Читать книгу Radsportberge und wie ich sie sah - Geraint Thomas - Страница 15
Koppenberg
Оглавление3. April 2015, Flandern-Rundfahrt
Dauer: 2 Minuten 15 Sekunden
Distanz: 0,61 km
Ø-Geschwindigkeit: 14,7 km/h
Ø-Kadenz: 69 U/min
Ø-Herzfrequenz: 163 bpm
Die Größe ist nicht immer entscheidend, nicht, wenn es um Radsportberge geht.
Der Koppenberg ist nur 78 Meter hoch. Das sind zwei Kehren in Alpe d’Huez. Oder eine am Mortirolo. Er steht selten zu einem Zeitpunkt im Rennen an, um eine entscheidende Rolle für dessen Ausgang zu spielen. Er ist nur 600 Meter lang. Man könnte 30 von ihm im Col du Galibier unterbringen.
Aber es gibt noch ein »nur«, das im Hinblick auf den Koppenberg viel wichtiger ist: Nur an diesem Anstieg kann es passieren, dass du Weltklasseprofis absteigen und zu Fuß laufen siehst, mit geschulterten Rädern, als befänden sie sich in einem der Cyclocross-Rennen, die im Winter auf den Äckern hier in der Gegend ausgetragen werden. Nur am Koppenberg kannst du erleben, wie sie ihr Rad gar schieben müssen und dabei eine Miene ziehen, als würden sie dir am liebsten eine reinhauen.
Es hat nichts mit Können zu tun. Den Koppenberg juckt es nicht, wie viele Titel du gewonnen hast. Irgendjemand vor dir wird einen der Pflastersteine zu heftig oder im falschen Winkel erwischen, ein anderer geht in die Eisen, du musst Tempo rausnehmen. Und da du dich gerade in einem Steilstück mit 25 % Steigung befindest, geht dein ganzer Schwung in einem Schwall von Verwünschungen flöten. Jemand klickt aus. Du hältst das Gleichgewicht und bleibst im Sattel, aber der Bursche vor dir rauscht seitlich in einen Zuschauer. Es ist nass und glitschig unter deinen Reifen, doch ohne vernünftigen Grip hast du keine Chance, wieder in Gang zu kommen. Und unversehens, einfach so, geht gar nichts mehr, und 50 der besten Fahrer der Welt versuchen, in Schuhen voranzukommen, die nicht dafür gemacht sind, bequem auf einem Teppich zu laufen, geschweige denn auf einem fast senkrechten Brocken spiegelglatten Gesteins.
Und so kommt es, dass dieser winzige Anstieg, der nach 600 Metern vorbei ist und am Gipfel eine Höhe von gerade mal 78 Metern erreicht, ebenso eine Ikone der Radsportkultur ist wie irgendeiner der großen, namhaften Pässe, die regelmäßig von den dreiwöchigen Landesrundfahrten angesteuert werden. Er richtet Chaos und Verwüstung an. Er hat mehr von Mountainbiking als von einem Straßenrennen. Er ist wie kein anderer Anstieg im Radsport. Die Zahlen allein werden ihm nicht annährend gerecht. Es ist, wie sich Snooker oder Darts im Fernsehen anzuschauen. Du siehst die Könner und auch wenn du weißt, dass du nie im Leben eine 147er-Aufnahme oder einen Nine-Darter schaffen würdest, fragt sich ein Teil von dir, wie schwer das denn wirklich sein kann? Und dann versuchst du dich an einem richtigen Snookertisch und dein höchstes Break ist eine vier. Du spielst eine Partie und der Sieger ist derjenige mit den wenigsten Fouls. Zweimal verfehlst du die Kugel ganz, die du anvisiert hast. Überhaupt eine Kugel zu versenken, ist so schwer, dass jeder Frame zwei Stunden dauert, als wärt ihr Eddie Charlton gegen Cliff Thorburn.
Und du vergisst ihn nicht, er bleibt für immer in deinem Kopf. So ist das in Flandern. Wenn du diese flämischen Straßen im Rennen gefahren bist, kennst du irgendwann jeden Anstieg, weißt, was nach jedem einzelnen kommt, weißt, wie die Anfahrt zum nächsten ist. In den verschiedenen Rennen werden sie ein bisschen hin und her verschoben, aber der Rhythmus und die Magie bleiben immer gleich. All die Bilder und Erinnerungen stürzen wieder auf dich ein, selbst wenn du diese Hellingen seit fünf Jahren nicht mehr gefahren bist.
Die Anfahrt zum Koppenberg ist typisch Flandern. Runter von der Hauptstraße, immer mehr Fahrer wollen nach vorn, noch ein Kilometer bis zu einer 90-Grad-Rechtskurve, wo jeder unbedingt unter den ersten fünf sein möchte, und so befindest du dich mitten in einem kleinen Massensprint, gerade als die Straße sich von zweieinhalb Wagenbreiten auf eine verengt. Zwei Minuten Vollgas-Fahren wie die Irren, fast unausweichlich ein paar Stürze, dann scharf rechts zum Fuß des Anstiegs, vorbei an dem weißen Gebäude mit dem braunen Reetdach zu deiner Linken, eine praktisch rechtwinklige Kurve, bei der du jede Menge Schwung einbüßt, gerade dann, wenn du ihn am meisten brauchst.
Du hörst die Pflastersteine unter deinen Reifen, bevor du sie siehst. Rumpeln, rattern, knattern. Hundert Meter lang spürst du die Vibrationen in deinen Armen, in deinen Ellenbogen, in deinem Nacken und in deinem Rücken, und dann plötzlich bäumt er sich vor dir auf – innerhalb von 50 Metern von 5 % auf 11 % und 14 %; dann 16 % und dann 22 %, und du rauschst mit Karacho in den roten Bereich hinein.
Unter den Bäumen kann es nass sein. Früh im Jahr kann sich dort tückisches Laub befinden und die Pflastersteine noch rutschiger machen, oder Matsch, vor allem wenn der Anstieg am gleichen Tag schon mal gefahren wurde und die Reifen der Begleitfahrzeuge jede Menge Blätter und Dreck abgeladen haben.
Das Adrenalin rast durch deinen Körper – ich bin am Koppenberg! –, aber es ist auch eine Schinderei. Deine Trittfrequenz ist furchtbar klein, die Wattzahl auf deinem Powermeter riesig. An manchen Anstiegen kann man es mal ein paar Sekunden lang rollen lassen und sich ein klein wenig erholen. Am Koppenberg nicht. Hier ist es wie am Mortirolo: Wenn du auch nur einen halben Pedaltritt auslässt, kommst du zum Stillstand. Die Steilheit und das Pflaster – sie geben dir keine zweite Chance. Es ist, wie im Velodrom hoch auf die Überhöhung zu fahren und das Tempo unter 20 km/h sacken zu lassen. Du landest auf dem Hintern, ehe du dich versiehst. Wenn du am Koppenberg nicht durchgängig den Druck auf den Pedalen hochhältst, bist du erledigt.
Ich habe selbst die Demütigung erlitten, ihn hinauflaufen zu müssen. Es war auf einer Erkundungsfahrt mit dem Team Sky, ich fuhr hinter Edvald Boasson Hagen, als er ins Trudeln kam und einmal quer über die Straße zog. Ich musste bremsen, um nicht hinten auf ihn draufzufahren. Er fing sich und fuhr weiter, ich verlor meinen kompletten Schwung und musste aus den Pedalen ausklicken. Oben auf dem Koppenberg lauert immer ein Fotograf, auch an Erkundungstagen, und natürlich gelang ihm ein tolles Foto. Nicht gerade ein stolzer Moment, aber niemand ist davor gefeit.
Trotzdem gibt es keinen besseren Anstieg, wenn man sich gut fühlt und an der Spitze fährt. Die Atmosphäre ist unbeschreiblich. Wenn du bei der Flandern-Rundfahrt als Erster über den Koppenberg gehst, bekommst du zehn Watt gratis dazu. Einen unerfahrenen Profi kann das teuer zu stehen kommen – du solltest so weit vor dem Ziel nicht dein ganzes Pulver verschießen –, aber für diejenigen, die Bescheid wissen, ist es mit das Geilste, was unser Sport zu bieten hat.
Es ist gewaltig, wie ein natürliches Amphitheater. Steile Böschungen zu beiden Seiten der Straße. Zuschauer, die sich an die Hänge klammern, trinken, jubeln und verzweifelt versuchen, nicht den Halt zu verlieren. Bäume zuoberst der Böschungen recken ihre Äste über die Straße, schließen den Lärm und den Trubel ein, während du in einen Tunnel der Euphorie einfährst.
Ich habe mich immer auf den Koppenberg gefreut. Nicht unbedingt auf das Gerangel in der Anfahrt, aber auf die Herausforderung, wenn du erst mal im Anstieg drin bist – mit der gelassenen Zuversicht, dort so schnell sein zu können wie jeder andere. Die Historie unseres Sports bedeutet mir eine Menge. Ich habe Johan Museeuw dort hinaufjagen und Andrea Tafi sich absetzen sehen, und wenn du dann selbst auf derselben Straße Rennen fährst, ist es, als würdest du in der Zeit zurückreisen.
Wenn du nicht einen Carbonrahmen hättest, könntest du dich am Koppenberg tatsächlich genauso gut in den 1970er oder 1980er Jahren befinden. Die eigentlichen Bedingungen haben sich kaum verändert: Hier und da wurde ein Schlagloch ausgebessert, ein bisschen Kosmetik, aber mehr auch nicht. Die Straßen für die Tour de France werden neu asphaltiert, bevor wir eintreffen. Es zeugt vom öffentlichen Stolz der durchquerten Regionen und Gemeinden, Teil des Rennens zu sein. Die Straßen der Tour sind glatt, ausgerollt wie ein roter Teppich. Hier am Koppenberg hat sich in hundert Jahren kaum etwas verändert.
Wenn dieser Berg ein Bier wäre, würde er mächtig knallen: 14 % Alkohol. Wenn du gut in Form bist, kannst du damit umgehen. Natürlich würdest du die Wirkung spüren, aber du kommst damit klar. Wenn du aber nicht trinkfest bist, ist es so, als würde dir ein übelgelaunter Mike Tyson begegnen: ein Hieb und der Ofen ist aus. Statt dich weiter zu quälen, schleppst du dich lieber zur nächstbesten Bank.
Trotz allem liegt er mir. Ich habe mir ein wenig von den Qualitäten bewahrt, die ich auf der Bahn brauchte, vor allem die hohen Wattzahlen im Sitzen, wie man sie für die Mannschaftsverfolgung entwickelt. Zudem war ich es seit meinem Wechsel zu den Profis gewohnt, den Anfahrer für die Sprinter des Teams zu machen, schon damals in meiner Zeit bei Barloworld für unseren schnellen Mann aus Südafrika, Robbie Hunter. 30 Sekunden am Anschlag, zwei bis drei Minuten Tempo bolzen – das bin ich.
Ich liebe die Herausforderung, die solche Anstiege mit sich bringen. Und der Koppenberg war für mich ein Berg von besonderer Bedeutung – sowohl für den Fahrer, der ich war, als auch für den Fahrer, der ich zu werden versuchte. So wie es bei der Tour 2015 darum ging, im Hochgebirge zu bestehen und mir selbst zu beweisen, dass ich um die Gesamtwertung fahren konnte, wurde mir bei der Flandern-Rundfahrt 2011 klar, dass ich für die Eintagesklassiker geschaffen war. Ich stellte mich damals in den Dienst von Juan Antonio Flecha, trug nach meinem Sieg im Sommer zuvor das Trikot des britischen Meisters und liebte es – all die kleinen Antritte an der Spitze, als Erster in den Anstieg gehen, noch in guter Position über die Kuppe kommen, eingerahmt von Filippo Pozzato und Tom Boonen, Fabian Cancellara direkt vor uns.
Und der Koppenberg war der Gipfel all dessen. Dieses Pflaster hinaufzujagen und sich immer noch gut zu fühlen und zu denken: Verflucht, ich bin hier unter den besten 15! Am Hinterrad eines Fahrers wie George Hincapie zu kleben, der immer um den Sieg bei einem solchen Klassiker gekämpft hatte, wenn ich ihn als Kind im Fernsehen sah, es über das supersteile Stück zu schaffen, dieser ganze Kitzel. Der kleine Anstieg mit der so großen Geschichte, und ich komme mit ihm klar. Gerade so eben…