Wenn Mitte der 1990er-Jahre irgendjemand das Ausmaß des Problems kannte, dann hat er sich darüber nicht geäußert, weder öffentlich noch bei mir persönlich. Wir dachten, die Melbourne Response würde ihre Arbeit innerhalb weniger Jahre zum Abschluss bringen können.
Im Brevier führt Ijob sein Wortgefecht weiter und macht zwei Punkte geltend: Er macht Gott für seine Leiden verantwortlich und er beharrt darauf, dass Gott die Macht hat, etwas dagegen zu tun. Gott hat alles in der Hand. Der Mensch kann nur sehr, sehr wenig erreichen. »Sieh, die Furcht des Herrn, das ist Weisheit«, spricht Gott, »das Meiden des Bösen ist Einsicht« (Ijob 28,20–28).
Es war eine Erleichterung, zum Responsorium aus dem ersten Korintherbrief überzugehen (2,6–8); Gottes geheime Weisheit für uns ist Christus.
Die zweite Lesung ist wieder ein schöner und berühmter Abschnitt aus Augustinus’ Bekenntnissen. Gott zu preisen ist unsere Freude, »denn auf dich hin hast du uns geschaffen; und unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir«.
Wie geschieht es, dass die Seele ihren ersten Schritt auf Gott zugeht? Augustinus ist ein glänzender Psychologe, der sehr wortgewandt und klug über sich selbst zu schreiben vermag. Aber noch besser kann er über unseren Gott der Liebe schreiben. »Ist das nicht allein schon große Pein, dich nicht zu lieben?«
Die folgenden Worte von Augustinus sollen heute Abend mein Gebet sein:
Herr, mein Gott, […] sprich zu meiner Seele: »Dein Heil bin ich.« Nacheilen will ich diesem Wort und so dich erfassen. Verhülle nicht vor mir dein Angesicht. Sterben will ich, um nicht zu sterben, sondern es zu schauen.
Montag, 11. März 2019
Das Ereignis des Tages war natürlich der Besuch von Chris Meney, direkt gefolgt von der Tatsache – die nur durch den Besuch überhaupt möglich war –, dass wir uns im Garten treffen konnten. Dass Nick und Rebecca4 nicht gekommen sind, war eine Enttäuschung. Der Himmel weiß, was sie aufgehalten haben mag, denn Nick hat noch heute Morgen am Telefon zu Chris gesagt, sein Termin sei um 12.30 Uhr. Ich hatte diese Zeit nie erwähnt und dachte, alle drei würden zur vollen Stunde kommen.
Die Gefängnisleitung hat sich bemüht, die äußere Besuchszone ansprechend zu gestalten – sie ist hübsch gepflastert, mit runden Tischen und fest installierten Bänken versehen, in der Mitte ein überdachter Bereich mit Farnen und einem pagodenartigen Dach und einem Aborigine-Garten in der Ecke. Weiterhin gibt es ein Gefallenendenkmal, eine Tafel, auf der steht, dass der Bereich unter Pauline Toner5 eröffnet worden ist, und über dem Eingang ein Bild mit einer Ansicht von Venedig, so etwas wie die Seufzerbrücke über dem Kanal. In einer Ecke, fast ganz versteckt, blühten einige bescheidene Rosen, rot und weiß (wenn ich mich richtig erinnere). Die Hälfte der Zeit haben wir gesessen und ein bisschen sind wir auch umhergegangen. Das Wetter am heutigen Feiertag, dem »Tag der Arbeit«, war beinahe mild. Ein schöner Tag. Heute Morgen habe ich 10 oder 15 Minuten lang die Moomba-Parade6 im Fernsehen angesehen, nichts Besonderes meiner Meinung nach, aber die Kinder, die mitgingen, hatten ihren Spaß und die Jugendlichen, die angeblich die Umzugswagen entworfen hatten, ebenfalls.
Nach der üblichen Leibesvisitation habe ich mich vor dem Besuch wieder in einen Overall gezwängt, diesmal richtig herum, nicht mit der Rückseite nach vorn. Ich hatte einen in 3XL, obwohl ich eigentlich die größte Größe brauche, wahrscheinlich 5XL.
Chris wirkte ein bisschen unsicher – vielleicht hatte er Angst, wie ich reagieren würde, als er erklärte, dass meine Probleme und meine Haft Teil der göttlichen Vorsehung seien, auch wenn er nicht wirklich wisse, was da im Gang sei und was vielleicht an Gutem dabei herauskommen werde. Wahrscheinlich war er erleichtert, als ich ihm begeistert beipflichtete, indem ich sagte, dass Gott, der Geist, immer am Werk ist. Chris meinte, vielleicht sei es für die Gläubigen ein Hinweis darauf, dass die allgemeine Lage wahrscheinlich nicht leichter werden wird. Ich hoffe allerdings, dass nicht allzu bald allzu viele dieselbe Erfahrung machen müssen wie ich.
Chris ist mir ein guter Freund und eine unschätzbare Hilfe. Mary Clare und Jess7 sind in Medjugorje und ich hoffe, sie beten für mich, neben ihren anderen Anliegen.
Außer meiner Bewegung im Garten anlässlich des Besuchs hatte ich noch zweimal eine halbe Stunde Hofgang in unserem etwas heruntergekommenen Hof. Ein scharfer Kontrast, aber heute Morgen hat von dem kleinen Fleckchen Himmel, das man von dort aus sehen kann, die Sonne auf mich heruntergelacht.
Chris hat mir den nächsten Brevierband mitgebracht, und ich bin gespannt, wann er bei mir ankommen wird. Die Wärter haben gesagt, dass ich ihn automatisch bekommen werde und nichts unterschreiben müsse.
Ijob ist heute viel besser in Form, äußerst wortgewandt, aber er hält an seiner harten Linie fest und rechtet weiterhin mit Gott. Er erinnert sich an die guten Zeiten, als Gottes Leuchte über seinem Haupt erstrahlte (Ijob 29,3). Einst sind ihm die Jungen und die Fürsten respektvoll begegnet, doch jetzt ist er zum Gespött geworden. Schrecken haben ihn erfüllt und unaufhörlich nagt der Schmerz an ihm. Er macht Gott harsche Vorwürfe: »[…] du achtest nicht auf mich. Du wandelst dich zum grausamen Feind gegen mich« (Ijob 30,20–21).
Ijob war in seiner heftigen Empörung und deutlichen Sprache denkbar schlecht für diese furchtbare Situation gerüstet. Ich erinnere mich noch an Kardinal Lustiger8 aus Paris, einen konvertierten Juden, dessen Verwandte aus demselben Dorf in Polen stammten wie die Familie von Jim Spiegelman9, und an die Erbitterung, mit der er sich fragte, wie Gott das zulassen konnte, als vier oder fünf französische Bischöfe, die er als mögliche Erzbischöfe ausgewählt hatte, vor der Zeit starben. Lustigers Umgang mit der Moderne war so, wie er sein sollte: ein bedingungslos christlicher Aufruf zu Glauben und Buße. Einmal hatte er mehr junge Priester und Seminaristen als der Rest von Frankreich zusammen. Ich bin bei der Reform des Seminars in Melbourne ein Stück weit seinem Vorbild gefolgt. Die jüdische Tradition, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, ist langlebig.
Wir wissen, dass Gott, was auch immer er zulässt, doch niemals grausam zu uns ist. Gott ist nicht wie ein Oberer, der uns im Stich lässt oder sich plötzlich weigert, unsere redlichen Bemühungen zu unterstützen, und sich gegen uns wendet. Gott ist immer auf unserer Seite und verwandelt unser Leid in etwas Gutes, indem er es mit dem Leiden und Sterben Jesu vereint. Gott hört immer zu, vor allem dann, wenn er schweigt. Unser Leiden dient einem Zweck. Ijob wusste nichts von einem leidenden Messias.
Gott, unser Vater, ich vereinige mein kleines Leid mit dem deines Sohnes Jesus, damit es, wie du willst und wenn du es willst, für die Ausbreitung des Reiches Gottes insbesondere in Australien eingesetzt werden möge.
Dienstag, 12. März 2019
Heute habe ich einen sorgfältig formulierten Brief an James Gargasoulas, den Bourke-Street-Mörder, gesandt, um auf seine zahlreichen Briefe und seine Karte zu antworten. Er ist entweder wahnsinnig oder wirklich gut darin, als Wahnsinniger aufzutreten. Gestern habe ich eine Karte von Sophie O. bekommen (mir unbekannt, die Schrift auf dem Umschlag war undeutlich), die mich drängt, James zu bitten, dass er beten solle, um Vergebung zu erlangen. Entgegen dem Rat meines Anwalts hielt ich es für das Beste, mich ihm gegenüber als Priester zu verhalten. Ich habe ihm offen mitgeteilt, dass ich nicht glaube, dass er der Messias ist, und ihn freundlich aufgefordert, nach Erkenntnis zu suchen und zu bereuen.
Letzten Freitag habe ich meine Exerzitien beendet – ein fünftägiges Programm, mit dem ich am Montag begonnen hatte. Es war etwas willkürlicher als üblich, aber immerhin etwas. Das Beten ist mir nicht schwergefallen.
Die Fastenzeit im Gefängnis zu verbringen beinhaltet größtenteils die Dimension der Buße. Außerdem hat man Zeit genug zum Beten, nur das Almosengeben fällt aus – es sei denn, ich lasse mich von Michael Casey10 als Anwalt vertreten. Heute Nachmittag und am frühen Abend war ich ein bisschen niedergeschlagen bei der Aussicht auf die Demütigung, die mir morgen bei der Urteilsverkündung bevorsteht. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich jetzt ein bisschen besser. Gott wird für alles Sorge tragen, und es wird die letzte öffentliche Hürde vor der Berufung sein.
Heute Morgen war ich bei der Ärztin, und sie fand, dass mein Blutdruck zu hoch sei. Ich habe ihr erklärt, dass ich wegen der Urteilsverkündung ein bisschen angespannt bin, und sie hat entschieden, sich das Ganze in ein paar Tagen noch einmal anzusehen.
Schwester Mary war heute Nachmittag da und hat mir die Kommunion gebracht. Aus irgendwelchen Gründen hat man sie heute Morgen drei- oder viermal abgewiesen und ihr den Zugang zu mir verwehrt. Ein oder zwei der Wärter waren ein bisschen unkooperativ. Mein Brevier ist noch nicht da und meine Wäsche auch nicht. Seltsamerweise kam einer der beiden Wärter und hat mir eine zusätzliche Plastikflasche mit Milch gebracht, die ich gern angenommen habe.
Die heutige Lesung ist die letzte aus dem Buch Ijob in diesem Brevierband. Ich werde mit meinen Gebeten eine Kehrtwendung einlegen müssen, wenn der zweite Fastenzeitband morgen nicht ankommt.
Ijob hält weiter an seinem Kurs fest und erklärt eloquent, dass er im Grunde ein guter Mensch ist: »[…] dann wäge Gott mich auf gerechter Waage, so wird er meine Unschuld anerkennen« (Ijob 31,6) – genau mein Gebet in diesem bizarren Kathedral-Fall! Nicht ein einziger der 20 Zeugen hat die Geschichte des Klägers bestätigt, und ich hatte vier Personen, die mir ein Alibi gegeben haben: den Zeremoniar, den Küster und zwei Ministranten. Gottes Wille geschehe, sein Wille, der vieles zulässt.
Ijob listet seine guten Taten auf und das Böse, das er gemieden hat. Dann kommt er zum Schluss: »Hier ist mein Zeichen! Der Allmächtige antworte mir!«
Das letzte Kapitel 42 kommt zumindest in diesem Brevierband nicht vor: Darin weist Gott Ijobs drei Gegner Elifas, Bildad und Zofar zurecht, stellt sein Vermögen wieder her und »mehrte den Besitz Ijobs auf das Doppelte« (Ijob 42,10). Danach hat Ijob noch so lange gelebt, dass er die vierte Generation seiner Nachkommen erlebte.
Das ist ein gutes alttestamentliches diesseitiges Ende. Möge es Gott gefallen, dass auch meine Berufung Erfolg haben wird.
Ich hatte damit gerechnet, dass Paul Galbally heute Nachmittag vorbeikommen würde, vergeblich. Und ich hatte gehofft, etwas von meinem Neffen und meiner Nichte zu hören, die gestern nicht gekommen sind.
Über die Gegensprechanlage hat man mir gerade mitgeteilt, dass ich morgen um 5.00 Uhr geweckt werde.
Lieber Herr Jesus, gib mir die Kraft, morgen meine Fassung und meine christliche Würde zu bewahren und mich nicht vom Zorn darüber hinreißen zu lassen, wie ungerecht das alles ist. Möge Maria, deine Mutter, unsere Mutter und daher auch meine Mutter, bei mir sein, damit ich ein annehmbares Opfer zum Wohl der Kirche bringen kann. Ich fühle, dass die heilige Maria vom Kreuz MacKillop11 meine Situation versteht, wie es auch John Fisher tun würde und ebenfalls Kardinal van Thuân12, den ich gekannt und bewundert habe.
Mittwoch, 13. März 2019
Ich habe die Urteilsverkündung hinter mich gebracht, die – das hatte der Richter so organisiert – per Livestream übertragen wurde. Es war grauenhaft, aber ich habe es bewältigt, den Blick die ganze Zeit über direkt auf den Richter gerichtet, im Sitzen und auch im Stehen, als das Strafmaß verkündet wurde. Ruth hat mir gesagt, sie hätte [Richter] Kidd auch die ganze Zeit über angesehen. Innerlich habe ich mir wieder und wieder gesagt: »Falsch. Ungerecht.« Gelegentlich stimmte ich dem, was er über meine geistige Führung und Verantwortung gegenüber dem Chor gesagt hatte, zu. Doch dann sagte ich mir: »Er geht von falschen Voraussetzungen aus.«
Die Verhandlung, die dem Schuldspruch vorausgegangen war, wies, wie schon erwähnt, Aspekte von Alice im Wunderland auf, weil mein Team, das von meiner Unschuld überzeugt war, Hypothesen über die Motivation meiner angeblichen Taten hatte anstellen oder zumindest eine Reaktion darauf vorbereiten müssen. Die Situation und die Umstände rund um die angebliche Tat sprechen für deren Unwahrscheinlichkeit und nicht für die (dumme) Arroganz, die der Richter mir unterstellt.
Am Ende bin ich zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt worden, was besser war als die vier Jahre und sechs Monate, die ich während der Verhandlung irrtümlich ausgerechnet hatte.
Robert [Richter] hatte etwas weniger und Ruth etwas mehr erwartet. Es ist wichtig, dass der Berufung stattgegeben wird.
Robert hat gefragt, ob ich während der Verhandlung um eine Strafminderung bitten wolle. Spontan eher nicht, habe ich ihm geantwortet, weil ich den Richtern keinen Spielraum bieten will, sich mit einem »Vergleich« herauszuwinden. Richter hat geantwortet, dass ihn das nicht überrasche und er ganz meiner Meinung sei. Ruth hat ihm zugestimmt und gesagt, man könnte dadurch sowieso nur ein paar Monate gewinnen.
Der Gerichtssaal war brechend voll, und es kann sein, dass für diejenigen, die keinen Platz gefunden hatten, ein weiterer Raum zur Verfügung gestellt wurde. Einige wenige Leute habe ich erkannt, Mary Helen Woods13, Peter Westmore14 und Anne Lastman15, sonst niemanden. Patrick Meney16 habe ich nicht gesehen. Danach habe ich David [Pell] angerufen. Er meinte, die Nachricht werde auf allen Kanälen ausgestrahlt. Bei Margaret habe ich es dreimal versucht, aber nur die Mailbox erreicht. Offenbar waren Joseph und Susan Santamaria bei ihr.
Ruth hat darauf hingewiesen, dass der Richter sich durch seine Bemerkungen unauffällig von der Entscheidung der Geschworenen distanziert habe. Das war deren Sache, nicht seine. Sie meint, dass die Berufungsrichter das zur Kenntnis nehmen werden.
Sie hat mir auch erklärt, wie schwierig es für ihn gewesen sein muss, mich zu verurteilen, obwohl er mich für unschuldig hält. Wie mag sich der Staatsanwalt wohl gefühlt haben? Er hat sich während der ganzen Verhandlungen nur ein einziges Mal umgedreht und mir einen verstohlenen Blick zugeworfen.
Meine Einstufung als Häftling, der Beschimpfungen und Gewalt vonseiten der anderen Häftlinge zu gewärtigen hat, versetzt mich offenbar in die Kategorie eines Terroristen. Für sämtliche Fahrten wurden mir Handschellen angelegt, doch als ich auch zur Vorbesprechung mit meinen Anwälten in Handschellen erschien, hat Richter protestiert und erklärt, er habe sich noch nie bei Gericht mit einem Mandanten in Handschellen besprochen. Nach einigem Hin und Her hat man sie mir für die Zeit der Besprechung abgenommen, und ich griff insofern ein, als ich dem Anwaltsteam gesagt habe, dass man dem Wachmann, der mir diese Demütigung zugefügt, das heißt mir die Handschellen angelegt hat, keinen Vorwurf machen könne. Er war wirklich freundlich und hilfsbereit gewesen, anders als sein mitteleuropäischer Kollege und Assistent, der mich zwei Wochen zuvor vom Gericht zum Hochsicherheitsgefängnis in Melbourne [Melbourne Assessment Prison] gebracht hatte.
Jede neue Etappe auf dem Weg zum Gericht und wieder zurück war von Verspätungen begleitet – irgendwann auf dem Rückweg war es einmal fast eine Stunde. Wahrscheinlich ist das in erster Linie Teil des Demütigungsrituals, aber vielleicht gibt es den Leuten auch Zeit, sich zu beruhigen.
Vor dem Aufbruch hat die Krankenschwester meinen Blutdruck gemessen. Er war erhöht, 158 zu 100, und sie fragte mich ganz unschuldig, ob das in Ordnung sei! Heute Abend nehme ich wieder Prazosin ein. Ich hatte heute auch eine zweite Lasix-Tablette (Furosemid) wegen meiner geschwollenen Beine erhalten, aber ich habe sie erst nach meiner Rückkehr vom Gericht eingenommen.
Hier im Gefängnis hört man oft, dass etwas »geschehen wird«, und dann geschieht es doch nicht. Am Dienstagabend um 21.00 Uhr hatte man mir gesagt, dass ich am nächsten Morgen um 5.00 Uhr geweckt werden würde. Der Weckruf kam um 5.45 Uhr, aber das war kein Problem. Ich hatte 25 bis 30 Minuten Zeit, um mich fertig zu machen und meine Zivilkleidung anzuziehen. Wir sind gegen 7.30 Uhr aufgebrochen. Ich hatte keinen Gürtel (er wurde erst bei der Abfahrt aus meinem Spind gebracht), deshalb ist mir mehrmals die Hose hinuntergerutscht. Daraufhin habe ich die Hose an meinem Hemd mit einem Knopf befestigt, was mir, zusammen mit dem Gürtel, jede öffentliche Peinlichkeit erspart hat.
Man sagte mir, dass wir sofort nach der Anhörung zurückfahren würden. Ich erwiderte, dass ich mich unmittelbar danach mit meinem Anwaltsteam besprechen wolle, was dann auch geschah. Das Gespräch war sehr hilfreich. Danach fuhren wir am frühen Nachmittag wieder »nach Hause«, zurück zum Gefängnis. Die Gerichtssitzung hatte um 10.00 Uhr begonnen.
Ein paar der Wachmänner erkundigten sich nach meiner Berufung, und ich sagte ihnen, dass ich sehr gute Gründe für die Berufung hätte. Der eine meinte, davon hätte er schon gehört.
Bei Gericht musste ich mich in das Verzeichnis der Sexualstraftäter eintragen, aber eine DNA-Probe wurde noch nicht genommen. Ich habe nichts dagegen.
Nach der Anhörung war ich erleichtert: Ich war froh, diese Erfahrung hinter mir zu haben, und mit dem Urteil kann ich zurechtkommen angesichts der starken Berufungsgründe. Ich habe auch daran gedacht, mich bei Verlassen des Gerichtssaals vor dem Richter zu verneigen.
Ruth und Robert sind sich einig, dass die Berufung auf der Tatsache basiert, dass ich 1996 nur am 15. und am 22. Dezember die Messe in der Kathedrale gefeiert habe. Damit kann es unmöglich einen Monat später zu einem weiteren Übergriff im Jahr 1996 gekommen sein, aber J.17 hat dreimal bestätigt, dass die Übergriffe im Chorjahr 1996 stattgefunden hätten.
Außerdem habe ich nachdrücklich darauf hingewiesen, dass ich Alibis von vier Zeugen vorliegen habe, und keiner der vier sei der Lüge bezichtigt worden. »Wie viele Alibis braucht man denn noch?«, fragte ich hitzig, und Paul Galbally lächelte in stillem Einvernehmen. Er wird auch noch mit Adrian Barrett18 sprechen, weil einige andere Chorknaben telefonisch ihre Hilfe angeboten haben.
Ich betete die meiste Zeit auf dem Weg zum Gericht, der in einem silbernen Spezialtransporter zurückgelegt wurde, in den ich rückwärts einsteigen musste, damit ich in den engen Raum mit der Sitzbank hineinpasste. Auch während der Wartezeit vorher betete ich und dann danach noch ein paar Rosenkränze zum Dank, während ich darauf wartete, dass man mich zurückbrachte.
Das Gefängnis gibt mir in dieser Fastenzeit reichlich Gelegenheit zur Buße, ein kleiner Ausgleich dafür, dass ich viele Jahre lang keine wirklich strenge Buße praktiziert habe. Ich bedaure das nicht sehr – obwohl ich mehr hätte machen sollen –, weil ich immer viel zu tun hatte. Es ist ein Trost, dass man alle Demütigungen, Leiden und Erniedrigungen mit den Leiden des Herrn vereinen und für das Wohl der Kirche aufopfern kann.
Mein Brevier für die Fastenzeit ist immer noch nicht da. Es ist bei meinen Anwälten, die dachten, das Buch sei zu empfindlich und würde bei dem üblichen Vorgehen im Gefängnis beschädigt werden. Und ich habe gedacht, die Gefängnisverwaltung sei für die Verzögerung verantwortlich!
Herr Jesus, danke, dass du mir geholfen hast, diesen Tag durchzustehen. Möge der Schaden, der der Kirche durch die Meldung von dieser Haftstrafe zugefügt wird, durch meine Berufung wiedergutgemacht und mögen die gläubigen Katholiken gestärkt werden, damit sie umso engagierter für Christus, seine katholische Kirche und die ganze christliche Sache kämpfen.
Donnerstag, 14. März 2019
Ein Wort oder zwei über meine Unterbringung in Zelle 11, Trakt 8, des Hochsicherheitsgefängnisses von Melbourne, wo ich gemeinsam mit einem muslimischen Terroristen (vermutlich der, der gerade wieder seine Abendgebete singt, aber ich kann mich auch irren) und Gargasoulas, dem Bourke-Street-Mörder, inhaftiert bin. Über die meisten weiß ich nichts. Mindestens ein paar der Häftlinge in den etwa zwölf Zellen schreien nachts vor Verzweiflung, aber in der Regel nicht sehr lange. Es ist interessant, wie man sich an diesen Lärm gewöhnt und ihn als Teil der Umgebung wahrnimmt. Ich bin in Einzelhaft. Bis zu einer Stunde täglich habe ich Hofgang, und außerdem darf ich Besuche von Anwälten, Amtspersonen, Freunden, dem Arzt usw. erhalten. Das Wachpersonal ist nicht gleichermaßen entgegenkommend, aber alle sind korrekt, die meisten freundlich und einige sind sogar herzlich und hilfsbereit. Ich darf Briefe empfangen und kann draußen während des Hofgangs telefonieren.
Meine Zelle ist sieben bis acht Meter lang und unter dem dunkel getönten Fenster, wo das Bett steht, mehr als zwei Meter breit. Es ist ein gutes Bett mit einer festen Unterkonstruktion, einer nicht zu dicken Matratze, Laken usw. und zwei Decken. Da das Fenster nicht geöffnet werden kann, gibt es eine Klimaanlage, was während der Hitze vor etwa einer Woche sehr nützlich war.
Wenn man hereinkommt, befinden sich links an der Wand Regale mit einem Bord für meinen Wasserkocher, ein Fernsehgerät und ein Essplatz. Auf der anderen Seite des schmalen Durchgangs, wenn man hereinkommt rechts, befinden sich ein Waschbecken mit heißem und kaltem Wasser, eine offene Toilette mit erhöhtem Sitz und Armstützen (wegen meiner Knie) und eine Duschzelle mit hohem Wasserdruck und wunderbar warmem Wasser. Anders als in vielen noblen Hotels gibt es in der Wand über dem Bett eine gute Leselampe. Es ist sehr bequem, alles, was man braucht, ist in Reichweite – wie die Wohnung einiger Mitglieder der chinesischen Untergrundkirche, die ich einmal in Shanghai besucht habe. Dort befanden sich der Herd, die Toilette und das Waschbecken direkt nebeneinander an der Stirnseite des kleinen Apartments. Im Gefängnis scheint alles irgendwie niedrig zu sein, deshalb ist mein erhöhter Krankenhausstuhl ein wahrer Segen, genauso wie die Gummi-Halsmanschette, die ich mitgebracht habe. Für Kleidung ist nicht viel Platz, allerdings müssen wir die grüne Gefängnisuniform aus Jogginghose und Oberteil tragen. Von dem gelben Betonboden ist an vielen Stellen die Farbe abgeblättert. Einen Teppich gibt es nicht.
Heute Morgen haben mich ein paar Frauen vom Unterbringungsdienst besucht (das ist nicht die korrekte Bezeichnung). Vicky, die Chefin, die ein Kreuz trägt, war auch dabei. Ich habe gefragt, ob ich etwas mehr Platz, um mich draußen zu bewegen, und ein ansprechenderes Umfeld (als den üblichen Hof), einen späteren Nachteinschluss und etwas Gesellschaft haben könnte. Wegen meines Status sind die beiden letzten Wünsche unerfüllbar. Es scheint aber die Möglichkeit einer Zelle mit einem eigenen kleinen Bewegungsbereich zu geben, zu dem ich dann immer Zugang hätte. Das wäre die einzige Option. So oder so hat Vicky angedeutet, dass man mich, wenn ich von hier aus verlegt werde, wahrscheinlich irgendwo in der Umgebung von Melbourne unterbringen wird.
Mein Blutdruck war nicht allzu schlecht, als ich beim Arzt war, aber ich glaube, der automatische Monitor muss neu justiert werden. Die angezeigten Werte waren zu hoch.
Ich habe eine wunderbare Stunde mit Tim O’Leary19 und Bernadette Tobin20 verbracht. Sie haben eine ganze Menge Neuigkeiten mitgebracht; die heftige Kontroverse über meine Situation spaltet die Gesellschaft.
Die tröstlichste Nachricht kam aus Tims Pfarrei, wo Father Kevin [McGovern] eine gute Predigt über meine missliche Lage gehalten hat und die Zahl der Messbesucher offenbar steigt! Shane Healy, der Pressesprecher des Erzbistums Melbourne, meint, er hätte Ähnliches gehört.
Einige Berichte waren verstörend, auch wenn wahrscheinlich nichts davon bleibende Wirkung haben wird. Frank Brennan SJ sollte die Ehrendoktorwürde des College of Divinity von Melbourne oder einen vergleichbaren akademischen Titel verliehen bekommen. Man hat ihm mitgeteilt, dass die Sache wegen seiner Unterstützung für mich nicht vorangehe. Der aktuelle Stand ist offenbar der, dass ihm die Auszeichnung zu einem späteren Zeitpunkt verliehen werden soll.21
Greg Craven, der Vizekanzler der Katholischen Universität von Australien, ist wegen seiner Unterstützung ebenfalls heftig angegriffen worden. Der Vorsitzende des Universitätszweigs der Gewerkschaft der Akademiker hat gefordert, dass er gemaßregelt werden solle. Er hat einen entsprechenden Brief an den Kanzler der Katholischen Universität von Australien geschrieben.22 Natürlich hat Greg auch Unterstützer, aber der Sturm war oder ist noch immer heftig.
Tim hat auch an den Rektor von St-Patrick’s in Ballarat [John Crowley] geschrieben und dagegen protestiert, dass mein Name von einem Gebäudeflügel entfernt worden ist. Der Rektor hat ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass er von den älteren Jahrgängen viel Kritik hatte einstecken müssen, aber dass die Eltern der 1970er-Jahrgänge ihn unterstützt hätten. »Ja«, hat Tim daraufhin entgegnet, »weil sie George Pell nicht kennen.« Alle aus seiner Mannschaft hatten sich mit Tim in Verbindung gesetzt: Bruce Ryan, Rick Murphy und Peter Leonard, der mich in seinem kleinen Beitrag für [das Schulmagazin] The Shamrock (glaube ich) als jemanden erwähnt hat, dessen Einfluss in seinem Leben wichtig gewesen sei. Gebe Gott, dass meine missliche Lage sowohl diejenigen, die ein bisschen abständig sind, als auch die treuesten unter den Katholiken stärken möge.
Tim hat einen guten Artikel im Quadrant23, einen von [George] Weigel in First Things24 und einen guten Beitrag von Raymond de Souza25 erwähnt.
Da mein Brevier immer noch nicht eingetroffen ist, habe ich wieder mit der ersten Woche begonnen, und die zweite Lesung heute war ein Text von Athanasius: »Der allheilige und über alle Geschöpfe erhabene Vater Christi gleicht einem vortrefflichen Steuermann. Mit seiner eigenen Weisheit und seinem eigenen Wort, mit unserem Herrn und Heiland Christus, lenkt er überall alles zum Heil und ordnet und wirkt alles, wie er es für recht erkennt.« Athanasius nimmt die Antwort auf die deistische Vorstellung von Gott als einem Uhrmacher vorweg, der das Universum ausgetüftelt und dann gänzlich sich selbst überlassen hat, indem er erklärt, dass Gottes fortwährende Sorge notwendig sei, um zu verhindern, dass die Schöpfung ins Nichts zurückfällt.
Wahrscheinlich ist das Universum ein bisschen chaotischer und aufwendiger, als Athanasius es vermutet hat, und ganz sicher ist es größer, als er es sich jemals hätte träumen lassen.
Ich weiß nicht, warum Gott ein so unermessliches Universum geschaffen hat, genauso wenig wie ich weiß, weshalb er die Dinosaurier erschaffen hat. Was mich interessiert, ist die Einzigartigkeit des menschlichen Lebens und wahrscheinlich des intelligenten Lebens auf diesem winzigen Planeten in einem entlegenen Winkel des Universums, das vor 14,3 Milliarden Jahren erschaffen wurde, ähnlich wie das Kommen des Erlösers, des Sohnes Gottes, Jesus, der als armes Kind in einer rückständigen und schwierigen Provinz des mächtigen römischen Weltreiches geboren wurde. Welchen Zweck verfolgt die Vorsehung mit alldem? Ein Teil der Antwort muss darin bestehen, dass Gott handelt wie das leise, sanfte Säuseln bei Elija oder wie der Tau aus dem zweiten Eucharistischen Hochgebet.26 Gott spielt ein langes Spiel und die meiste Zeit über geht er sehr leise zu Werke – aber nicht immer, wie wir bei Johannes dem Täufer und seinen Nachfolgern sehen können. Bei vielen Gelegenheiten wissen wir nicht, was Gott tut.
Herr Jesus, hilf mir, mich für die nächsten paar Monate hier einzurichten und meine Zeit mit Beten, Lesen und Schreiben sinnvoll zu nutzen. Ich bete für all meine Freunde, für alle, die mich verteidigen, dass du sie vor Schaden bewahren mögest.
Freitag, 15. März 2019
Heute sind 80 Briefe gekommen und ich habe ein paar Stunden gebraucht, um sie alle zu lesen. Sehr bewegend. Mein ganzes Priesterleben lang – vielleicht mit Ausnahme meines letzten vierjährigen Aufenthalts in Rom – hat mich die Glaubenskraft der Menschen, für die ich tätig war und mich eingesetzt habe, immer gestärkt und inspiriert. So viele gute Leute, die meist ganz still und leise durchs Leben gehen.
Laut einem kurzen Artikel in der heutigen Herald Sun ist die Zahl der Anrufe bei der Telefonseelsorge während der öffentlichen Berichterstattung über meine Inhaftierung und Verurteilung gestiegen.27 Das sei normal.
Mir macht die Anzahl derer Sorgen, die wegen meines Schuldspruchs möglicherweise aus der Kirche austreten oder den Glauben nicht mehr praktizieren. Zahlen hierüber liegen mir nicht vor.
Überrascht hat mich, dass Tim O’Leary gestern berichtet hat, in seiner Gemeinde in Melbourne sei die Zahl der Messbesucher gestiegen. In drei Briefen aus Sydney wurde heute Ähnliches berichtet.
Jim und Genevieve McCaughan28 haben mir geschrieben: »Am Aschermittwoch haben sehr viele Menschen die Messe besucht – es waren sehr viele, viel mehr als in früheren Jahren« und weiter: »Wir sind Spielfiguren in einer kosmischen Schlacht.« Viele andere äußern sich ähnlich.
Dres. Cathy und Richard Lennon29 haben eine Karte und zwölf Fotos gesandt, die meisten aus meiner Zeit als Bischof. Dazu schrieben sie: »Wir haben schon von Menschen gehört, die aufgrund Deines mutigen Zeugnisses wieder begonnen haben, den Glauben zu praktizieren.«
Mary Clare Meney hat die Lage vor ihrer Abreise nach Medjugorje etwas ausführlicher geschildert:
»Vielleicht überrascht es Dich, das zu hören, aber Deine Situation hat die katholische Landschaft in Australien verändert, und ich habe das Gefühl, dass viel Gutes daraus entstehen wird. Schon jetzt sehe ich, dass einige sehr positive Dinge geschehen. Ich habe von einer ganzen Anzahl abständiger Katholiken gehört, die plötzlich wieder die Messe besuchen. Die ›Schockwellen‹ haben dazu geführt, dass viele praktizierende Katholiken ihr spirituelles Leben ›intensivieren‹. Das ist ein Weckruf für uns alle – und ich glaube, es gehört alles zum Plan der göttlichen Vorsehung.«
Einem oder zwei engen Freunden gegenüber hatte ich mir den Scherz erlaubt zu bemerken, dass ich an mir selbst keine Besserung feststellen könne trotz der Flut von Gebeten und Bußübungen, insbesondere in Australien, Großbritannien, den USA und Irland, aber auch andernorts. Alle Verantwortlichen des Leitungsteams des Neokatechumenalen Weges30 halten weltweit Fürbitte. Jetzt sehen wir, dass Gottes Vorsehung in einer Weise wirkt, die wir niemals hätten erahnen können.
Ganz gleich, wie weit diese Entwicklung geht und wie lange sie noch anhält, sie ist in jedem Fall ein guter Grund, Gott zu danken, und sie verweist mich wieder auf den Vorsatz, die Zeit meiner Inhaftierung in religiöser Hinsicht sinnvoll zu nutzen. Und ich muss darauf achten, dass ich das geistliche Gleichgewicht nicht durch unpassende Äußerungen oder falsche Schritte störe. Deo gratias.
Father Francis Denton, der jüngere Bruder von Father Anthony, hat mir ebenfalls einen sehr schönen Brief geschrieben und mir die Abschrift einer hervorragenden Predigt, in der er mich und die allgemeine Lage erwähnt hat, zugesandt. Ein junger Priester mit Köpfchen, einem klaren Blick und innerer Stärke (und ein hervorragender Maler). Er fügte hinzu: »Man hat den eigenartigen Eindruck, dass sich die Ereignisse zuspitzen und dass die ganze Kirche an der Schwelle zu ihrer endgültigen Läuterung steht. Wie dem auch sei, Gott wird in seiner Vorsehung alle Dinge zum Besten derjenigen ordnen, die auf ihn vertrauen.« Viele der Briefschreiber bringen auf ihre eigene, meist weniger geistreiche und weniger extreme Weise das Gefühl zum Ausdruck, Zeugen eines erbitterten Showdowns zwischen Gut und Böse, Glauben und Religionsfeindlichkeit, Relativismus und der jüdisch-christlichen Tradition zu sein. Wir werden sehen.
Ein anonymer russischstämmiger Australier, der sich George nennt, hat mir einen Text des heiligen Antonius des Großen, des frühen ägyptischen Einsiedlers oder Mönchs, über das heiligmäßige Leben gesandt, der in der Philokalie31 enthalten ist. Ich hatte diesen Text vorher noch nicht gelesen. Gut und tief und mit einer Portion gesundem Menschenverstand. Das tugendhafte Leben »ist nicht für jedermann gleichermaßen erreichbar«. Spirituelle Menschen sollten nicht zu viel reden, was vermutlich stimmt, aber seine Ansichten über die materielle Wirklichkeit gehen mir zu weit: »Alles Geschaffene ist dem Menschen fremd. Also verachte alle Dinge.« Wir können von Gottes Schöpfung in die Irre geführt werden, aber grundsätzlich ist sie schön und gut.
Herr Jesus Christus, hilf mir, mich in den Monaten, die vor mir liegen, nicht von Verzweiflung, Wut und Mutlosigkeit erfassen zu lassen. Segne alle, die für die Kirche und für mich beten, und stärke alle, die der Heilige Geist näher zu dir und zur Kirche geführt hat. Mögen sie nicht durch das Unkraut erstickt werden.
Samstag, 16. März 2019
Ein ruhiger Tag heute mit einem neuen Hauptwachtmeister im Trakt, blond, schweigsam, irgendwie missbilligend. Ich hatte am Morgen darum gebeten, dass man mir einen Besen bringt, damit ich meine Zelle fegen kann, und dass meine Wäsche gewaschen wird. Nichts davon ist geschehen.
Heute Morgen war ich bei dem muslimischen Arzt. Mein Blutdruck war 140 zu 80, perfekt für mich. Ich habe Dr. Muhammad erzählt, dass ich seit einigen Tagen eine heftige Erkältung oder Grippe ausbrüte, und er hat einen Abstrich von meiner Nasenschleimhaut genommen, um herauszufinden, was ich habe. Wenn es die Grippe ist, wäre ich der Erste im Gefängnis! Das Medikament, das er mir verschrieben hat, sollte heute Abend bei mir eintreffen (ist es nicht) oder morgen. Bei meiner Rückkehr konnte ich mir ein bisschen Salz besorgen, sodass ich warmes Salzwasser inhalieren kann, wie es die indischen Bauern machen und wie es mir Dr. Trachtenberg empfohlen hat (Mittel gegen verstopfte Nase).
Mein Brevier für die Fastenzeit ist immer noch nicht eingetroffen, obwohl Kartya versprochen hat, sich darum zu kümmern. Also habe ich mir wieder die Lesungen der ersten Woche im Jahreskreis vorgenommen. Mein Bedarf an Weisheitsliteratur – Jesus Sirach – ist momentan gedeckt, und der achtbare Brief, der Clemens von Rom zugeschrieben wird, bietet mir nicht allzu viel Inspiration.32 Offenbar war in Betracht gezogen worden, ihn in den Kanon des Neuen Testaments aufzunehmen, aber es wundert mich nicht, dass es keinen Platz für ihn gab. Er ist viel weniger merkwürdig als die Apokalypse, aber ein bisschen gewöhnlich.
Mit meinen 20 Seiten von Antonius dem Großen hatte ich auch einige Mühe. Wir sollen den Leib im Zaum halten, »da er ein Gegner und Feind der Seele ist«33, was zum Teil sicher stimmt, aber eben nur zum Teil. Wir haben schon ein Recht darauf, uns für eine Weile wohlzufühlen.
Natürlich betreffen meine Bedenken oder Einwände nur einige einzelne Punkte – schließlich ist Antonius ein, wenn nicht der Gründer der monastischen Bewegung im Osten und ein Experte in Fragen des inneren Lebens.
Er gibt uns jede Menge Stoff zum Nachdenken. So schreibt er zum Beispiel: Wenn ein Mensch »nicht gut ist, weiß er nichts, noch wird er jemals Gott erkennen. Die Art und Weise der Erkenntnis Gottes ist nämlich das Gute.«34
Darin spiegelt sich natürlich das Wort des Psalmisten, wonach nur der Mensch mit reinen Händen und lauterem Herzen hinaufgehen darf zum Berg des Herrn.35 Aber ist das alles, was man darüber sagen kann? Eines der Geheimnisse unserer Zeit ist der wachsende Unglaube – und das zuweilen auch bei Männern und Frauen, die ein tadelloses moralisches Leben führen oder zu führen scheinen. Augustinus hat geschrieben, dass unser Herz unruhig ist, bis es in Gott ruht36, doch so viele abständige Katholiken scheinen in dieser Hinsicht überhaupt keine Unruhe zu verspüren, so als ob sie völlig unsensibel geworden wären – und sie sind damit zufrieden! Ich sträube mich gegen die Schlussfolgerung, dass alle, die nicht glauben, nicht gut sind. Ich denke an meinen Vater, der ein guter Mensch, aber religiös unmusikalisch war, obwohl er später der Kirche gegenüber wohlwollender eingestellt war. Und ich denke an einen meiner Cousins, den gütigsten Menschen, den man sich nur vorstellen kann, der seine Mutter, eine schwierige Person, in ihren letzten Jahren gepflegt hat und der auch seine Frau, mit der er glücklich verheiratet war, gepflegt hat, als sie krank wurde. Zu meiner Überraschung hatte er ein vollkommen irreligiöses Begräbnis.
Generell habe ich den Eindruck, dass die Liebe zum Wohlstand – die zuweilen echter Materialismus ist – und die sexuelle Revolution den Blick für Gott getrübt haben. Dass viele Menschen unzufrieden und rastlos sind, beweisen die Ehen, die in die Brüche gehen, die Alkohol- und Drogenprobleme und die Pornografiesucht.
Die Lehrer an unseren Schulen stehen nun an vorderster Front, wenn es darum geht, den Kindern, die unter den Fehlern und Defiziten ihrer Eltern oder Stiefeltern oder »Onkel« leiden, zu helfen und sie zu unterstützen. Ich erinnere mich an ein brasilianisches Graffiti: Scheidungsverträge werden mit den Tränen der Kinder geschrieben.
Was auch immer diese soziologischen Verwerfungen zu bedeuten haben, ein Teil der Probleme der Kirche ist selbst verschuldet. Wenn Christus der Sohn Gottes ist, dann besitzt seine Lehre eine einzigartige Autorität und bringt, wenn man nach ihr lebt, menschliches Gedeihen hervor. Trotz G. K. Chestertons Pessimismus haben im Lauf der Jahrhunderte viele gute Menschen erfolgreich versucht, ein christliches Leben zu führen. Wenn wir glauben, wir könnten Jesus berichtigen, indem wir die schwierigen Teile seiner Lehre aussortieren oder die Bedeutung von Gebet, Glauben, Kreuz usw. herunterspielen, dann sollten wir nicht überrascht sein, dass die Menschen die Kirche verlassen oder ihr nicht beitreten. Eine Religion, die zu leicht ist, ist eine falsche Religion.
Was genau wollen einige der Reformkräfte in der Kirche ändern? Sie legen nie alle Karten auf den Tisch. Für mich war es ein Aha-Erlebnis, als ich einem hochrangigen europäischen Prälaten gegenüber erklärte, dass das erste Kriterium für einen guten Bischof sein Bekenntnis zum katholischen und apostolischen Glauben sei. Mein Gesprächspartner schäumte förmlich vor Empörung und Missbilligung.
Gott, unser Vater, gib, dass wir deinem Sohn, unserem Erlöser, immer die Treue halten, und hilf den führenden Kirchenmännern zu erkennen, dass die katholische Einheit sich nur auf die apostolische Überlieferung gründen kann.
Die Alternative ist der sichere Niedergang.