Читать книгу Monet und der Tod auf der Insel - George Tenner - Страница 9

6. Kapitel

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Wie an jedem Tag, an dem etwas Besonderes zu erledigen war, hatte Larsson auch an diesem Montag, dem 23. Januar, vor fünf Uhr das Haus verlassen. Es war noch immer sehr kalt. Außer ein wenig Schneegriesel, der sich über den Splitt gelegt hatte und ihn stellenweise nahezu einschloss, hatte sich an den Wetterverhältnissen nichts zum Vortage geändert.

Er hatte schlecht geschlafen. Immer wieder befassten sich seine Gedanken mit der rätselhaften Leiche im Ahlbecker Landesforst. Um ein Schleudern zu verhindern, ließ er den Wagen langsam auf die B111 gleiten. Aus dem Lautsprecher des Autoradios kam der 2. Satz Antonin Dvořáks »Aus der neuen Welt« und umhüllte das Gesicht der Toten.

Larssons offizieller Dienstbeginn wäre um acht Uhr. Er begann aber bereits um kurz vor sechs mit seiner Arbeit. Als erste Aufgabe machte er einen kleinen Bericht für die Presseabteilung. Wenn Hauptkommissar Berg sein Büro betrat, wollte er sofort in der Lage sein, eine Notiz für die Printmedien herauszugeben.

Larsson stellte das kleine Transistorradio an. Im NDR lief Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert in e-Moll. Larsson liebte es und ließ deshalb einen Augenblick seine Gedanken abgleiten. An jedem Tag könnte meine Arbeit mit solcher Musik beginnen, dachte er. Das hilft beim Nachdenken.

Er legte ein Piktogramm an, in dessen Mittelpunkt er die nicht identifizierte weibliche Leiche mittels eines kleinen Frauenkopfes und der Ziffer 1 sowie eines Kreuzes darstellte. Es war ein Bild aus einer Ansammlung von Bildern eines Dresdner Malers, die er sich für diese Darstellungen eingescannt hatte und je nach Bedarf benutzte. Er fügte einen schwarzen Sensenmann mit einem Fragezeichen dazu. Dann begann er, einen Fragenkatalog nach dem bewährten Muster wer, wie, was, wo, wann, warum und mit wem vorzubereiten.

Wer ist diese Frau? Kürschner abtelefonieren, nach dem Etikett befragen. Wenn kein Ergebnis, Obermeister der Kürschner MVP kontaktieren. Den letzten Satz strich er durch und schrieb: Zurückstellen!!!

Wie kommt die Leiche in den Wald? Das ist eine zentrale Frage zur Aufklärung, denn diese Fundstelle einer abgelegten Leiche ist so außergewöhnlich, weil schwierig zu erreichen. Dazu der verbotene Weg in den Wald – Forstarbeiter, vor allem den Jagdpächter befragen. Hätte er etwas bemerken müssen? War er doch täglich anwesend, um die Futterköder für die Waldtiere zu bringen.

Was hat die Frau gearbeitet? Wenn wir das beantworten können, werden wir auch den ersten Teil der nächsten Frage beantworten können.

Mit was für einer Waffe wurde die Frau umgebracht?

Wo kommt die Frau her? Derzeit – früher?

Wann trat der Tod ein? Rechtsmedizin anrufen.

Mit wem verkehrte die Frau?

Wenn wir das wissen, kommen wir dem Mörder sicher schon sehr nahe, denn diese Tat muss gewissenhaft vorbereitet worden sein.

Warum wurde sie umgebracht?

Larsson sah sich immer wieder das Bild der Frau an. Sie ist fast aristokratisch schön! Eine solch attraktive Frau verschwindet nicht einfach spurlos von der Bildfläche.

Gegen acht Uhr hörte er, wie Andresen mit Simons über den Flur ging und sprach. Deshalb stellte er das Transistorradio ab, bevor Mendelssohn-Bartholdys Violinkonzert zu Ende war. Er stand auf und ging über den Flur ins Büro der Kommissare.

Für eine solch brisante Ermittlungsarbeit brauchte ich wenigstens zehn bis zwölf Beamte, eher mehr!, dachte er. Was ich an Personal habe, reicht nicht einmal, um die paar läppischen Diebstähle aufzudecken.

»Guten Morgen, Kollegen. Kannst du mir gleich die Fotos der Leiche einstellen?« , fragte er Andresen.

Andresen deutete auf den bereits laufenden Computer. »Das ist gerade geschehen.«

»Ich habe Berg einen kleinen Bericht geschickt. Schick ihm bitte ein, zwei Bilder nach.« Er drehte sich Simons zu. »Wir haben uns gestern im Wald amüsieren können.«

Warum bin ich so stinkig. Karl kann nichts dafür, dass er nicht dabei war.

»Er kennt die Geschichte«, sagte Andresen leise, der den Ton Larssons richtig erfasst hatte.

»Gut, dann können wir ja gleich ein paar Aufgaben verteilen. Wir haben das Etikett aus dem Mantel der Frau. Karl, du versuchst herauszubekommen, wo dieser Mantel gekauft wurde. Ruf die Kürschner durch, befrage sie. Vielleicht fängst du bei der IHK in Rostock an und lässt dir die Nummer des Obermeisters geben. Der weiß möglicherweise, welcher seiner Schützlinge ein solch teures Exemplar im Angebot hat. Ein solch qualitativer Chinchilla-Mantel wird nicht jede Minute verkauft.« Larsson war seitlich hinter Andresen getreten und sah nun wieder die tote Frau. Es war die Aufnahme, die sie in ihrem wundervollen Mantel zeigte.

Der Mantel nützt dir jetzt nichts mehr!

»Es stellt sich die Frage, Rolf, wie kommt die Frau an diesen außergewöhnlich schwer zugänglichen Ort?«

»Vielleicht mit einem Schlitten«, sagte Simons.

»Der hätte aber fliegen müssen, denn am Fundort gab es keine Spuren«, gab Andresen zu bedenken.

Larsson schaute Simons an, als warte er darauf, dass der Dienstjüngste von ihnen erzählte, wie es gegangen wäre.

»Wenn wir die Zeit ihres Todes wissen, können wir feststellen, wann es in den letzten Tagen hier geschneit hat. Vielleicht ist doch eine kleine Schlittenspur einfach zugeweht.«

Das hat etwas.

»Aus dir wird in der Kriminalistik noch mal etwas richtig Großes, Karl«, lobte Larsson, um seine vorherige Schroffheit zu mildern. »Du prüfst bitte die Zeiten, in denen ab Weihnachten hier Schnee gefallen ist.«

Larsson nahm den Hörer von Andresens Telefon auf. »Gib mir bitte eine Verbindung zur Spurensicherung.«

Andresen drückte die Kurzwahltaste. Aber nach einigen Klingelzeichen meldete sich der Kriminaldauerdienst. Dorthin ging der Ruf zurück, wenn die Räume der Spusi nicht besetzt waren. Die Spurensicherung sei unterwegs, beschied man Larsson.

Larsson zuckte mit den Schultern. Er nahm sein Handy. Wenige Sekunden später meldete sich Paul Maier. Im Hintergrund hörte Larsson den Motor des alten T4 arbeiten.

»Wir fahren gerade noch einmal hinaus nach Ahlbeck. Es war gestern einfach schon zu dunkel, um allen Spuren nachzugehen«, sagte Maier.

»Guten Morgen, Paul. Schaut doch bitte etwas weiter in der Umgebung, ob es irgendwelche ältere Fahrzeug- oder Schlittenspuren gibt.«

»Schlittenspuren?«

»Irgendetwas Ungewöhnliches.«

»Zum Beispiel?«

»Etwas, womit wir vielleicht gar nicht rechnen.«

»Da gibt es praktisch nur noch eine Möglichkeit.«

»So?«

»Sie ist direkt im Wald umgebracht worden, und wir werden den Hinrichtungsort einfach nicht finden, weil es wegen der Größe des Gebietes unmöglich ist, gezielt danach zu suchen. Ich rufe dich an, Lasse, sobald wir etwas haben.«

Simons hatte jemanden in der IHK in Rostock erreicht und brachte sein Anliegen vor.

Larsson hörte mit halbem Ohr hin.

»Wir müssen den Jagdpächter befragen. Wenn einer etwas gesehen hat, dann der. Und wir sollten beim Forstamt nachhören, ob in dem Waldstück in den letzten Tagen gearbeitet wurde. Um zehn Uhr kommt ein Mann namens Hellmann. Es ist der Veranstalter der Jagd. Den werden wir erst einmal ausquetschen. Vielleicht weiß er etwas, ohne zu ahnen, dass er es weiß.«

Andresens Telefon klingelte. Er meldete sich und winkte Larsson zu. »Ja, er ist hier, einen Augenblick.«

So aufgeregt wie Rolf winkt, kann es nur der neue Chef, Polizeioberrat Mälzer, sein.

»Larsson.«

»Ich habe einen Bericht des Kriminaldauerdienstes vorliegen. Es hat gestern eine weibliche Leiche im Landesforst nahe Ahlbeck gegeben? Gibt es da schon Erkenntnisse, die wir ans LKA weitermelden können?«

»Die Spurensicherung ist gerade noch einmal unterwegs zum Fundort. Was wir haben, ist eine junge Frau um die dreißig, keinerlei Papiere. Einziger Hinweis ist ein sehr teurer Mantel. Wir machen erst einmal die Routineuntersuchungen. Vielleicht finden wir sie ja, Herr Polizeioberrat.«

»Halten Sie mich unbedingt auf dem Laufenden.«

»Herr Polizeioberrat, wir sind nur zu dritt. Da dauert alles ein wenig länger.«

»Sie haben recht. Ihre Planstelle ist dafür eigentlich nicht ausgelegt. Vielleicht kann ich Ihnen ja einige Beamte aus Ahlbeck zuordnen. Haben Sie einen Vorschlag?«

»Kriminalhauptkommissarin Mohaupt aus Anklam hat uns immer verstärkt, wenn es eng wurde.«

»Ich werde sehen, was sich tun lässt.«

»Und hier brauche ich dringend jemanden fürs Büro, damit wir die Ermittlungsarbeiten unterwegs erledigen können.«

»Wie haben Sie das vor meiner Zeit gelöst?«

»Da hatten wir Unterstützung von der Polizeiobermeisterin Monika Landris von den Polizeikräften im Haus.«

»Dann machen Sie das eben wieder genauso.«

»Da gibt es nur eine Schwierigkeit. Die Polizeiobermeisterin Monika Landris heißt jetzt Monika Larsson.«

»Ich regle das.«


*


Pünktlich um zehn Uhr meldete der Beamte der Wache am Eingang, dass Jochen Hellmann den Kriminalhauptkommissar Larsson zu sprechen wünsche. Er habe einen Termin.

Andresen, der den Anruf entgegengenommen hatte, stand auf und ging, um Hellmann abzuholen.

»Inzwischen habe ich mit dem Obermeister telefonieren können«, sagte Simons.

»Und?«

»Er weiß nicht, ob irgendein Kürschner diese Marke vertreiben würde. Ihm jedenfalls sei nichts bekannt. Aber er gab mir die Adresse des größten deutschen Pelzversandhauses, das sich in Kiel befindet.«

»Was?« , fragte Larsson erstaunt.

Simons nickte. »Ich soll’s bei Paustian Pelze, Kiel, Sophienblatt 63 versuchen.« Er nannte zwei Telefonnummern. »Bei meinem Anruf hat man gesagt, ich möge eine E-Mail an info @paustian-pelze.de stellen.«

Andresen kam mit Hellmann im Schlepp.

»Wir gehen zu mir rüber«, sagte Larsson. »Wenn du die Anfrage gestellt hast, Karl, ruf bitte beim Landesforstamt Pudagla an, und durchforste anschließend den Polizeicomputer, ob irgendwo nach Weihnachten der Abgang einer jungen Frau gemeldet ist.«

Sie gingen über den Flur in sein Büro, und Larsson bot Hellmann Platz vor seinem Schreibtisch, Andresen setzte sich links neben seinen Chef.

»Ich hatte gestern mit einem anderen Mann gesprochen«, stellte Larsson fest.

»Das ist richtig. Ich hatte zwar die Leiche gefunden, gehörte aber nicht zu der Gruppe, die bei der Leiche stand, als Sie kamen.«

»Sie waren der Mann mit dem großen grau-braunen Hund, der an der Strecke stand?«

Hellmann nickte. »Ich habe Ihnen die gewünschte Liste mitgebracht.«

»Es war ein gemütliches Beisammensein beim Grillen an der Jagdstrecke«, sagte Larsson. »Gibt es eigentlich Gruppenfotos davon? Das wäre doch eine angenehme Erinnerung.«

»Sicher werden einige Leute fotografiert haben.«

»Sie auch?«

»Nein. Meine Frau aber ganz bestimmt.«

Larsson sah die nummerierte Liste mit den Namen. Es waren 62 Namen, computermäßig erfasst und fein säuberlich aufgeführt. Er sah einige bekannte adlige Namen, die aus Hamburg, Boizenburg, aus der Nähe von Rostock-Laage und der weiteren Republik eigens für diese Jagd angereist waren.

»Sie ist nicht alphabetisch geordnet, sondern nach dem Eingang der Anmeldung«, sagte Hellmann.

»Ihre Frau hat fotografiert? Ich hätte gern einen Blick auf die Fotos geworfen.«

»Das wird kein Problem sein.«

»Eine beachtliche Zahl von Leuten, die sich zu so einer Jagd zusammenfinden«, sagte Larsson, mit Blick auf die Teilnehmerliste.

Was, in Gottes Namen, machen die eigentlich sonst?

»Fast das ganze Jahr hindurch gibt es irgendwelche Jagdereignisse, je nach Schonzeit in den einzelnen Bundesländern«, sagte Hellmann.

»Wann reisen die Herrschaften in der Regel an?«

»Ein, zwei Tage vor Beginn der Jagd.«

»Am Freitag oder Sonnabend?«

»Ja.«

»Keiner davon, der länger da ist?«

»Das Ehepaar Kerner. Die Leute machen hier ein paar Tage Urlaub.«

»Wissen Sie, wo die Kerners wohnen?«

»Im ›Oasis‹ in Heringsdorf.«

Larsson notierte sich das.

»Sie wohnen immer dort«, setzte Hellmann nach, um die Bedeutung der Kerners hervorzuheben.

Larsson schaute auf und sah das spöttische Lächeln Andresens.

»Ein Fünf-Sterne-Haus«, stellte Andresen fest.

»Die Leute machen ihr Geld mit Öl.«

»Mit Öl?« , fragte Andresen interessiert.

»Termingeschäfte mit Öl aus den Golfstaaten. Mehr weiß ich auch nicht.«

»Irgendwas machen wir falsch«, stellte Andresen fest. »Ich hätte studieren und Richter werden sollen – in Bayern.« Er zwinkerte Larsson zu.

»Zurück zu den Jagdgästen. Sind sie noch vor Ort?« , fragte Larsson.

»Nur zum Teil. Eine große Gruppe ist heute Morgen abgereist, andere haben vor, im Laufe des Tages die Insel zu verlassen.«

»Sie sind der Jagdpächter?«

Hellmann bestätigte das.

»Wie oft in der Woche sind Sie in Ihrem Pachtgebiet?« , fragte Larsson weiter.

»Oft … drei-, viermal die Woche. Vor den großen Jagden aber täglich, um das Wild ordentlich anzufüttern.«

»In der letzten Zeit also täglich … Seit wann?«

»Das kann ich genau sagen, seit dem 4. Januar, einem Mittwoch. Das weiß ich ganz genau.« Hellmann strahlte.

Larsson schaute auf seinen Kalender. »Das sind ja … zwei Wochen und vier Tage.«

Hellmann lachte. »Je intensiver Sie in der Zeit das Wild anfüttern, und je weniger Störungen es in dieser Zeit für die Tiere gibt, umso erfolgreicher wird die Jagd.«

»Und diese Jagd war erfolgreich«, stellte Andresen fest.

»Ausgesprochen erfolgreich. Alle sind’s zufrieden.«

»Wie weit entfernen Sie sich beim Anfüttern denn von dem Platz, an dem die Strecke aufgereiht war?« , fragte Larsson.

»Unterschiedlich. Zuerst fange ich weiter im Innern des Waldes an und verstecke Eicheln, Kastanien und auch Äpfel wegen des intensiven Geruchs unter Baumenden oder umgebrochenen Bäumen, Gebüschen und lege eine dünne Spur bis zu dem Ort, den Sie gerade angefragt haben.«

»Was war mit Fremdspuren in dieser Zeit?« , fragte Larsson.

»Außer Wildspuren?«

Larsson nickte.

»Keine.«

»Ist es nicht manchmal unheimlich, allein im Wald?«

»Wieso?«

»Nehmen wir einmal an, Sie haben einen Schwächeanfall und liegen dann allein im Wald. Was dann?«

Hellmann brauchte eine Sekunde, um zu formulieren. »Erstens wird meine Frau Hölle und Teufel in Bewegung setzen, um mich zu finden, wenn ich zur ausgemachten Zeit nicht wieder zu Hause bin.«

Ein Mystiker, der die Hölle und den Teufel bemüht.

»Und zweitens?«, fasste Andresen ungeduldig nach, als Hellmann schwieg.

»Wenn ich mich nicht melde, kann meine Frau auf ihrem Computer sehen, wo ich mich befinde und Rettung schicken.«

»Und wenn das nichts bringt?«

»Wenn das nichts bringt, ist es Gottes Wille und meine Zeit auf dieser Welt abgelaufen.«

»Gottes Wille«, sagte Larsson gedehnt.

Eben hat er noch den Teufel bemüht. Aber ist nicht Gott auch irgendwo der Teufel? Durch die Wälder durch die Auen zog ich leichten Sinns dahin, alles, was ich konnt’ erschauen, war des sichern Rohrs Gewinn …

»Meine Hündin würde so lange bei mir bleiben, bis ich gefunden wäre und würde mich gegen Gott und alle Welt verteidigen«, sagte Hellmann voller Stolz.

Doch mich umgarnen finst´re Mächte – mich fasst Verzweiflung, foltert Spott. O, dringt kein Strahl durch diese Nächte? Herrscht blind das Schicksal? Lebt kein Gott?

»Die Fundstelle … Diesen Teil des Waldes haben Sie für die Fährtenlegung nicht einbezogen?« Larsson versuchte sich wieder auf die Fragen zu konzentrieren.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil ich gezielt nach Laufspuren der Tiere gesucht und danach meine Anfütterungsstrecke angelegt habe. Es gibt eingelaufene Wildwechsel, die in der Regel von den Tieren benutzt werden. Dort habe ich natürlich angesetzt.«

»Und der Fundort der Leiche? Hatten Sie den denn zum Füttern einbezogen?«

Larsson schaute zum Fenster. Einige Spatzen machten sich lauthals an einem Futterkolben aus Sonnenblumenkernen und Fett zu schaffen. Dabei fingen sie an, sich um den Futterplatz zu streiten, der den Himmel versprach.

»Nein.«

»Kann das der Grund sein, weshalb die Schweine die Leiche nicht gefunden haben?«

»Kann, ja, aber genau ist das nicht zu sagen.«

»Und niemand, auch niemand, den Sie kennen, ist Ihnen in zweieinhalb Wochen begegnet?«

»Nein.«

Larsson beendete die Befragung. Er war sicher, dass aus dem Mann nichts mehr herauszuholen war. Hellmann ging in der Überzeugung, seinen Auskunftspflichten gegenüber der Polizei über die Maßen gut nachgekommen zu sein.

»Du magst diesen Hellmann nichts sonderlich«, sagte Andresen, als sie wieder allein waren.

Die Antwort war ausweichend. »Wie kommst du darauf?«

»Glaubst du wirklich, dass er in dieser langen Zeit niemandem begegnet ist?«

»Das weiß nur er allein. Aber warum sollte er lügen?« , fragte Larsson. Er suchte sich die Telefonnummer des »Oasis« heraus und wählte die Nummer. Er meldete sich mit Namen und Dienststelle und erfuhr, dass die Kerners noch bis zum kommenden Tag gebucht haben.

»Wir fahren jetzt ins ›Oasis‹.« Er stand auf. In dem kleinen Hochschrank hatte er seinen Mantel hängen, den er jetzt herausnahm und anzog.

Sie gingen über den Flur. Larsson schaute noch einmal zu Simons ins Büro der Kommissare. »Hast du schon mit dem Forstamt telefoniert?«

»Ja. Negativ. Zwischen den Jahren wird gar nicht gearbeitet, und erst am Montag, dem 9. Januar, haben sie wieder angefangen«, erklärte Simons. »Aber nicht im Forsten zu Ahlbeck. Da haben sie bei Pudagla angefangen, um Baumbruch zu beseitigen.«

»Wir sind kurz außer Haus«, sagte Larsson.

Zwölf Minuten später parkten sie den Dienstwagen am Hintereingang des »Oasis«. In der Einfahrt standen einige Fahrzeuge der gehobenen Oberklasse. Sie gingen um das Haus den Verbindungsweg zur Promenade entlang.

Vor ihnen lag der Park, in dem die große weiße Villa und das Gästehaus lagen. Die wechselvolle Geschichte des »Oasis« begann einige Jahre, nachdem der Oberforstmeister von Bülow 1820 die kleine Fischersiedlung Heringsdorf gründete, König Friedrich Wilhelm III. die Insel für sich und seine Familie entdeckte und der einsetzende Bäderbetrieb in Swinemünde 1824 v. Bülow veranlasste, eine Badeanstalt zu eröffnen. Der Geheimrat Hugo Delbrück gründete danach die Aktiengesellschaft Seebad Heringsdorf, und die finanzkräftigen Familien aus Berlin ließen nicht lange auf sich warten. Denn nach dem Bau des Hotel Kaiserhof Atlantic, des Kurplatzes und 1893 der Seebrücke wurde entlang der Promenade zwischen Swinemünde und Bansin begonnen, je nach Geldbeutel zum Teil sehr großzügige Grundstücke zu vergeben, auf denen sich dann die Industrie-, Kunst- und Politikprominenz der Reichshauptstadt prachtvolle Villen baute.

Andresen senkte instinktiv die Stimme, als sie den Park betraten und auf das Haus zugingen. »Ich möchte nicht wissen, was allein die Pflege des Parks monatlich verschlingt. Ein Vermögen.«

»Im Sommer blühen die großen Hortensien und verwandeln den Garten in ein rot-gelb-grünes Meer der Erholung für die Seelen«, antwortete Larsson.

Sie betraten den Eingang. »Mein Name ist Larsson, Kripo Heringsdorf. Das ist mein Kollege Andresen. Wir haben vor Kurzem miteinander telefoniert«, sagte Larsson zu der freundlichen Frau an der Rezeption.

»Sie fragten nach dem Ehepaar Kerner.«

»Ja.«

»Sie sind gerade ins ›Rossini‹ gegangen«, sagte die Frau und deutete mit dem Kopf zum Eingang des Restaurants hin. »Ich würde es bevorzugen, wenn Sie die Gäste dort nicht stören würden.«

»Das ist kein Problem. Vielleicht melden Sie uns an?«

Die Frau machte sich auf den Weg ins Restaurant, das nur zwei Türen von ihnen entfernt war, von denen eine offen stand, sodass Larsson die edle Einrichtung des Restaurants für Sekunden zu sehen bekam.

Larsson nahm sich einen der Hausprospekte.

Das hat Stil. Fünf Sterne sind fünf Sterne. Vielleicht nicht überall, hier aber bestimmt.

»Sie haben nach mir gefragt?«

Ein Schweizer!

Larsson drehte sich um.

»Rino Kerner.«

Ganz egal, welchen Maßstab man anlegt, so sieht Schweizer Geldadel aus. Als Hommage an Benvenuto Cellini, den Bildhauer und Goldschmied der Päpste und Könige der Renaissance, hat Rolex eine Uhrenkollektion entworfen, die den Namen des Meisters trägt. Kerner trug solch eine 18 Karat Everose-Gold-Uhr mit einem schwarz-roséfarbenen Zifferblatt Rayon Flammé de la Gloire und einem schwarzen Lederband mit Schmetterlingsfaltschließe, ebenfalls in 18 Karat Gold.

Larsson kannte sich aus, hatte er doch vor einiger Zeit einen Hoteldieb dingfest machen können und dabei Gelegenheit gehabt, sich mit der Rolex-Kollektion vertraut zu machen.

»Es ist freundlich, dass Sie sich für uns ein paar Minuten Zeit nehmen. Es geht um die Jagd.«

»Um die Jagd von gestern?«

»Ja.«

»Kommen Sie. Es ist Mittagszeit, da ist die Bibliothek leer.«

Larsson bedeutete Andresen, der etwas abseits gestanden hatte, dass er mitkommen möge.

Die kleine Bibliothek war mehr ein Aufenthaltsraum. Ein grüner Bauernschrank, in dem vier Reihen Bücher untergebracht waren, stand über eine der Ecken neben dem Eingang. Ein Holztisch mit einer Glasplatte stand vor den schwarzen Ledersesseln italienischer Herkunft. Der große Perser war farbig gut auf das im Zweifach-Fischgrätmuster verlegte Parkett und die zarte, durch mediterranes Ocker abgesetzte Farbe der Wand abgestimmt. Obwohl es nicht ganz dunkel war, erhellten Wandlampen den Raum.

Larsson kratzte sich am Kopf, als sie sich auf die andere Seite des Raumes in die schwarzen Lederfauteuils gleiten ließen. »Was wissen Sie über den Fund der Frauenleiche?« , fragte er.

Kerner zuckte mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht. »Das, was alle wissen. Der Gastgeber hat sie gefunden. Daraufhin hat er die Jagd abgebrochen.«

»Ich habe die erlegten Tiere gesehen … Bei einem der Rehe habe ich mehrere Einschusslöcher gezählt«, stellte Larsson fest.

»Eine Trefferquote von 4:1 ist während der Drückjagdsaison ein durchaus normales Trefferverhältnis«, antwortete der Schweizer.

»Das heißt, dass bei Bewegungsjagden nur 25-30 % des Wildes durch Blattschuss erlegt werden?«, schaltete sich Andresen ein.

»In etwa.«

»Im Umkehrschluss heißt das, dass über 70 % der Tiere auf Bewegungsjagden durch Anschüsse lediglich verletzt werden.«

»Ja.«

»Können Sie sich vorstellen, welche Qualen ein Tier erleidet, das vielleicht erst mit dem vierten, fünften oder sechsten Schuss getötet wird?« Andresens Stimme klang vorwurfsvoll.

»Als Nachsuchenführer kotzt mich dieses Verhältnis auch an«, sagte Kerner. »Bei den meisten Schüssen auf Drückjagden werden Äser-, Gebrech- und Keulenschüsse einfach in Kauf genommen. Gerade bei Leuten, die am Jägerstammtisch vor Waidgerechtigkeit triefen, habe ich die größten Schlumpschützen erlebt. Bei den heute üblichen Bezahljagden in den Forsten erlebt man die übelsten Aasjäger.«

»So gefühllos wie mancher Mensch ist kaum ein Tier. Im Göttlichkeitswahn und im Glauben, er sei ›so viel mehr‹, ward der Mensch gegen Natur und Kreatur zum Monster auf dieser Erde hier«, warf Andresen bitter ein.

»Jeder neigt dazu, Tugend zu predigen, die Allerwenigsten praktizieren sie auch«, konterte Kerner.

»Sie waren gestern Nachsuchenführer?« , fragte Larsson, ohne auf den Disput der beiden Männer einzugehen.

»Nein. In der Schweiz. Aber ich war bei der Gruppe der Nachsucher dabei.«

»Haben Sie auch in dem Quadrat gesucht, in dem die Leiche gefunden wurde?«

»Ja.«

Larsson überlegte kurz. »Haben Sie irgendwelche noch so geartete Spuren gesehen?«

»Natürlich. Es heißt ja Nachsuche. Also sind wir auf Spuren von den Drückern und auch tatsächlich auf Schweißspuren gestoßen.«

»Schweißspuren von angeschossenem Wild?«

»Leider ja. Wir haben ein Reh, das einen Bauchschuss hatte, erlösen können.«

Larsson präzisierte seine Frage. »Haben Sie irgendwelche Spuren gesehen, die nicht von Wild herrühren können?«

»Nein«, sagte Kerner.

»Diese Drückjagd im Landesforsten Ahlbeck, habe ich mir sagen lassen, findet alljährlich statt. Waren Sie schon öfters dabei?«

»Das zweite Mal.«

»Wie kommt es, dass ein Schweizer Kaufmann aus …«

»Zürich.«

»… aus Zürich, an einer Jagd teilnimmt, die rund elfhundert Kilometer von seinem Wohnsitz entfernt ist?« , fragte Larsson in einem eher freundschaftlichen, vertrauensvollen Ton.

»Ich traf den Veranstalter an einem Stand für Bilder der Moderne auf der Art Basel Mitte 2004. Wir machten uns bekannt und kamen über ein Jagdbild des Malers Gorski, ›Wölfe jagen Troika‹, das von einem Greifswalder Galeristen angeboten wurde, ins Gespräch.«

»Manchmal hält das Leben eigenartige Konstellationen bereit«, warf Andresen ein.

»Kauften Sie das Bild?« , fragte Larsson.

»Es war ein sehr schönes Bild, aber ich bin Sammler. Mir war es letztlich nicht wertvoll genug«, entgegnete der Schweizer.

Ich muss wissen, was in Basel noch zustande gekommen ist. »Von einer Greifswalder Galerie?«

Kerner nickte.

»In Basel? Das habe ich gar nicht vermutet.«

Kerner lachte. »Herr Hellmann und der Galerist, ein Russe, sind wohl mehr oder weniger befreundet. Oh, meine Frau …«

Larsson taxierte die Frau, die plötzlich im Raum stand.

»Ich han nur wellä säge, mir chönd ässe, s Filet wird chalt Rino …«

»Ich bi do grad fertig, Hélène. Goh scho mol is ›Rossini‹ abä …«

So schnell sie aufgetaucht war, so schnell war sie auch wieder gegangen.

»Die Frauen«, sagte Kerner. »Was tut man nicht alles, um sie ruhigzustellen.«

»Eine letzte Frage.«

Kerner war bereits aufgestanden, und die beiden Kriminalisten schlossen sich ihm an.

»Können Sie sich an den Namen des Galeristen entsinnen?«

Rino Kerner kniff die Augen zusammen, legte die Stirn in Falten und stieß die Luft aus. »Nicht wirklich. Es war in jedem Fall ein russischer Name … Tut mir leid.«

Beim Verlassen der Bibliothek fiel Larssons Blick auf den roten Teppich, der die hölzerne Winkeltreppe optisch dem roten Teppich vor, und dem in der gleichen Art im Eingang des Rossinis befindlichen anglich.

Was für ein ausgesuchter Geschmack.

Kerner nickte den beiden Beamten noch einmal zu, bevor er durch die geöffnete Doppeltür ins »Rossini« verschwand und sie ihren Weg in die Kälte des Winters fortsetzten.

Monet und der Tod auf der Insel

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