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Prolog

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Die Farbe Gelb


Auf dem Weg von ihrem Laubengrundstück in Dresden-Coschütz, das sie von ihrem Vater übernommen hatte und auf dem sie, so oft es ging, im Sommer ihre Zeit verbrachte, zu ihrer Arbeitsstelle nach Loschwitz dachte die Frau daran, wie gut es war, dass sie die Betreuung des alternden Kunstmalers übernehmen durfte. So hatte sie zu ihrem kleinen Hartz-IV-Einkommen immer noch ein kleines Zubrot. An diesem Tag erschien Roswitha Färber ihre ganze Umgebung in Gelb. Die drei Kerzen auf ihrem Couchtisch in der Form gelber Eier, die von Ostern übrig geblieben waren und die sie bisher nicht abgebrannt hatte, um ihren Anblick noch lange genießen zu können. Das Sommerkleid, das sie nun trug. Die Butterblumen auf der Wiese, an der sie vorbeigehen musste.

Noch niemals hatte sie Vergleiche der Deutungen zwischen den Farben Rot, Blau und Gelb angestellt. Aber irgendwie hatte sie eine Intuition, mit den Farben zu spielen. Rot stand für das Hier und Jetzt, Blau für die Vergangenheit und Gelb … Gelb für die Zukunft. Rot für aktiv, Blau für reflexiv, Gelb für passiv. Rot für Härte, Blau für Kontrolle, Gelb für Gutmütigkeit. Eine kurze Zeit brachte sie es fertig, ihre Gelbgedanken zu verdrängen, doch dann stutzte sie. Stand Gelb nicht für Missgunst und Hass? Für Neid und Streit? Hieß es nicht im Volksmund, dass Gelb die Farbe der Eifersucht sei?

Die öffentlichen Verkehrsmittel der Stadt Dresden trugen die Farbe Gelb. Sowohl die Straßenbahn, die sie benutzte, als auch der lange Gliederbus, der sie über die Brücke brachte, die man das Blaue Wunder nannte und die Blasewitz mit Loschwitz verband, waren gelb. Als sie vor dem Künstlerhaus in der Pillnitzer Landstraße in Loschwitz ausstieg, leuchtete ihr der 1898 entstandene, imposante Bau des Architekten Martin Pietzsch mit seinen gläsernen Ateliers und den Vorbauten am Haupteingang entgegen. Sie erschrak. Auch das Künstlerhaus hatte man in gelber Farbe gestrichen. Noch kurz nach der politischen Wende in Deutschland starrte das Haus grau und ungepflegt gen Himmel; wer immer für die Erneuerung des Hauses plädiert hatte, wusste, dass Dresden eine Stadt der Kunst war. Und dass die Kunst auch durch die hier arbeitenden Menschen in alle Welt exportiert wurde und das Ansehen der Stadt mehrte, war unbestritten.

Einen Augenblick nur dachte sie an diesen Kunstexport, an die Komponisten, Dirigenten und Sänger, die an der Städtischen Oper gearbeitet hatten; Carl-Maria von Weber, Karl Böhm und Joseph Keilberth gehörten dazu, der Tenor Rudolf Dittrich und der Bass Kurt Böhme, die Kammersängerin Erna Sack und die Sopranistin Elfriede Trötschel. Auch Dresdner Maler waren weltweit ein Begriff; Robert Sterl und Josef Hegenbarth, Wilhelm Lachnit, Helmut Schmidt-Kirstein und Karl Kröner, der Bildhauer Herbert Volwahsen, die Grafiker Hans Theo Richter und der Leipziger Max Schwimmer, der nach Dresden an die Hochschule für Bildende Künste ging, wo er zum Leiter der Grafikabteilung avancierte.

Sie überquerte die Straße und ging zum Hintereingang des Hauses. Schon die schwere Haustür, die sonst verschlossen war, ließ sich ohne Schlüssel öffnen. Sie registrierte das unsicher. Helmut Müller-Karsten war ein überaus zurückgezogen lebender Mann, der sich nach dem Tod seiner Frau geradezu einigelte. Niemals zuvor hatte sie die Tür unverschlossen vorgefunden. Sie ging die wenigen Stufen zum Hochparterre und klopfte an die Wohnungstür, so wie sie es immer gemacht hatte. Als keine Antwort kam, kramte sie den Schlüssel hervor, den ihr der überaus vorsichtige Maler anvertraut hatte, und schloss auf. Sicher war er gerade im hinteren Zimmer, das das Ehepaar als Schlafzimmer genutzt hatte.

Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Vorsichtig schob sie den schweren Brokatvorhang beiseite und erstarrte. Vor dem Schlafzimmereingang lag der Mann, den sie nun seit fast einem halben Jahr betreut hatte. Sie versuchte zu schreien. Als aber kein Laut aus ihrem geöffneten Mund kam, begriff sie, dass hier der Tod geerntet hatte. Sie ging näher heran und betrachtete die Leiche. Der Mann war abgemagert, sah fast durchsichtig aus. Um ihn herum bemerkte sie noch nicht ganz eingetrocknete Flüssigkeit, die er im Todeskampf verloren haben musste. Sie dachte an das letzte Zusammentreffen mit dem Maler, der ihr eine schöne Zeit auf ihrem Wochenendgrundstück gewünscht hatte. Das war vor vier Tagen gewesen. Und da war er überaus fröhlich gewesen. Sonst still und in sich gekehrt, hatte er sogar kleine Witze gemacht und ihr Aussehen gelobt. Fast hatte sie den Eindruck, dass er in ihr mehr sah als eine Hartz-IV-Empfängerin, die froh sein musste, ein wenig dazuzuverdienen. Dann fiel ihr Blick auf den heruntergerissenen Vorhang, der sonst vor der Schlafzimmertür hing. Er zeigte in schwarzer Farbe ein halb nacktes Mädchen zwischen Blumen und Krügen in einer italienischen Landschaft. Die Grundfarbe des seidenen Vorhangs war gelb.

Sie forderte über die 112 einen Notarzt an. Es dauerte keine fünfzehn Minuten, bis der Rettungswagen eintraf. Der Mediziner, ein relativ junger Mann, konnte nur noch den Tod des Malers feststellen. Auf dem Totenschein kreuzte er ungeklärte Todesursache an. Das würde unweigerlich eine Obduktion nach sich ziehen. Dann fuhr er wieder ab.

Noch während Roswitha Färber über ihr Handy den Notruf der Polizei anwählte, dachte sie an die Betrachtungen der Farbe Gelb, die sie an diesem Tag auf dem Weg hierher angestellt hatte. Gelb war nicht nur die Farbe für Missgunst und Hass, für Neid und Streit. Gelb war für sie nun auch die Farbe des Todes.

Das Lächeln der Mona Lisa

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