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3 WIE AUF SCHIENEN
ОглавлениеEin Blick auf die Uhr genügte. Die Freistunde war fast vorbei.
Ich schnappte mir meine Tasche, sprang die Stiegen hinunter, rannte aus der Haustür und stolperte beinahe über einen Fuchs, der gemächlich über die Straße trottete.
Hatte ich hier jemals einen lebenden Fuchs gesehen? Drehte ich jetzt völlig durch? War ich auf Drogen?
Vor ein paar Jahren hatte ich das letzte Mal gekifft.
Vielleicht hatte ich das ADHS-Medikament eines Schülers erwischt. Oder stand ich kurz vor einem Burn-out?
Traf auf mich die neue Modediagnose der Tiefenwahrnehmungsstörung zu, welche hauptsächlich männliche Schüler zu befallen schien? Vielleicht war das ansteckend und sprang auf Lehrer über?
Trotzdem fühlte ich in diesem Moment das Leben tiefer denn je. Merkwürdig!
„Herr Lehrer, Sie haben Farbe! Im Gesicht!“
Florian zappelte in der ersten Reihe. Wie schön, dass die Kinder heute so fröhlich waren und mich bunt wahrnahmen.
Doch dann verstand ich: Ich hatte mir bunten Kreidestaub in den Dreitagebart gestrichen. Mist! Warum war ich nur immer wieder so peinlich? Warum lebten wir an unserer Schule noch in der Kreidezeit? Andere Schulen verwendeten schon lange interaktive Boards.
„Weißt du, warum Engel fliegen können?“
Ich hatte Patrizia, meiner Kollegin, von der Kreidegeschichte berichtet. Eigentlich erzählte ich ihr immer alles. Nur von Coyote sagte ich nichts. Und nun stand sie vor mir und schaute mich mit schief gelegtem Kopf an.
„Noah, bist du noch da? Warum also können Engel fliegen?“
„Keine Ahnung!“
„Weil sie sich selbst nicht so ernst nehmen“, erklärte sie und sauste weiter zu einem Schüler in Not.
Am Nachmittag unterrichtete ich zusammen mit meiner älteren Kollegin Gertrude, die ich zweimal in der Woche unterstützte.
Gertrude war so nett wie ihre Stunden quälend waren, denn sie hatte eine Leidenschaft: Sie war begeistert von sich selbst, so sehr, dass sie nicht einmal bemerkte, dass einige Schüler Mittagsschlaf machten, während sie unterrichtete.
Sie säuselte entzückt und ihre Stimme wirkte mit der Zeit so leise wie ein Radio, das irgendwo im Hintergrund in einer Gefängniszelle dudelte. Die Schüler schauten mich flehend an, aber ich konnte nichts machen. Gertrude schwebte wie eine entrückte Fee in höheren Gefilden, für Kinder und Kollegen unerreichbar.
Auch meine Gedanken drifteten ab – zu Old Man Coyote. Ich war hin- und hergerissen. Bildete ich mir alles nur ein?
Oder hatte er wirklich auf meinem Sofa gesessen?
Zuhause angekommen hockte ich mich auf meine Couch, genau dort, wo Coyote gesessen hatte und rief mir alles in Erinnerung.
Egal, ob ich es mir eingebildet hatte oder nicht: Wie konnte mir nur so etwas Verrücktes passieren?
Auf der Suche nach einer Lösung des Rätsels kramte ich in den Erinnerungen an die letzten Jahre. Szenen aus meiner Vergangenheit perlten wie Kohlensäurebläschen hoch.
Drei Jahre unterrichtete ich nun schon an dieser Mittelschule. Nach meinem Abschluss, kurz nach dem ersten Sex in dem Auto, das ich von meinem Vater geschenkt bekommen hatte, lebte ich als Straßenmusiker, Skilehrer, Weltreisender, Gitarrenlehrer und Freizeitpädagoge.
Die Welt war bunt gewesen und alle Türen schienen mir offen zu stehen. Trotzdem entschied ich mich für die Klassentür. Ich konnte mir keinen sinnvolleren Beruf als den des Lehrers vorstellen. Kinder liebte ich einfach. Ich wählte die Fächer Deutsch und Sport. Neben dem Bankfach – in diesem hatte ich als Schüler immer mein Pausenbrot verstaut – waren es die beiden Lieblingsfächer in meiner Schulzeit.
Während des Studiums an der Hochschule lernte ich viel – über hübsche Frauen, spannende Lokale, mitreißende Bands, neue Sportarten und auch über heilige, pädagogische Theorien, vorgetragen von praxisfernen Liebhabern junger Frauen, den Professoren. Danach ging ich nach Bayern und wurde als der charmante, unkonventionelle und etwas schüchterne Pädagogenlegionär endlich auf die Kinder losgelassen. Ich war geschätzt, vielleicht nicht so wie David Alaba, aber immerhin. Zwei Jahre später kehrte ich mit einem Rucksack voller Erfahrungen nach Österreich zurück, bereit, die Welt zu erobern. Doch es sollte anders kommen.
Kurz nach meiner Rückkehr starb mein geliebter Papsch völlig überraschend. Wir wollten uns, jetzt, wo ich im Nachbarort als Lehrer arbeitete, wieder öfter sehen, gemeinsam Sport treiben und einfach das Leben genießen. Er war stolz auf mich gewesen und froh, dass ich Lehrer geworden war.
Mein Herz war damals kurz davor, in tausend Stücke zu zerspringen.
Bald vergammelte der Rucksack voller Erfahrungsschätze in der letzten Ecke meines Lehrergehirns. Er war vergessen und wurde nicht mehr ausgepackt. Der Schulalltag peitschte mich wie ein Tyrann durch ein Leben, das nicht mehr meines war, und ich lebte, wie der Alte auf meinem Sofa gesagt hatte, nach dem Motto, das ich von der Schule nur zu gut kannte: Mache das Mögliche unmöglich!
Früher schien mir das Motto unmöglich, aber ich war eines Besseren belehrt worden. Nur meine Aufgabe als Klassenlehrer machte mich froh. Die Kinder waren wie Farbkleckse auf der grauen Leinwand meines Lebens.
Und jetzt war dieser Fuchsschwanztyp auf meiner Couch gehockt. Das war eigentlich völlig unmöglich, etwas, das ich nicht einordnen konnte. Aber es rührte mich in meiner Seele an. Ich war verwirrt und trotzdem glücklich. Dieses Gefühl war zart und zugleich stark, so wie ein Löwenzahn, der durch den Asphaltboden bricht. So ähnlich wie dieses trotzige Unkraut fühlte ich mich.
Um auf andere Gedanken zu kommen, googelte ich den Namen Old Man Coyote. Aber die Beschreibungen klangen fremd, fern von der Realität in meinem Leben.
Es war, als lese man Legenden über Yeti, der plötzlich an der Tür läutete, mit einem Eislutscher im Mund – und eine Skitour vorschlug.
Spätabends, nachdem ich die Deutschhausaufgaben korrigiert hatte, krachte ich todmüde ins Bett und hoffte, einen traumlosen Schlaf zu finden. Einen Augenblick später schrillte der Wecker.
„Aufstehen, mein Schatz!“, rief meine Mutter. „Sonst kommst du zu spät zur Schule!“
Schule? Hm?
Hastig schlang ich mein Frühstück runter, kippte den Kakao hinterher und schwieg meine Schwester und meine Mutter an. Mein Vater war schon bei der Arbeit. Er war immer so witzig und ich vermisste ihn am Frühstückstisch.
Kurz darauf lief ich hinaus mit der Schultasche am Rücken.
Noch nicht lange war ich auf der neuen Schule, die mir schon wieder alt vorkam. Meine Freunde verschönerten mir meinen Schulalltag, aber die Lehrer wirkten auf mich wie Wesen aus einer anderen Welt. Nur der eine oder andere erreichte mich und nahm mit mir Kontakt auf. Nach einiger Zeit, ich wurde älter und älter, entdeckte ich, dass die meisten Lehrer auf Schienen fuhren. Als würden sie unsichtbar gesteuert.
Finn, mein Freund, zeigte mir, dass die Farben transparent und über die Jahre immer blasser wurden. Gerade bei vielen älteren Lehrern war kaum noch eine Farbe zu erkennen.
„Schau“, sagte Finn, „immer haben sie Recht. Sie wissen genau, wie alles funktioniert.“
„Na ja, schwer ist das doch nicht. Die sind ja auf Schiene, folgen immer und immer wieder denselben Weg und machen Pause bei denselben Stationen.“
Ich sah, wie diese fahlen Gestalten Essen für uns Kinder in den Händen hielten; ein ungenießbarer, grauer Fraß, aufgewärmt und lieblos zubereitet. Alles war verkocht, die Zutaten hatten das Haltbarkeitsdatum längst überschritten.
Immer öfter erhielt die Schule Fertigprodukte, alles normgerecht, überprüft und extra in Fabriken von Experten produziert. Die Lehrer priesen die Vorteile dieser Produkte. Auf ihren Schienen brachten sie das Fabriksessen zu uns Schülern in die Klassen. Dabei schauten sie an uns vorbei.
Nur wenn wir den Unterricht störten, traf uns ein entwürdigender Blick. Wenn wir dagegen anfingen, auch auf den Gleisen zu fahren, erhielten wir einen müden, aber anerkennenden Blick.
Die Schienen in der Schule waren seit Kurzem mit einem äußeren Schienennetz verbunden. Fast alles wurde zentral programmiert, geregelt und ferngesteuert.
Einige Kinder hielten das nicht aus. Zwei von ihnen mussten Medikamente zur Beruhigung nehmen. Danach glitten sie mühelos auf den Gleisen und ernteten viel müdes, teilnahmsloses Lob.
Man wollte alle auf Schiene bringen, aber wir hatten keine Lust, denn die Vorbilder stießen uns ab. Die Verantwortlichen für das Schienennetz und die Schienenbenutzer machten Druck, graue Angst sollte uns zwingen. Man drohte uns mit der Sperre der Zukunft, sollten wir die Schienen nicht benutzen. Ein Junge begehrte auf. Danach gab es viele graue Fragen und noch mehr Pillen.
„Ist hier jeder auf Schiene?“, fragte ich Finn.
„Fast alle, aber es gibt Ausnahmen. Schau mal dort, der Lehrer … Er ist neu in dieser Geisterbahn. Er kommt aus dem Leben. Aber er wirkt schon verunsichert. Ich sag dir, bald läuft der auch schnurgerade, wenn er sich nicht entscheidet. Sonst wird für ihn entschieden.“
Ich behielt ihn im Auge. Er hatte Kuchen mitgenommen, in den er seine gute Laune hineingebacken hatte. Ganz frisch war der Kuchen, noch warm und er duftete himmlisch. Der Lehrer aß mit den Kindern und lachte mit ihnen. Die Kinder schoben sich den letzten Krümel in den Mund und leckten sich die Finger ab. Danach waren sie alle lebendiger, hatten Farbe im Gesicht und in der Stimme.
„Und die da, die junge Lehrerin im roten Kleid, die ist auch noch nicht auf Schiene. Sie macht, was sie will und hat einen unvergleichlichen Humor.“
Auch sie backte für die Schüler, ihre Torte strahlte im Klassenraum genauso wie die Herzen der Kinder.
Danach entdeckte ich eine Frau und einen Mann, beide Mitte zwanzig. Die Frau war kühl und distanziert, der Mann schlank und groß gewachsen. Über das äußere Schienennetz glitten sie in das Schulgebäude, so schnell, dass sie uns Schüler gar nicht sahen. Sie hielten die Fertigprodukte in den Händen, aber alles ging so rasant. Während sie vorbeiflitzten, teilten sie das Essen aus.
Ich war enttäuscht. Die farblosen Muster ihrer Kleidung passten zu der Fertigproduktverpackung.
„Wer war das denn?“, fragte ich Finn.
„Die zwei Neuen, aber die waren schon voll programmiert, bevor sie über das Außennetz an die Schule kamen.“
Finn fuhr sich mit der Hand durch die Haare und wies mit dem Kopf in eine andere Richtung.
„Und der Kugelbauch da, siehst du ihn? Der mit dem langen Bart? Das ist ein Lehrer im Ruhestand. Du hast ihn nicht erlebt, aber ich sag dir, die halbe Schule weinte, als er ging.“
„Er war nie programmiert“, hörte ich eine Stimme hinter mir, „aber der junge Mann dort wird gerade programmiert. Er sollte aufpassen!“
Eigenartig. Woher kannte ich diese Stimme?
Verwirrt blickte ich mich um, sah aber niemanden mehr. Einen Lidschlag später duftete es nach Lagerfeuer und Kuchen.
Wo kam dieser Geruch her?
Dann stockte mir der Atem. Der junge Lehrer. Das war ich!
Ich wachte auf, war hellwach und mein Herz trommelte gegen die Rippen. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn.
Sofort sprang ich aus dem Bett, stolperte zur Toilette, kotzte und weinte. Sollte ich mich krankmelden?
Nein, nicht bei Katja. Dazu hatte ich keine Kraft. Kaltschnäuzige Kommentare konnte ich jetzt nicht verkraften.
So rauchte ich noch eine Zigarette, kippte Kaffee auf meinen leeren Magen, der lautstark protestierte, und trottete zur Schule.