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1)Ein Sommer voller Geräusche

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Ich steh jetzt auf und gehe, denn ich hör Tag und Nacht

Den See ans Ufer plätschern, die Wellen kräuseln sacht:

Gleich, ob ich auf dem Feldweg, auf grauem Pflaster steh,

Ganz tief im Herzen hör ich den See.

William Butler Yeats, Die Seeinsel von Innisfree1

Jedes Mal, wenn ich ein Stück Grassoden anhob, sah ich das Gleiche: Ein weißes Komma, das sich zwischen den Graswurzeln wand. Ich klaubte eines auf. Es besaß einen kleinen ingwerfarbenen Kopf und winzige Beinchen. Seine Haut war so straff gespannt, dass sie an den Segmenten beinahe platzen wollte. Am Schwanzende war der indigofarbenen Strich seines Verdauungstrakts zu sehen. Ich ging davon aus, dass es sich um den Engerling eines Maikäfers handelte, jenes Käfers mit dem bronzefarbenen Rücken, der im Frühsommer ausschwärmt. Einen Moment lang sah ich noch zu, wie er zuckte, dann steckte ich ihn mir in den Mund. Als er auf meiner Zunge zerplatzte, erlebte ich zwei Empfindungen, die mich wie Blitze durchzuckten. Die erste war der Geschmack. Er war süß, cremig, leicht rauchig, wie Alpenbutter. Die zweite betraf die Erinnerung. Ich wusste sofort, warum ich die Eingebung hatte, das Ding ließe sich essen. Ich stand in meinem Garten, Graupel bohrten sich in meinen Nacken, und erinnerte mich.

Als ich aufwachte, brauchte ich einen Moment, bis mir klar war, wo ich mich befand. Über meinem Kopf wogte und knallte eine blaue Plane im Wind. Die Pumpen liefen schon, ich musste also verschlafen haben. Ich schwang meine Beine über den Rand der Hängematte und saß blinzelnd in dem hellen Licht, starrte über das zerstörte Land. Die Männer standen schon bis zur Hüfte im Wasser und spritzten mit Hochdruckschläuchen die Kiesbänke frei. In der Nacht waren ein paar Schüsse gefallen, aber Leichen waren keine zu sehen.

Die Bilder der vergangenen Wochen gingen mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an Zé, den Massenmörder, dem die Landebahn in Macarão gehörte, wie er mit seinen schießwütigen Männern in die Bar kam und den Laden aufmischte. Ich erinnerte mich auch an den Mann, der später herausgetragen wurde, in der Brust ein Loch von der Größe eines Apfels. Ich dachte an João, einen mestizo aus dem Nordosten Brasiliens, der zehn Jahre lang den Amazonas zu Fuß durchstreift hatte, bis hinauf zu den Minen in Peru und Bolivien, um sich dann weitere 3500 Kilometer durch die Wälder zu schlagen und hier zu landen. »Ich habe in meinem Leben nur drei Männer getötet«, erzählte er, »und dass sie starben, war absolut notwendig. Aber wenn ich hier einen Monat bleibe, würde ich nochmal so viele umbringen.«

Ich erinnerte mich an den Mann, der mir die seltsame Schwellung an seiner Wade zeigte. Als ich sie mir genauer betrachtete, wimmelte das Fleisch von langen gelben Maden. Auch an den Professor mit dem gepflegten schwarzen Bart, der Goldrandbrille und der strengen asketischen Art erinnerte ich mich, an den zynischen Kopf, der für einen weniger belesenen Besitzer die Aufsicht über das größte Claim versah. Er sei, so sagte er, bevor es ihn hierher verschlagen habe, Direktor der Universität von Rondônia gewesen.

Aber allen voran musste ich an den Mann denken, der von den Schürfern Papillon genannt wurde. Blond und muskulös, wie er war, mit einem Schnurrbart à la Asterix, überragte er die kleinen dunklen Typen, die von Armut und Landraub getrieben hierhergekommen waren. Von den Chefs, den Händlern, den Luden und den Besitzern der Landebahnen abgesehen war er der Einzige, der sich freiwillig in diese Hölle begeben hatte. Bevor er, ein Franzose, sich dem Goldrausch anschloss, war er im Süden Brasiliens als Techniker für Landwirtschaftsmaschinen tätig gewesen. Er hatte noch kein Gold gefunden und saß nun hunderte Kilometer von der nächsten Stadt entfernt in den Wäldern Roraimas in der Falle, so mittellos wie alle anderen. Hier war ein Mann, der alles riskiert, der Behaglichkeit und Sicherheit aufgegeben hatte für ein Leben in gnadenloser Unsicherheit. Seine Chancen, aus dieser Situation lebend, zahlungskräftig und gesund herauszukommen, standen gering. Aber ich war nicht der Überzeugung, er habe die falsche Wahl getroffen.

Ich putzte mir die Zähne, nahm mein Notizbuch, ging hinaus, über den Schlamm und den Kies. Die Temperatur stieg und im umgebenden Wald erstarb der Lärm der Rufe, Pfeiftöne und Triller. Es war nun drei Wochen her, dass Barbara, die Kanadierin, mit der ich arbeitete, einen Weg durch den Polizeikordon am Boa-Vista-Flughafen gefunden und uns unregistriert auf einen Flug zu den Minen gebracht hatte. Gefühlt waren es Monate. Wir hatten den Schürfern zugesehen, wie sie die Adern aus dem Wald rissen: die Flusstäler, deren Sedimente von Gold durchsetzt waren. Wir waren auf Belege für den einseitigen Krieg gestoßen, den manche gegen die in der Gegend ansässigen Yanomami führten, und für den physischen und kulturellen Kollaps der Gemeinschaften, über die sie hergefallen waren. Wir hatten das Gewehrfeuer gehört, das jede Nacht aus den Wäldern kam, wo Banditen den Schürfern auflauerten, Diebe exekutiert wurden oder Männer, denen das Glück hold gewesen war, um das Gold kämpften, das sie gefunden hatten. In den sechs Monaten, seitdem der eigentliche Goldrausch hier einsetzte, waren von den 40 000 Schürfern 1700 durch Gewehrkugeln getötet worden. Von den Yanomami waren fünfzehn Prozent an Krankheiten gestorben.

Wegen des internationalen Skandals, den die Invasion auslöste, ließ die brasilianische Regierung die Minen nun räumen und die Schürfer zu Enklaven in anderen Gebieten des Yanomami-Lands abtransportieren. Von dort, das wussten die Schürfer, konnten sie wieder in ihre alten Claims einfallen, sobald das Interesse der restlichen Welt erlahmen würde. Die Bundespolizei hatte die Versorgungslinien unterbrochen, auf den Landepisten waren seit einigen Tagen keine Flugzeuge mehr gelandet. Die Schürfer brauchten ihren letzten Diesel auf und bereiteten sich auf ihren Abzug vor. Am Tag zuvor hätte eigentlich die Polizei eintreffen sollen, um noch vor der Räumung die Waffen zu beschlagnahmen, und die Männer waren den ganzen Morgen über in den Wald gegangen, um ihre Schusswaffen, in Plastik eingewickelt, zu vergraben. Ich war auf Beobachtungsstation geblieben, doch die Polizei war nicht aufgetaucht. Barbara – mein Gott, wo zur Hölle war Barbara?

Sie war gestern aufgebrochen, um in den Bergen ein Yanomami-Dorf ausfindig zu machen, und wollte eigentlich am heutigen Abend zurück sein. Aber niemand hatte sie gesehen. Ich hielt Ausschau in den von den Schürfern errichteten Hütten und Bars, unter den Trauben von Männern am Boden der Gruben – ohne Erfolg. Ich stieß auf meinen Freund Paolo, einen Mechaniker, der die Ureinwohner in Auseinandersetzungen mit anderen Schürfern verteidigt hatte. Zusammen schlugen wir uns das Tal hinauf, um sie zu suchen. Der Fluss war orange und tot, erstickt von dem Lehm des Waldes, der von den Minen aufgewirbelt wurde. Links und rechts war das Tal eine Wüstenei aus Gruben, Abraumhalden und umgestürzten Bäumen. Arbeiter auf einem Junior Blefé genannten Feldstück erzählten, Barbara sei zwar tags zuvor vorbeigekommen, aber nicht wieder zurückgekehrt. Ein Mann mit einem Trinkergesicht und einem blauen Auge wusste den Weg zum Dorf und erklärte sich bereit, uns zu führen. Wir gingen los, rannten, liefen in die Berge.

Bald nachdem wir in die Dunkelheit des Waldes vorgestoßen waren, stießen wir auf die Abdrücke von Barbaras Turnschuhen, sie waren einen Tag alt und überlagert von den nackten Fußspuren der Yanomami. Ich hatte meinen Blick auf den Boden gerichtet, aber Paolo hielt immer wieder mit lautem Rufen inne: »Sieh nur dieses Wasser, sieh nur die Bäume, wie schön, sind sie nicht schön?« Ich stoppte und starrte für einen Moment, sah Bäume, die von Moos und Epiphyten über das klare Wasser gebeugt wurden, in Lichtflecken schwebten Wasserjungfern.

Barbaras Fußabdrücken folgend liefen wir weiter, rutschten über den lehmigen Pfad. Gegen Mittag ging es steil aufwärts; wir kletterten und ich hatte das Gefühl, durch ein Tuch einzuatmen. Bald sah ich es vor uns hell werden: Wir erreichten den Kamm. Von dort sahen wir auf der gegenüberliegenden Talseite Frauen, die sich, nur mit einem Lendentuch bekleidet, durch einen Bananenhain bewegten und Körbe mit Früchten trugen. Hügel auf Hügel, bewaldet und unberührt, versanken in der Stille. Ein paar Minuten noch blieben wir versteckt zwischen den Bäumen, dann gingen wir hinunter durch den Talgrund und wieder in die Gärten hinauf, riefen auf Portugiesisch, dass wir Freunde seien. Die Frauen hielten an und beobachteten, wie wir näher kamen. Ich streckte meine Hände aus; sie schüttelten sie mit scheuem Lächeln. »Weiße Frau«, sagte ich. »Habt ihr die weiße Frau gesehen?« Mit den Händen ahmte ich Barbaras Größe und ihr langes Haar nach.

Sie lachten und wiesen den Hang hinauf, in den Wald hinter ihrem Rücken. Wir rannten wieder los, über die Anhöhe und in das nächste Tal hinunter. Wir strauchelten, schon erschöpft, durch das Tal, stolperten über Wurzeln und stießen gegen Bäume. Als wir um eine Windung des Pfads bogen, hielten wir an.

In einer an einem Bach gelegenen Lichtung saß oder kniete eine Gruppe Menschen, die honigfarbene Haut gekühlt von dem buntfleckigen Licht des Waldes. Die Frauen trugen Federn an den Ohren, waren bemalt mit Flecken und Streifen von Wildkatzen, und sie trugen die Schnurrhaare des Jaguars: ihre Nasen und Wangen waren von getrockneten Grashalmen durchbohrt. In der Mitte des Kreises saß Barbara, strahlend wie eine Blume im dunklen Grün des Waldes.

Sie drehte sie um und lächelte: »Schön, dass ihr es geschafft habt.«

Mit den jungen Yanomami gingen wir einen Pfad entlang, der zu ihren malocas führte: runde Gemeinschaftshäuser, die fast bis auf den Boden hinunter mit Palmblättern gedeckt waren. Ich zog Hemd und Schuhe aus – alle anderen waren so gut wie nackt – und setzte mich. Die Kinder scharten sich um mich, grinsten, kicherten, verbargen ihre Gesichter, wenn sie angeschaut wurden. Sie zogen an meinen Achselhaaren: die Yanomami besitzen keine. Man gab mir einen Pfriem grüner Blätter und als ich ihn unter meine Lippen schob und daran saugte, vergaß ich meinen Hunger.

Ein junger Mann bahnte sich einen Weg durch die Menge und gestikulierte, ich solle doch dabei helfen, die Gemeinschafts-maloca zu vergrößern: Ich sollte auf das Dach klettern und dort eine Plane anbringen, die die Gruppe von den Schürfern erhalten hatte. Ich stand ein paar Stunden auf dem Dach und flickte Löcher – unter Anleitung des jungen Manns. Als ich wieder unten war, fragte ich Barbara, warum er sich so herrisch aufführt.

»Er ist der Häuptling«, antwortete sie.

»Aber er ist doch gerade mal achtzehn.«

Sie warf einen Blick in die Runde. »Die älteren Männer liegen alle im Sterben oder sind tot.«

Die Hängematten im Wohnbereich der maloca waren von Kranken belegt. Als ich mich neben einen fiebernden Jungen setzte, brachen zwei alte Frauen durch den Schirm aus Bananenblättern, schwangen zuckend die Hüften, kreischten, fegten ihre Stöcke über den Boden, die Augen fest zugekniffen. Bevor ich aus dem Weg gehen konnte, wurde ich an den Knöcheln getroffen. Die Frauen stampften um die Hängematte, schrien und schlugen die Luft mit ihren Stöcken.

Das Gekreische ging noch fast den ganzen Tag weiter. Später erzählte man mir, dass Heilerinnen bei den Yanomami eigentlich unbekannt sind: Das war nur erklärlich, weil die Männer fehlten. Die alten Frauen führten mich zu einer Hängematte eines zwölf-, dreizehnjährigen Mädchens und machten mir vor, was ich tun sollte. Ich stampfte und schrie, wedelte mit den Armen durch die Luft, fegte etwas von der Oberfläche ihres Körpers und stieß es aus der maloca heraus. Von den zwei Frauen genötigt, tanzte und gellte ich schneller und lauter, stampfte und sprang über die Hängematte, bis ich fast ohnmächtig wurde und den Heilerinnen in die Arme fiel.

Als ich mich erholt und im Bach gewaschen hatte, brachten mir die Frauen etwas zu essen: Auf einem Bananenblatt hatten sie gebackene Kochbananen, Pilze und Käferlarven angerichtet, die Letzteren embryoartig zusammengekrümmt und sich noch windend. Meine Hände verharrten über dem Blatt. »Nur zu«, gestikulierten die Frauen. Ich klaubte eine Larve und öffnete den Mund.

Ich lehnte auf meinem Spaten und sah auf den Boden. An diesem garstigen Dezembertag – ich war erst seit Kurzem in Wales – holte mich die Kleinheit meines Lebens ein. Ich weiß nicht genau, wie es hatte passieren können, doch irgendwie führte ich plötzlich ein Leben, in dem schon das Einräumen des Geschirrspülers eine interessante Herausforderung darstellte.

Die Invasion Roraimas, deren Zeuge ich beinahe zwanzig Jahre zuvor gewesen war, steht für alles, was ich verabscheue. Armut und Verzweiflung hatten die Schürfer aus dem Nordosten Brasiliens, von denen viele aufgrund der Machenschaften von Geschäftsleuten und korrupten Beamten von ihrem Grund und Boden vertrieben worden waren, in die Minen getrieben. Doch die Leute, die das Ganze organisiert, die das Geld für den Bau der Landebahnen und den Kauf der Maschinen hatten, töteten und zerstörten aus reiner Gier. Wäre in Brasilien keine neue Regierung an die Macht gekommen und wären die Schürfer nach etlichen Monaten Verzögerung nicht aus dem Land der Yanomami vertrieben worden, hätte den Stamm das gleiche Schicksal ereilt wie die meisten derartigen Volksgruppen auf dem amerikanischen Doppelkontinent: Er wäre ausgelöscht worden. Der alten Regierung war dies bewusst gewesen. Der Genozid war nicht intendiert, er war nur eine unvermeidliche und kaum bedauerliche Folge ihrer Politik.

Und doch war ich von dem, was ich verabscheute, fasziniert, sogar als ich in den Goldminen war und die Schrecken der Invasion erlebte. Die Minen ließen die Metaphern, mit denen wir leben, zerplatzen. In den reichen Nationen betreiben wir unseren Goldhandel mit Zahlen und sind in unserem Trachten so sehr spezialisiert, dass wir Gefahr laufen, viele unserer Fertigkeiten zu verlieren. Gold war in den Minen Gold, und die Männer machten sich die Hände schmutzig – in jederlei Hinsicht. Konflikte wurden nicht durch gesetzliche Instrumente oder auf den Sofas von Fernsehstudios gelöst, sondern durch Schießereien in den Wäldern. All das war rauer, wilder und fesselnder als das Leben, das ich bis dahin geführt hatte, und als das Leben, das ich danach führen sollte.

J. G. Ballard hat uns daran erinnert, dass »die Vorstädte von Gewalt träumen. Eingelullt in ihre schläfrigen Villen, geschützt von wohlwollenden Einkaufszentren, wartet man dort geduldig auf die Alpträume, die sie in einer zornigeren Welt aufwachen lassen werden.«2 Noch besitzen wir die Angst, den Mut, die Aggression, die einst entstanden sind, damit wir uns durch unser Streben und unsere Krisen erleben können. Und wir spüren noch immer den Drang, uns in ihnen zu üben. Doch unser sublimiertes Leben nötigt uns zur Erfindung von Herausforderungen als Ersatz für die Schrecken, derer wir verlustig gegangen sind. Die Folgen unserer Natur fürchtend, haben wir uns selbst eingehegt und führen aus Angst, andere zu reizen oder zu beschädigen, ein kleinlautes Leben. »So macht Gewissen Feige aus uns allen.«3

Die Sozialgeschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte ist vor allem von der oft widerwilligen Entdeckung geprägt, dass andere Menschen gleich welcher Sprache, Hautfarbe, Religion oder Kultur ähnliche Bedürfnisse und Wünsche haben wie wir. Seit die Massenkommunikation jenen, deren Rechten wir einst keine Beachtung schenkten, Mittel an die Hand gegeben hat, für sich selbst zu sprechen und die Auswirkungen unserer Entscheidungen auf ihr Leben zu schildern, sehen wir uns zunehmend durch die nun unumgänglich gewordene Rücksicht auf die anderen eingeschränkt. Nicht minder wirksam ist heute das Wissen, dass so gut wie alles, was wir tun, Folgen für die Umwelt hat. Die durch die Technik ermöglichte Ausweitung unseres Lebens verleiht uns eine Macht über die natürliche Welt, die zu nutzen wir uns nicht länger leisten können. In allem, was wir tun, müssen wir heute auf das Leben der anderen Rücksicht nehmen, voller Bedachtsamkeit, Selbstbeschränkung und peinlicher Genauigkeit. Wir dürfen nicht länger leben, als gebe es kein Morgen.

In vielen Nationen wachsen mächtige Bewegungen heran von Menschen, die diese Einschränkungen ablehnen. Sie protestieren gegen Steuern, Gesundheits- und Sicherheitsbestimmungen, Handelsregulierungen, Rauchverbote, Tempolimits oder das Verbot von Schusswaffen. Aber vor allem rebellieren sie gegen Einschränkungen um des Umweltschutzes willen. Wie die Leute, die die Invasion des Yanomami-Landes vorangetrieben haben, treten sie Verbote, die einzuhalten uns der Anstand gebietet, mit Füßen. Sie sind der festen Meinung, sie könnten gleich, wessen Nase gerade im Weg ist, ihre Fäuste schwingen, als sei dies ein Menschenrecht.

Ich hege kein Bedürfnis, zu diesen Leuten zu gehören. Ich akzeptiere die Notwendigkeit von Beschränkungen, eines Lebens der Selbstbeschränkung und Sublimierung. Doch an diesem grauen Tag in Wales realisierte ich, dass ich so, wie ich bisher gelebt habe, nicht mehr weiterleben konnte. Ich konnte nicht einfach weiterhin am Schreibtisch sitzen und schreiben, für meine Tochter sorgen und nach dem Haus schauen, joggen, nur um fit zu bleiben, bloß etwas erstreben, was unsichtbar bleibt, die Jahreszeiten vorüberziehen sehen, ohne wirklichen Bezug dazu. Ich hatte diesem Leben zu wenig angeboten, dem Leben des Geistes,

Dem, was sich nicht in unserm Nachruf findet

Nicht in Aufzeichnungen, die die Spinne gütig überflort,

Noch unterm Siegellack, den der Notar erbricht

In unsern leeren Zimmern4

Ich glaube, ich war ökologisch gelangweilt.

Mir liegt nicht daran, die Zeit unserer Evolution zu romantisieren. Ich habe bereits länger gelebt, als die Lebensspanne der meisten Jäger-Sammler währte. Ohne Ackerbau, sanitäre Maßnahmen, Impfung, Antibiotika, Chirurgie und Augenoptik wäre ich schon tot. Wie ein Kampf um Leben und Tod zwischen mir, der ich kurzsichtig, einen Speer mit Steinspitze in der Hand, durch die Gegend stolpere, und einem riesigen wutschnaubenden Auerochsen enden würde, ist leicht abzusehen.

Untersucht man Ökosysteme der Vergangenheit, so zeigt sich, dass die Menschen, so rudimentär ihre Technologie und so klein ihre Zahl auch gewesen sein mag, beim Einfall in neue Gebiete schon bald viele der dort lebenden Wildtiere – insbesondere die größeren Tiere – ausgerottet hatten. Es gab keinen Zustand der Gnade, kein goldenes Zeitalter, in dem die Menschen in Harmonie mit der Natur gelebt hätten. Mir liegt auch nicht daran, zu den Opfer- und Hinrichtungsstätten jener Zivilisationen, die wir hinter uns gelassen haben, zurückkehren.

Schon gar nicht bin ich auf der Suche nach Authentizität: Das ist für mich kein brauchbarer oder sinnvoller Begriff. Selbst wenn es sie geben sollte, wäre sie per definitionem unmöglich zu erreichen, indem man sie erstrebt. Lediglich meinen Hunger nach einem reicheren, raueren Leben wollte ich stillen, in diesem Leben, das ich damals führte. Doch irgendwie musste ich diesen Drang mit dem Leben in Übereinstimmung bringen, das ich nicht so einfach aufgeben konnte: Mein Kind aufziehen, meine Hypotheken abbezahlen, die Rechte und Bedürfnisse meiner Mitmenschen respektieren, mich davon abhalten, der Natur Schaden zuzufügen. Erst als ich über ein selten gebrauchtes Wort stolperte, wurde mir klar, wonach ich suchte.

Das Wort ist noch jung, besitzt aber schon viele Bedeutungen! Als 2014 das Wort »Auswilderung« (rewilding) Eingang in die Lexika fand, war es schon heiß umstritten.5 Als es geprägt wurde, meinte es das Freilassen von in Gefangenschaft gehaltenen Tieren in die Wildnis. Bald wurde die Bedeutung auch auf die Wiedereinführung von Tier- und Pflanzenarten in Habitate ausgeweitet, aus denen diese verdrängt worden waren. Manche Leute verwendeten das Wort nicht nur für die Wiedereinführung einzelner Arten, sondern die ganzer Ökosysteme: Wiederherstellung der Wildnis. Später wendeten Anarcho-Primitivisten das Wort auch auf das Leben des Menschen an und meinten damit ein Wildwerden der Menschen und ihrer Kulturen. Die zwei Bedeutungen, die für mich von Interesse sind, unterscheiden sich etwas von den genannten.

Die Rückverwilderung natürlicher Ökosysteme, die mich interessiert, bedeutet nicht den Versuch, sie in einen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, sondern schafft die Voraussetzung, dass ökologische Prozesse wieder in Gang kommen. In Ländern wie dem meinen sind die Naturschutzbewegungen bei aller guten Absicht bestrebt, lebende Systeme in der Zeit einzufrieren. Sie versuchen, Tiere und Pflanzen davon abzuhalten, diese Systeme zu verlassen oder – falls sie nicht schon darin vorkommen – in sie einzudringen. Sie versuchen die Natur zu verwalten, wie man einen Garten pflegt. Viele Ökosysteme, etwa Heide- und Moorlandschaften, Hochmoore und Grasland, die man zu erhalten trachtet, werden von der niedrigen, buschigen Vegetation dominiert, die entsteht, wenn Wälder wiederholt gerodet und abgebrannt werden. Diese Vegetation wird von Naturschutzgruppen gehegt und gehätschelt; mit der intensiven Beweidung durch Schafe, Rinder und Pferde verhindern diese Gruppen die Umwandlung solcher Gebiete in Waldland – als hätten sich die Naturschützer im Amazonas entschlossen, anstatt des Regenwaldes die dortigen Rinderfarmen zu schützen.

Rückverwilderung erkennt an, dass Natur nicht nur aus einer Ansammlung von Arten besteht, sondern auch ihre stets veränderlichen Beziehungen untereinander und mit ihrer physischen Umgebung eine Rolle spielen. In dieser Sichtweise bedeutet das Anliegen, ein Ökosystem in seiner Entwicklung zu stoppen und in einem Status quo zu halten, es sozusagen wie ein Glas Gurken einzuwecken, soviel wie etwas zu schützen, das wenig Beziehung zur natürlichen Welt aufweist. Zu dieser Sichtweise haben im Übrigen die faszinierendsten wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Zeit beigetragen.

Ökologen haben in den vergangenen Jahrzehnten die Existenz breitgefächerter trophischer Kaskaden entdeckt. Dabei handelt es sich um Prozesse, die von Tieren an der Spitze der Nahrungskette ausgelöst werden und die bis an die unterste Ebene der Nahrungskette durchschlagen. Prädatoren und große Pflanzenfresser sind in der Lage, die Orte, an denen sie leben, umzuformen. In manchen Fällen verändern sie dabei nicht nur das Ökosystem, sondern auch die Bodenzusammensetzung, das Verhalten von Flüssen, die Chemie der Ozeane und sogar die Zusammensetzung der Atmosphäre. Befunde wie diese legen nahe, dass die natürliche Umwelt aus weit faszinierenderen und komplexeren Systemen besteht, als wir bislang dachten. Mit ihnen verändert sich unser Verständnis vom Funktionieren der Ökosysteme und sie stellen bestimmte Modelle des Naturschutzes radikal infrage. Zudem liefern sie ein stichhaltiges Argument für die Wiedereinführung großer Raubtiere und anderer verschwundener Arten.

Bei der Recherche zu diesem Buch bin ich mit der Hilfe Adam Thorogoods, eines visionären Försters, auf eine aufwieglerische Idee gestoßen, die mit Ausnahme einer beiläufigen Feststellung in einem Wissenschaftsartikel noch nirgendwo erörtert worden ist.6 Ich hoffe, dass diese Idee dazu anregen wird, die Funktionsweise unserer Ökosysteme und auch das Ausmaß, in dem sie als naturgegeben wahrgenommen werden, neu zu bewerten. Wir glauben, dass es schlagkräftige Indizien für die Annahme gibt, dass sich zahlreiche in Europa heimische Bäume und Büsche unter dem Einfluss von Elefantenattacken entwickelt haben, die zu spezifischen Abwehrstrategien führten. Der europäische Waldelefant (Elephas antiquus), der mit der heute noch in Asien lebenden Art verwandt war, lebte in Europa bis vor etwa 40 000 Jahren, das ist kaum mehr als ein Ticken der Evolutionsuhr.7 Er starb wahrscheinlich durch Überjagung aus. Wenn die Indizien tatsächlich so stringent sind, wie es scheint, dann legen sie nahe, dass diese Art die gemäßigten Zonen Europas dominierte. Unsere Ökosysteme sind offenbar an den Elefanten angepasst.

Mir liegt es allerdings fern, die Landschaften oder Ökosysteme der Vergangenheit wieder erschaffen, ursprüngliche Wildnis – als sei dies möglich – wiederherstellen zu wollen. Rückverwilderung heißt für mich, dem Drang, die Natur kontrollieren zu müssen, zu widerstehen und ihr stattdessen die Möglichkeit einzuräumen, sich ihren eigenen Weg zu suchen. Dazu gehört, verschwundene Pflanzen und Tiere wieder einzubürgern (und in einigen Fällen exotische Arten, die nicht der einheimischen Tierwelt angehören können, auszumerzen), Zäune abzubauen, Entwässerungsgräben zu schließen, aber ansonsten den Dingen ihren Lauf zu lassen. Auf dem Meer bedeutet es, die kommerzielle Fischerei und andere Formen der Ausbeutung auszuschließen. Die entstehenden Ökosysteme sind dann weniger als Wildnis, sondern als selbstgesteuert zu beschreiben: Nicht vom Menschen beherrscht, sondern von ihren eigenen Prozessen gelenkt.* Rückverwilderung kennt keine Ziele, besitzt keine Anschauung darüber, wie ein »richtiges« Ökosystem oder ein »richtiges« Artengefüge auszusehen hätte. In ihr ist kein Trachten, aus dem eine Heide, eine Wiese, ein Regenwald, ein Kelpgarten oder ein Korallenriff hervorgehen soll. Es ist die Natur, die entscheidet.

Die in unserem veränderten Klima, auf unseren ausgelaugten Böden entstehenden Ökosysteme werden anders aussehen als die in der Vergangenheit vorherrschenden. Wohin sie sich entwickeln, ist nicht vorhersehbar – ein Grund auch, warum dieses Projekt so spannend ist. Wo sich der Naturschutz allzu oft an der Vergangenheit orientiert, blickt die so verstandene Rückverwilderung in die Zukunft.

Die Rückverwilderung von Land und Meer könnte selbst in ausgelaugten Regionen wie in Großbritannien und Nordeuropa Ökosysteme produzieren, die so überreich und faszinierend sind wie jene Gegenden, die zu Gesicht zu bekommen Enthusiasten um den halben Globus reisen. Ich hoffe zudem, dass durch diese Strategie der Aufenthalt in einer großartigen, freilebenden Tierwelt für jedermann möglich wird.

Mich interessieren, wie gesagt, zwei Definitionen der Rückverwilderung. Die zweite ist die Rückverwilderung des menschlichen Lebens. Sehen manche Primitivisten einen Konflikt zwischen der zivilisierten und der wilden Welt, hat die Rückverwilderung, wie ich sie im Auge habe, nichts mit dem Abstreifen der Zivilisation im Sinn. Ich bin der Überzeugung, dass wir die Vorzüge einer avancierten Technik ebenso genießen können wie ein Leben, das mehr an Abenteuer und Überraschungen bietet. Bei der Rückverwilderung geht es nicht darum, die Zivilisation aufzugeben, sondern sie zu verbessern. Es gilt, »nicht den Menschen abgewandt, doch mit Natur vertrauter« zu werden.8

Würde man eine ausgefeilte, von hohen Ernteerträgen gestützte Ökonomie aufgeben, wäre das katastrophal. Bevor der Ackerbau auf der Britischen Insel begann, hat sie offenbar höchstens 5000 Menschen ernährt.9 Wenn diese Menschen gleichmäßig verstreut gewohnt hätten, hätte jede Person 54 Quadratkilometer beansprucht, eine Fläche, die etwas größer ist als das Stadtgebiet von Southampton (das heute 240 000 Einwohner beherbergt).10 Das war anscheinend die Anzahl der Menschen, die sich durch Jagen und Sammeln ernähren ließ. (Gleichwohl haben die Männer und Frauen der Mittelsteinzeit das Vorkommen großer Säugetiere beträchtlich reduziert.) Ich habe Primitivisten getroffen, die mit der Fantasie liebäugelten, zu einer Jäger-und-Sammler-Ökonomie zurückzukehren. Allerdings würde dies die Eliminierung fast aller Menschen voraussetzen.

Aus dem gleichen Grund bin ich der Auffassung, dass eine extensive Rückverwilderung nicht auf ertragsfähigem Land erfolgen sollte. Sie kommt besser an Orten zur Anwendung, an denen die Ertragsfähigkeit so niedrig ist, dass Ackerbau nur noch aufgrund der Großzügigkeit der Steuerzahler stattfinden kann, insbesondere etwa in den Bergregionen. Da aufgrund mangelnder Finanzierung die Grundversorgungsleistungen allerorts in Europa (und in einigen anderen Teilen der Welt) gekappt werden, können Landwirtschaftssubventionen in ihrer heutigen Form sicherlich nicht länger ausbezahlt werden. Ohne sie allerdings kann man sich schwerlich vorstellen, wie der Landbau in den genannten Regionen noch aufrecht erhalten werden soll: zum Guten oder Schlechten wird er nach und nach aus den Bergregionen verschwinden.

Für manche Leute bedeutet Rückverwilderung den Rückzug des Menschen aus der Natur; für mich bedeutet sie seine neuerliche Einbindung. Ich würde nicht nur gerne eine Wiedereinführung von Wolf, Luchs, Vielfraß, Biber, Wildschwein, Elch, Wisent und – vielleicht eines Tages, in ferner Zukunft – von Elefanten und anderen Arten erleben, sondern auch von Menschen. In anderen Worten: Ich sehe in der Rückverwilderung eine verbesserte Möglichkeit für den Menschen, sich mit der natürlichen Welt zu verbinden und sich an ihr zu erfreuen.

Verwildert nimmt auch jenes Leben ins Visier, das wir nicht mehr führen können, so wie die – oft unabdingbaren – Zwänge, die uns davon abhalten, unsere vernachlässigten Fähigkeiten zu üben. Es legt dar, wie ich selbst versucht habe, innerhalb dieser Zwänge mein eigenes Leben wieder wilder zu machen und der ökologischen Langeweile zu entrinnen. Mit Sicherheit bin ich nicht der Einzige, der ein unerfülltes Bedürfnis nach einem wilderen Leben verspürt, und ich möchte behaupten, dass dieses Bedürfnis zu einer bemerkenswerten kollektiven Wahnvorstellung geführt haben dürfte, an der heute tausende Menschen leiden und die in der fast perfekten Abkapselung des Wunsches nach einem weniger gebändigten, weniger vorhersehbaren Ökosystem zu bestehen scheint.

Wenn Sie mit Ihrem Leben in all seinen Facetten zufrieden sind, wenn es bereits so bunt und überraschend ist, wie Sie es sich immer gewünscht haben, wenn das Entenfüttern schon das höchste der Naturgefühle ist, das sie erleben möchten, dann ist dieses Buch wahrscheinlich nichts für Sie. Wenn Sie aber, wie manchmal ich, das Gefühl haben, Sie kratzten an den Mauern Ihres Lebens, wenn Sie hoffen, einen Ausweg in eine hinter den Mauern liegende größere Welt zu finden, dann dürften Sie in diesem Buch etwas entdecken, in dem Sie sich wiedererkennen. Wie wir unseren Platz in der Welt verorten, ihre Ökosysteme verstehen und die Mittel, mit denen wir uns mit ihnen verbinden können, wahrnehmen, möchte ich auf den Prüfstand stellen.

Damit hoffe ich, zu einem positiven Umweltschutz zu ermutigen. Die lebenden Systeme der Erde haben im zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert eine von Zerstörung und Entwürdigung gekennzeichnete Behandlung erfahren. In dem Versuch, dieses Gemetzel zu stoppen, haben Umweltschützer deutlich erklärt, welche Dinge die Menschen unterlassen sollten. Das Argument, das wir anführten, lautete, dass bestimmte Freiheiten – die Freiheit, der Umwelt Schaden zuzufügen, sie zu verschmutzen und zu vergeuden – eingeschränkt werden müssten. Für Verfügungen dieser Art gibt es gute Gründe, im Gegenzug aber hatten wir bisher nur wenig zu bieten. Wir haben lediglich darauf gedrungen, dass die Leute weniger konsumieren, weniger reisen, nicht unbekümmert, sondern mit Bedacht leben, den Rasen nicht betreten sollen. Da wir keine neuen Freiheiten im Austausch gegen die alten anzubieten haben, werden wir oft für Asketen, Spielverderber und Pedanten gehalten. Wir wissen, wogegen wir sind; jetzt heißt es erklären, wofür wir eintreten.

Verwildert tritt für einen Umweltschutz ein, der die Lebensdimension der Menschen nicht einschränkt, sondern erweitert, ohne das Leben anderer oder die Textur der Biosphäre zu beschädigen, und zieht dabei Regionen in Wales, Schottland, Slowenien, Polen, Ostafrika, Nordamerika und Brasilien als Fallstudien heran, an denen die Praxis zeigt, was gut oder schlecht funktioniert. Einen Umweltschutz, der im Austausch gegen Freiheiten, die wir einzuschränken versuchen, neue anbietet. Einen, der große Land- und Meeresgebiete auf seiner Zukunftsagenda hat, die sich selbst regulieren, Orte, die wieder von dort verschwundenen wilden Tieren bevölkert werden und an denen wir frei umherstreifen können.

Vielleicht am wichtigsten: Es ist ein Umweltschutz, der Hoffnung bietet. Die Rückverwilderung sollte den Schutz bedrohter Orte und Arten nicht ersetzen; die Geschichte, die sie vorbringt, lautet allerdings, dass der ökologische Wandel nicht immer die gleiche Richtung einzuschlagen hat. Im zwanzigsten Jahrhundert hatte der Umweltschutz einen stummen Frühling vorausgesehen, wobei die weitere Beeinträchtigung der Biosphäre unausweichlich schien. Die Rückverwilderung bietet Hoffnung auf einen geräuschvollen Sommer, in dessen Verlauf zumindest in manchen Weltteilen zerstörerische Prozesse eine Umkehrung erfahren.

Wie alle Visionen muss auch die Rückverwilderung fortwährend infrage gestellt und auf ihre Folgen abgeklopft werden. Sie sollte nur mit der Zustimmung und dem Enthusiasmus derjenigen erfolgen, die auf dem betreffenden Land arbeiten. Sie darf auf keinen Fall als Instrument der Enteignung und Zwangsräumung benutzt werden. Ein Kapitel des Buchs beschreibt erzwungene Rückverwilderungsmaßnahmen, wie sie hie und da auf der Welt stattgefunden haben, sowie die menschlichen Tragödien, die mit ihnen einhergehen. Rückverwilderung sollte zum Wohl der Menschen stattfinden und nicht um einer Abstraktion willen, die wir als Natur bezeichnen. Sie sollte die Welt, in der wir leben, verbessern.

Die Recherchen zu diesem Buch sind ein großes Abenteuer gewesen: seine Themen gehören zu den bezauberndsten, denen ich je nachgegangen bin. Sie haben mich an wilde Orte geführt, mich mit dem wilden Leben und mit leidenschaftlichen Menschen in Kontakt gebracht. Durch sie bin ich mit überaus faszinierenden Erkenntnissen im Bereich der Biologie, der Archäologie, der Geschichte und der Geographie in Berührung gekommen. Sie haben mein Leben tiefgreifend verändert. Bisweilen kam es mir bei meinen Nachforschungen vor, als würde ich, wie in der Erzählung vom König von Narnia, durch einen Kleiderschrank in eine andere Welt treten. Die hier erzählte Geschichte beginnt eher sachte in dem Bemühen, mich mit den Ökosystemen direkt vor meiner Haustür zu beschäftigen und in ihnen etwas von dem unbändigen Geist zu entdecken, den ich so gerne wiedererstehen lassen würde. Wenn Sie sich bitte durch die Mäntel und Kleider schieben wollen, wir treffen uns dort.

* Der Ausdruck wurde von Jay Hansford Vest geprägt. Siehe Jay Hansford Vest, »Will-of-the-Land: Wilderness among Primal Indo-Europeans«, in: Environmental Review, Bd. 9, Nr. 4, (Winter 1985), S. 323–329. Er ist von Dr. Mark Fisher, dessen Arbeit für das Zustande-kommen dieses Buchs nicht unwesentlich war, propagiert worden.

Verwildert

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