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2. Kapitel

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7. Januar 2006


Die russische Weihnacht ist etwas ganz Besonderes.

Erst kamen Weihnachtslieder aus den Boxen, intoniert vom Moskauer Kathedralchor. Anschließend russische Weihnachtsmusik von Alfred Reed, gespielt von der SHW-Bergkapelle unter der Leitung von Philip Walford. Es war eine Liveübertragung aus dem Dreikönigskonzert in der Stadthalle Aalen.

»Ich habe etwas aus Petersburg für dich mitgebracht, Anastasija«, sagte Fedor Artjomowitsch Smirnov. Er beugte sich zu ihr herunter und küsste sie flüchtig auf den Mund. »Eine Belohnung für deinen unermüdlichen Einsatz fürs Vaterland.«

Anastasija gab ihre Liegestellung auf und setzte sich. Smirnov ließ sich neben sie auf die Couch fallen. Er zog ein kleines Kästchen aus der Tasche und öffnete es.

»Oh … Was für ein schönes Stück!«

»Es gefällt dir?«

»Was für eine Frage. Der Ring ist wunderschön.«

Smirnov nahm den Ring aus dem Kästchen. »Er wird noch viel schöner, wenn er erst an deinem Finger steckt. Juwelen aus der Fabergé-Werkstatt waren über alle Jahre beliebte Sammlerobjekte.«

»Er ist von Fabergé?« , fragte Anastasija entgeistert. Sie schaute auf den geschliffenen Rubin, der von kleinen Brillanten eingefasst war. Die Farbe des roten Steines passte ausgezeichnet zu ihrem Lippenstift.

»Keines von den wundervollen Eiern, die bis 1916 entstanden sind. Aber er datiert aus dem Jahr 1916 – schau mal auf den Innenrand.«

»Мой Anastasjia до 16 день рождения – meiner Anastasija zum 16. Geburtstag«, sagte Anastasija leise. Sie war kreidebleich geworden.

»Es war zwei Jahre vor der Ermordung der Zarenfamilie«, stellte Smirnov fest, und er ist wie für dich gemacht.«

Sie wollte den Ring zurücklegen, doch Smirnov zog die Hand mit dem Kästchen weg.

»Mashka und Alyosha hat man ermordet. Aber von Anastasija fehlt jede Spur. Und da steht dein Name. Also nimm ihn, und bewahre ihn in Ehren auf«, sagte er.

Anastasija Saizews Augen wurden nass.

Grade habe ich das Gefühl, alles auf einmal stürzt auf mich ein. Versuche abzuschalten, mich abzulenken, aber mein Kopf ist nur noch am Arbeiten, wenn ich es schaffe, das Thema Geldverdienen wegzuschieben, dann kommt gleich das nächste, wie löse ich mich von diesem Mann? Er ist mein Untergang. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Doch Fedor Artjomowitsch wird mich vernichten, wenn ich ihn hängenlasse. Die vielen Reize bei der Betreuung zahlungsbereiter Kunden, gegen die ich mich immer schwerer abgrenzen kann, beschaffen mir ein gutes Auskommen, machen mich aber zur Edel-Hure. Ich habe keine Kraft mehr dazu, obwohl ich wieder im Funktionsmodus bin, wo ich doch nie mehr sein wollte, aber ich weiß mir einfach nicht mehr zu helfen …

»Du musst nicht gleich weinen. Oder sehe ich da Freudentränen? Übrigens, dazu gibt es noch ein wunderschönes Armband und ein Collier. Beides ist für dich reserviert.«

»Ich kann das nicht«, sagte Anastasija.

»Was kannst du nicht?« , fragte Smirnov eine Spur zu scharf.

»Der Ring gehört doch zum Zarenschatz, und dieser ist Eigentum unseres russischen Vaterlandes. Es wäre Diebstahl.«

Smirnov lachte auf. »Wir kaufen deutsche Expressionisten an und verkaufen sie mit großem Gewinn an die Oligarchen, die sich damit schmücken. Unsere Galerie macht Gewinn. Und du profitierst angemessen von diesem Gewinn.« Er legte das Foto eines Ölbildes auf den Couchtisch.

»Was ist das?«

»Ein Monet von 1867. ›Frau im Garten‹. Öl auf Leinwand.«

»Und?«

»Es hängt in der Eremitage in Sankt Petersburg. Wir haben einen Sammler aus Tokyo, der sich überaus für dieses Bild interessiert.«

»Und nun suchst du einen Kopisten, der das fertigbringt?«

»Ja.«

»Wenn der Japaner ein Sammler ist, wird er sicher schon ein oder zwei Werke das Malers besitzen.«

»Ja. So sagte er.«

»Und du glaubst, du könntest ihm eine Fälschung unterjubeln?« Jetzt war Anastasija Saizew nicht mehr das kleine, verletzliche Wesen, das sie eben noch zu sein schien.

»Genau das glaube ich nicht. Er will das Original, und das wird er bekommen.«

»Aus der Eremitage?« , fragte sie entsetzt. »Das wird nie im Leben klappen.«

»Dein Ring hat doch auch geklappt, oder?«

»Er ist klein. Und das Bild?«

»82 x 100 Zentimeter … Man wird es vorsichtig rollen. Dann kommt es mit einer Diplomatenmaschine nach Köln oder Berlin. Und dort holen wir es ab. Doch zuerst brauchen wir die Kopie. Sie muss nach Sankt Petersburg. Dort erfolgt der Austausch durch einen leitenden Mitarbeiter des Museums.«

»Du bist verrückt. Dieser Größenwahn kann verdammt teuer werden«, stellte Anastasija fest.

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, mein Täubchen.«

Die Übertragung der russischen Weihnachtsmusik aus der Stadthalle Aalen war zu Ende gegangen. Wenig später erklang die Ouvertüre zu Wagners Rienzi. Smirnov hatte die Disc eingelegt. Er liebte Wagner. Die Musik Wagners vermittelte etwas Heldenhaftes. Und exakt das war es, was ihn aufbaute, so zu sein, wie er war – erfolgreich.

»Denk an das Collier …«, sagte er wie beiläufig. Er kannte Anastasijas erlesenen Geschmack und nutzte das bei jeder Gelegenheit aus.

»Woran hast du gedacht?«

»Unser Mann am Bodensee macht hervorragende Kopien. Sie sind besser, als ich sie je von einem asiatischen Meister gesehen habe. Weißt du warum? Den Asiaten fehlt der Sinn für europäische Historie. Du kannst dafür nicht einfach eine Leinwand und Farben aus einer modernen chinesischen Herstellung verwenden.«

»Aber?«

»Unser Mann am Bodensee malt Expressionisten, die vor Ort gelebt haben. Zumindest zeitweise wie Otto Dix. Was wir brauchen, ist ein Mann, der Impressionisten perfekt kopiert, und zwar so, als wäre das Bild tatsächlich rund 140 Jahre alt.«

»Dafür wirst du kaum jemanden finden«, widersprach Anastasija.

Smirnov lachte auf. »Sei nicht so voreilig.«

»Du hast schon jemanden im Auge?«

»Du kennst doch mein Organisationstalent!« Smirnov hustete. Es klang nicht gut, und Anastasija dachte, dass er sich wohl sehr erkältet haben musste.

Er stand auf und ging zum Fenster. Draußen war es bereits stockdunkel. Sie ist tüchtig, dachte er. Aber ihm wurde auch schlagartig bewusst, dass er sich mit seiner Offenbarung über den Petersburg-Deal gefährlich in ihre Hände begeben hatte. Leute wie er, das wusste er nur zu gut, schwebten ständig in Gefahr. Sie drohte von allen Seiten. Der deutsche Staat konnte seine Tätigkeiten entdecken. Oder schlimmer, die russische Staatsmacht, auch einer der betrogenen russischen Oligarchen. Einer der Kopisten konnte ihn erpressen, und selbst seine derzeitige Geliebte Anastasija war letztlich eine große Gefahr.

»Es gibt einen Mann, der das perfekt kann.«

»So …«

»Ich habe eine Telefonnummer«, sagte Smirnov. »Ich kann einen Termin für ein Gespräch vereinbaren.«

Es klang wie eine Frage, nicht wie eine Feststellung.

»Aber?«

»Die Krux ist, dass er verdammt vorsichtig ist.«

»Ist das nicht jeder, der sich auf so etwas einlässt?«

Aus der Ferne klang das Bellen eines Hundes aus der Nachbarschaft an ihr Ohr.

»Was ist das für ein Bellen?«

»Der Wind trägt die Geräusche heran«, stellte Smirnov fest. »Es ist der große Köter des Bauern am Wald. Ich kenne seine Stimme.«

Mit einem Mal war das Geräusch des Hundes weg.

»Sie haben ihn sicher reingenommen. Was soll die Kreatur auch bei dieser Kälte draußen.« Smirnov schob sich vom Fenster ab und ging zu der kleinen Bar. Er goss sich einen Malt Whisky ein und hob das Glas hoch, sodass sie es sehen konnte. Er meinte es gut mit sich. »Du auch einen?« , fragte er.

»Nein. Ich wette, dafür hast du auch schon eine Lösung«, sagte Anastasija.

»Wofür?« , fragte Smirnov. Es war eigentlich nicht sein Art, unaufmerksam zu sein. Einen Augenblick hatte er sich von dem Gebell des Köters ablenken lassen. Er tauchte vor ihm wie aus dem Nichts auf. Groß, grau-schwarz wie ein Wolf und sehr gefährlich. Sobald er einen Fremden sah, fletschte er seine Zähne. Man tat gut daran, ihn nicht zu provozieren.

»Die Überwindung der Krux«, sagte sie ruhig. »Wie?«

»Er liebt junge Frauen.«

Anastasija Saizew lachte auf. »Ist dein Held nicht verheiratet?«

»Doch. Der erste Kontakt kam auch über die Frau. Sie hält dort wohl die Fäden in der Hand. Geschäftlich meine ich.«

Anastasija dachte kurz nach. »Da würde ich an deiner Stelle eher vorsichtig sein. Wenn sie verärgert wird, lässt sie jede mögliche Verbindung zu dir sausen. Und nichts verärgert eine Frau mehr, als wenn ihr Mann fremdgeht und dabei auch noch von möglichen Geschäftspartnern gefördert wird.«

Smirnov nahm einen Schluck Whisky. Er spürte, wie er langsam, fast ölig, seine Speiseröhre hinunterlief. Der Alkohol belebte ihn.

»Die Nummer, die ich von ihm habe, gehört einem Handy, das er allein betreibt. Wenn du anrufst, sprichst du auf eine Box, die er ausschließlich selbst abhört. Du schickst ihm ein Bild von dir und fragst, wann er dich treffen will.«

»Du willst nicht sagen, dass er einfach so wegkann?«

Smirnov hob die Schultern. »Wenn sie für einige Zeit ins Krankenhaus muss, wird er Zeit genug haben.«

»Du bist ein Ekel. Ich gebe aber zu, ein gut planendes. Aber ein Ekel.«

»Es wird ihr nichts Ernstes geschehen. Wir brauchen auch nicht allzu viel Zeit, um den Mann von der Notwendigkeit einer Mitarbeit zu überzeugen.« Er nahm sein Smartphone aus der Tasche. »Schau mal.«

Anastasija sah eine Frau um die vierzig. Sie hatte schulterlanges, dunkelblondes Haar, das über den Augen zu einem Pony geschnitten war, und die hohen Wangenknochen der Audrey Hepburn, wenngleich ihr Gesicht nicht ganz so schmal war. Ihre Augen besaßen dieses Stahlblau, das, würde die Frau gereizt werden, sie sicher zu einer eiskalten Maske verwandeln konnte, die jedes Blut in den Adern gefrieren ließ.

»Es malt Bilder im Stile bekannter Maler wie Édouard Manet, Pierre-Auguste Renoir, Alfred Sisley und …«

»Claude Monet.«

Smirnov nickte.

»Du willst, dass ich mit ihm schlafe«, sagte sie unvermittelt.

Er hob die Schultern. »Das hat aber nichts mit uns zu tun. Wir verfolgen gemeinsam ein Ziel. Und mach dich vom Gedanken frei, eine Vagina sei wie eine Seife, die sich abnutzt. Und Bilder der Impressionisten machen Sammler gefügig.«

»Schwein«, sagte Anastasija.

Smirnov spürte, wie er sauer wurde. Dennoch unterdrückte er erst einmal seine Wut. »Der Mann fälscht so genial, dass sogar die Aufkleber verschiedener Sammler und Kunsthäuser auf der Rückseite des Bildes echt aussehen, weil es sie gibt oder zumindest gab, wie den jüdischen Sammler Samuel Shapiro aus New York.«

Alles, was Smirnov sagte, schien ihr verständlich. Sie glaubte, dass er sie liebte, und in gewisser Weise tat er das auch. »Dann stelle den Kontakt her«, hörte sich Anastasija sagen.

»Ich wusste, dass du ein vernünftiges Mädchen bist«, sagte Smirnov. Er kam zur Couch und versuchte sie zu küssen.

»Lass das. Mach ein Foto und schicke es ihm.«

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.« Anastasija zog die beiden Kämmchen aus ihrem Haar, sodass ihr schulterlanges Haar ihre Schönheit noch unterstrich, und zog die Lippen mit dem Kanebo-SENSAI Nr. 15 Murasaki nach. Sie wusste, dass man mit der richtigen feuchten Farbe auf den Lippen noch jünger und lasziver aussehen konnte. Wenn ich das nicht ändere, dachte sie, geht die Geschichte ewig so weiter, oder ich gehe zugrunde.

Smirnov machte zwei Fotos von verschiedenen Posen Anastasijas, die er anwies, prüfte sie, befand sie beide für gut und zog sich in die Kaminecke zurück, um einen kurzen, prägnanten Text zu formulieren und diesen abzuschicken.

Unterdessen ging Anastasija in die Küche, um ein Abendbrot vorzubereiten. Kaltes Fleisch von einem Truthahn, der auf einem Bauernhof aufgezogen und gemästet wurde, und Brot.

Am Abend zuvor, dem 6. Januar, dem russischen Heiligen Abend, endete die von strenggläubigen russischen Christen nach wie vor praktizierte vierzig Tage lange Fastenzeit. Wunschgemäß hatte sie Smirnov an diesem Abend Kutya nach dem Rezept ihrer Großmutter zubereitet, einen Brei aus Getreide mit Honig. Smirnov hatte für sich die alten Gebräuche und die orthodoxe Kirche wiederentdeckt. Sie hatte nichts dagegen, an ihre Kindheit erinnert zu werden, die sie weitgehend bei ihrer Großmutter in Geroyskaya, einem Ort unweit Sankt Petersburg an der Neva gelegen, verlebt hatte. Das Getreide des Breis stand für Hoffnung und Unsterblichkeit, der Honig für Glück, Erfolg und Zufriedenheit. Beides konnte sie gut gebrauchen. Kutya wird gemeinsam aus einer Schüssel gegessen, um Einheit zwischen den Feiernden zu symbolisieren.

Darauf allerdings hatten sie verzichtet.

Als Anastasija mit dem Tablett, dem kalten Truthahnfleisch und dem frischen Brot ins Zimmer kam, goss sich Smirnov gerade seinen zweiten Whisky ein.

»Die SMS ist rausgegangen«, sagte er sichtlich vergnügt in Vorfreude auf das verlockende Geschäft. »Nun schauen wir, wie es weitergeht.« Er kam an den Tisch. »Endlich nicht mehr diesen süßen Brei.«

»Kutya war dein Wunsch, Fedor Artjomowitsch«, sagte sie.

»Was tut man nicht alles, um Gott zu gefallen!«

Smirnovs Smartphone läutete. Es gab die Glocken der Smolny-Kathedrale in Sankt Petersburg wieder. Smirnov schaute auf das Display. »Da muss ich rangehen«, sagte er mit einem Schulterzucken. »Es ist unser Petersburger Verbindungsmann.« Er stand auf und ging ins Schlafzimmer. Anastasija hörte ihn telefonieren.

»Ich muss noch einmal wegfahren«, sagte er. »Es wird nicht allzu lange dauern. Wir treffen uns an der Tankstelle in Usedom-Stadt. In spätestens zwei Stunden bin ich wieder hier.«

»Heute ist Weihnachten«, protestierte Anastasija.

Sie hörte, wie er kurze Zeit später das Haus verließ. Draußen startete der schwere amerikanische Geländewagen, der ihnen bei diesem Wetter eine sichere Fahrt bot.

Anastasija stand auf und ging zum Fenster.

Plötzlich drang wieder das Gebell des großen Hundes vom Bauern des Nachbarhofes an ihr Ohr.

Дед Мороз, dachte sie, Deduschka Moros – Großväterchen Frost … und seine Enkelin Snegurotschka, das Schneeflöckchen, das ihn begleitet. Selbst für diesen Wagen ist das ein wenig zu viel Schnee. Das Väterchen hätte seine Enkelin zurückpfeifen können. Als Smirnov abgefahren war, begann sie, das Essen zurück in die Küche zu bringen.

Von einem knirschenden Geräusch in ihrem Rücken aus ihren Gedanken gerissen, drehte sie sich um.

Monet und der Tod auf der Insel

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