Читать книгу Radsportberge und wie ich sie sah - Geraint Thomas - Страница 10
Tumble
ОглавлениеDer Tumble hat etwas an sich, das dich packt. Bevor du ihn überhaupt gefahren bist, hast du bereits die Geschichten über ihn gehört. Du kennst die Legenden. Die alten Burschen in deinem Radverein erzählen euch Jüngeren im Flüsterton von ihm. »Jungs, das Teil ist brutal. Der härteste Anstieg in ganz Südwales, dieser Brocken. Etwas Längeres und Steileres wird euch nirgends unterkommen, Jungs.«
Du hast viel über ihn gehört, aber er ist auch geheimnisvoll. Der Rhigos, der ist dir ein Begriff, wenn du in Cardiff oder an der Küste groß geworden bist. Er war dir schon von klein auf vertraut. Der Tumble liegt viel weiter entfernt, tiefer im Landesinneren, eine viel längere Fahrt, eher ein Tagesziel als etwas, das du auf dem Weg nach woanders mitnehmen könntest. Der Tumble? Er ist da draußen. Und wartet.
Er hat Historie, der Tumble. Und er hieß auch nicht immer Tumble. Früher war er unter dem Namen Keepers bekannt. Erst als er Mitte der 1980er Jahre ins Programm der Kellogg’s Tour of Britain aufgenommen wurde und die Veranstalter ihn sich auf einer Karte der nationalen Landesvermessungsbehörde anschauten und auf halbem Weg das Wort »Tumble« entdeckten, erhielt er seinen heutigen Namen.
Früher gab es dort mal ein Gasthaus namens Tumble Inn, daher vielleicht der Name. Aber da es die Schenke schon lange nicht mehr gibt, gibt es auch keine Stammgäste, die man fragen könnte. Es gibt nur die Legenden.
Nun denn. Die groben Details: Ganz oben befindet man sich auf 512 Metern Höhe. Der Anstieg ist um die fünf Kilometer lang, je nachdem, von wo genau man misst. Und er zieht sich hin – eine durchschnittliche Steigung von knapp über 8 %, in der Spitze bis zu 13 %, kaum mal eine Atempause.
Wegen dieser Zahlen ist er seit etwa 1987 fester Bestandteil des Grand Prix of Wales, und auch bei der Tour of Wales der Junioren wird er gern als Bergankunft am letzten Tag der Rundfahrt genutzt. Zu der Zeit, als ich bei den Junioren fuhr, war das eins der besten Rennen, die du dir wünschen konntest. Es war das Rennen, in dem du dich am ehesten wie ein Profi bei einer Grand Tour fühlen durftest. Mehrere Etappen, verschiedene Tage, an denen unterschiedliche Fahrertypen sich auszeichnen konnten – die großen Kaliber mit den sprintschnellen Beinen; die Kraftpakete, die auch als Centre beim örtlichen Rugby-Club eine gute Figur abgeben würden; die Jungs irgendwo in der Mitte, die beides drauf hatten; und schließlich die dürren Burschen, die Bergziegen, die das große Finale den Tumble hinauf herbeisehnten. Die ganze Woche sprachen wir von nichts anderem. Die Lokalmatadore der walisischen Amateurszene – in unseren Augen so etwas wie Profis, die zufällig noch einen Brotberuf hatten – wurden mit Fragen bombardiert. Man konsultierte die Experten und gab was auf ihre Meinung. »Oh, kennst du Pete?« – »Was, den alten Pete?« – »Jau, ist gestern noch den Tumble rauf.« – »Nee, oder? Sag bloß! Der Typ ist irre.«
Los geht es in der Ortschaft Govilon, direkt westlich von Abergavenny in Monmoutshire gelegen. Wenn du nach dem Weg fragst, achte darauf, es »G’vylon« und nicht »Gov-vy-lon« auszusprechen, sonst schicken dich die Einheimischen sonst wohin. Aus dieser Richtung ist es außerdem eine technisch anspruchsvolle Anfahrt, mit ein paar mehr Bremsschwellen, als dir auf dem Rad lieb sind, vor allem wenn du dich in einem hektischen Peloton befindest, das zum Fuß des Anstiegs rast. An manchen Stellen wird es außerdem ganz schön eng. Es geht durch den steinernen Bogen einer Eisenbahnbrücke, dann links ab und über eine kleine Buckelbrücke.
Egal, wie viele Male du ihn fährst, der Anstieg hinauf zum Tumble scheint immer völlig unvermittelt zu beginnen. Gerade bist du noch im Flachen auf der B4246 unterwegs, dann nimmst du eine Linkskurve und es geht bergauf. Links eine große Hecke, rechts ein weißes Haus und zack – los geht’s, die Straße bäumt sich finster und bedrohlich mit jetzt schon 10 % Steigung vor dir auf.
Deine Position im Feld oder in einer kleinen Gruppe spielt zu diesem Zeitpunkt keine große Rolle – dir steht noch so viel Kletterei bevor. Aber du solltest dich auch nicht allzu weit zurückfallen lassen, denn je weiter hinten du dich befindest, desto mehr kleine Antritte sind nötig, um deine Position zu halten, ansonsten verlierst du noch mehr an Boden. Außerdem kannst du dann nicht deine Linie in der ersten richtigen Kehre frei wählen, einer engen Haarnadelkurve nach rechts. Dort ist es besser, den langen Weg zu nehmen, statt die Innenkurve, die zu steil ist und dich zu viele Körner kostet. Vielleicht sparst du ein paar Meter, aber die werden dir von der Steigung gleich wieder abgenommen. Bleibe auf der linken Seite der Fahrbahn, vertraue deiner Taktik und deinem Wissen über das, was vor dir liegt. Bist du zu weit hinten, bleibt dir keine Wahl. Du musst sprinten, um den Anschluss zu halten, und niemand möchte zu diesem Zeitpunkt am Tumble sprinten müssen.
Nun bist du im Wald. Die Straße wird schlagartig schlechter, holpriger und langsamer, und falls es die falsche Zeit im Jahr ist, kann es durch das Laub unter deinen Reifen ziemlich rutschig und tückisch sein. Zum ersten Mal hast du nicht das Gefühl, in Südwales zu sein. Es ist nicht nur die Steilheit und die Länge des Anstiegs. Es sind die bewaldeten Hänge, in einer Gegend, in der die Erhebungen sanfter und meist ziemlich kahl sind. Das ist es, was den Tumble ausmacht: Nichts an ihm ergibt einen Sinn, nicht mal, wo er sich befindet. In dieser Hinsicht ist er wie der Mont Ventoux, eine ominöse Erscheinung, die sich einfach aus der Landschaft erhebt, wenn man sich ihr nähert. Er ist nicht zu übersehen. Und wenn er auftaucht, geht jedes Mal aufs Neue ein Raunen durch die Gruppe. »Boah. Da isser. Da ist der Tumble.«
Durch die Bäume, dann dünnt das Laubwerk allmählich aus. Das Viehgitter auf halbem Weg ist dein nächstes Ziel. Es ist immer noch eine ziemliche Schinderei von hier, noch ein langer Weg, und falls es ein Rennen ist, ist das Letzte, was du gebrauchen kannst, jetzt zu überdrehen und oben dann der Strapaze und dem Gegenwind nichts mehr entgegensetzen zu können. Mental kann es sich hier sogar wie der Tiefpunkt anfühlen, weil du schon so viel Kletterei in den Beinen hast und dir noch so viel bevorsteht. Die Steigung nimmt etwas ab, aber der Asphalt wird klebriger und stumpfer, und falls es Wind und Regen gibt, nehmen dich jetzt beide in die Mangel. Auf beiden Seiten keinerlei Schutz durch Bäume, Hecken oder Felsformationen. Nur das gleiche Gefühl, das du auch am Ventoux hast, wenn du aus dem Wald kommst und die Mondlandschaft unterhalb des Gipfels erreichst: Okay, sei nett zu mir, ich bin wehrlos, falls du es böse mit mir meinst.
Für die nächsten paar Kilometer gibt es keinen magischen Trick. Du musst sie einfach durchstehen. Sie werden ein Ende nehmen, auch wenn sie sich an schlechten Tagen endlos anfühlen. Schau nur auf die nächste Kurve, die du vor dir erkennen kannst, auf irgendetwas, das dich ablenkt von der langen Straße, die sich vor dir in die Höhe zieht.
Es ist ziemlich eigenartig hier oben. Keine Bäume, keine Vegetation außer struppigem Gras und feuchtem, dunkelgrünem Moos. Wenn sich die Landschaft dann weiter öffnet, kannst du zu deiner Rechten hinabschauen und das Tal unter dir sehen. Aber wenn du nach links blickst, ist dort keine massive Felswand, sondern nur das nasse Gras, das sich die schwindelerregend steilen Hänge hinaufzieht. Im Winter ist es ein grausamer Ort. Es ist immer windig. Die Frage ist nur, wie stark der Wind ist, wie heftig er es dir besorgen will und wie viel Regen er mit sich führt. Ich habe Tage dort oben erlebt, an denen der Wind sich mit dem Regen verbündet hat und genau den richtigen Winkel erwischte, um ihn mir unter dem Helm hindurch direkt ins Gesicht zu peitschen. Er scheuert dir das Gesicht auf, friert dir die Nase ein, tropft dir Kinn und Nacken hinunter und versucht, in Trikot und Jacke zu sickern.
Es ist auch nie vollkommen trocken da oben, selbst mitten im Sommer nicht. Es liegt immer eine gewisse Feuchte in der Luft. Die Straße sieht gar nicht so besonders nass aus – große Pfützen sieht man selten –, aber das liegt zum Teil daran, dass der Asphalt so stumpf ist. Ich weiß sehr wenig über die ideale Mischung, wenn man Asphalt auf einen feindseligen Berg klatschen möchte, aber bei diesem hier scheint man der Rezeptur zusätzlich Sand hinzugefügt zu haben. Es ist das Gegenteil einer italienischen Straße, die in der Regel schön glatt, ja, beinahe poliert ist und Regen ungefähr so effektiv absorbiert wie eine Marmorplatte. Oben am Tumble könnte es den ganzen Tag regnen und die Straße würde einfach alles aufsaugen. Und der Fahrbahnbelag ist dazu noch entsetzlich rau und holprig, als wäre es ein solcher Alptraum gewesen, ihn zum Trocknen zu bringen, dass die große Dampfwalze gar nicht erst herangeschafft wurde. Dies ist eine Straße, auf der man auf keinen Fall stürzen möchte. Sie würde dich in Fetzen reißen.
Der Tumble ist also durchaus eine Gemeinheit. Aber er ist immer machbar. Dies ist kein Berg, der dich zum Absteigen zwingen sollte. Und auf seine Weise ist er auch eine echte Schönheit. Der Gipfel beeindruckt dich jedes Mal wieder aufs Neue – so drastisch unterscheidet sich der Charakter dieser Landschaft von deiner normalen, alltäglichen Umgebung. Es gibt Anstiege, die du hinauffährst und sofort wieder vergisst. Den Tumble vergisst du nie. Du wachst nicht am nächsten Tag auf und überlegst: Was habe ich gestern noch gleich gemacht?
Ich habe gesagt, es gebe keine magischen Tricks. Aber es gibt etwas, das du machen kannst. Etwas, das mir unlängst auch durch drei aufeinanderfolgende Tage mit endlos scheinenden Zwölf-Stunden-Ausfahrten geholfen hat, die ich während des Coronavirus-Ausbruchs als Benefiz-Touren für den staatlichen Gesundheitsdienst NHS absolviert habe: Du brichst alles auf überschaubare Abschnitte herunter. Du denkst nicht daran, was noch vor dir liegt, sondern nur daran, was du schon geschafft hast. Vier Kilometer bis zum Gipfel? Alles klar. Konzentriere dich nur auf den ersten Kilometer. Das sind 1.000 Meter. Das sind wahrscheinlich deutlich weniger als 500 Pedaltritte. Schau mal, in der Zeit, in der wir uns unterhalten haben, hast du schon 20 geschafft. Und das, ohne es überhaupt zu merken. Du wirst es schaffen.
Bald kannst du den Gipfel sehen. Du bist zwar noch nicht da, aber du weißt, dass du es fast überstanden hast. Er hat auch einen richtigen Gipfel, der Tumble. Der Rhigos – der flacht oben einfach ab. Du weißt gar nicht so genau, ob du den höchsten Punkt schon erreicht hast. Auf dem Tumble gibt es keinen Zweifel. Das kalte Blau des Keepers Pond zu deiner Linken, eine kleine Abzweigung ebenfalls linker Hand und du hast es hinter dir.
Schaue dich um, wenn du es geschafft hast. Du wirst die Höhe spüren. Und spitze die Ohren: An den großen Anstiegen in den Alpen wirst du ganz oben vom drolligen Fiepen und Pfeifen der Murmeltiere begrüßt. Auf dem Tumble ist es das Blöken und Mähen von Schafen. Luke Rowe hat hier oben, am Beginn der Abfahrt, einmal einen haarigen Moment erlebt, als ihm ein verirrtes Lamm vom Straßenrand aus direkt vors Rad lief. Der arme Bursche war damals erst 13 (Luke meine ich, Schafe erreichen selten dieses Alter), und einen Moment lang befürchtete er das Schlimmste, doch das Lamm kullerte in Sicherheit, getroffen vom Kettenblatt, aber gerettet durch den Umstand, dass Luke nach überstandener Kletterpartie die Kette soeben vom kleinen aufs große Blatt geschaltet hatte. Keinem Radfahrer behagt die Vorstellung einer Kollision bei hohem Tempo, erst recht nicht mit einem Tier auf einer Straße, die so rau ist wie Schmirgelpapier. Dementsprechend erleichtert waren wir, als wir unversehrt auf der anderen Seite hinabsausten, Mensch und Tier wohlauf.
Ich habe ein bisschen das Gefühl, mit dem Tumble noch eine Rechnung offen zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, an diesem Anstieg jemals einen herausragend guten Tag erwischt zu haben. Als ich mit 18 die Tour of Wales bestritt, wurde ich, an zweiter Stelle im Gesamtklassement liegend, dort oben von Dan Martin besiegt. Das hat mich lange gewurmt. Ein Ire aus Birmingham, der auf dem Tumble einen Jungen aus Wales schlägt. Das geht mir heute noch gegen den Strich.
Der obere Abschnitt war außerdem Teil des Zeitfahrens bei der Junior Tour, mit Start gleich hinter Brynmawr und dann auf der B4248 durch die Heide Richtung Blaenavon, bevor es mit einer scharfen Linkskurve auf die Rückseite des Tumble ging und dann die letzten paar Kilometer rauf zum Gipfel. Mein Onkel Chris und meine Tante Ade, inzwischen leider beide verstorben, kamen immer her und feuerten mich an, weswegen mich stets warme Erinnerungen begleiten, wenn ich den Anstieg heute fahre.
Ich bin den Tumble auch immer mal wieder von der anderen Seite gefahren: vom Bergbau-Museum Big Pit hinauf, ein monströser Ritt rauf und wieder runter. Nur wenige lassen sich darauf ein, denn es ist noch härter und steiler, und wenn man von Süden kommt, führt einen die Anfahrt über viel befahrene, gefährliche Straßen. Ab Pontypool ist die Steigung zunächst noch recht gemächlich, ab Big Pit aber geht es durchgängig so steil hinauf wie auf der anderen Seite auf dem Abschnitt hinter Govilon. Kann man machen, macht man aber nicht oft.
Für mich geht es also vor allem um die Govilon-Seite. Wenn ich den Tumble mit einem Rugby-Spieler vergleichen müsste – was naheliegend ist, schließlich befinden wir uns in Südwales –, würde ich sagen, er ist wie Alun Wyn Jones. Er zieht sein Ding durch, was immer auch passiert. Von Anfang bis Ende Vollgas. Je härter es wird, desto mehr Freude bereitet es ihm.
Und er schert sich nicht darum, was du von ihm hältst. Er wird dir unerbittlich alles in den Weg werfen, was er hat, und du hast keine Chance auszuweichen. Aber die Sache ist die: Je mehr Zeit du mit ihm verbringst, desto mehr Respekt wirst du vor ihm haben und desto mehr holt er aus dir heraus. Du weißt nicht so recht, ob er dich leiden kann; es ist eine so lange Anfahrt von Cardiff dorthin, dass du jedes Mal schon etwas angeschlagen bist, wenn du erneut Bekanntschaft mit ihm machst, und du bietest nie einen schönen Anblick, wenn du oben ankommst. Aber er macht auch Spaß – auf seine eigene, brutale Weise. Du fährst ja nicht Rad, um es dir leicht zu machen. Es ist kein Snooker. Es ist kein Bowling. Du möchtest auf die Probe gestellt werden. Und der Tumble wird stolz darauf sein, dir alles abzuverlangen.