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4 DAS LEBEN ZUERST

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„Wie siehst du denn aus? Bist du mit den Schulbus kollidiert?“

Als ich Franziska in der Aula begegnete, konnte sie ihre Neugierde kaum verhehlen. Sie strich sich durch ihre gelockten Haare, die auf ihre Schultern fielen.

„Gib es schon zu: Du hast die Nacht durchgefeiert?“

„Feiern? Machst du Scherze? Nein, echt nicht!“

„Ach komm, ich kenn das … Letztens habe ich auch ausgesehen wie nach einem Jahr auf dem Matrosenschiff, nachdem ich die ganze Nacht …“

Alter Schwede, Franziska war verboten hübsch, Humor hatte sie auch. Ich verschwand grinsend und in sichtlich besserer Laune in meiner Klasse. Zuerst holte ich Todi, unser Schulskelett, aus der Höhle Platons, dem Lehrerzimmer.

„Herr Lehrer, Todi und Sie sehen sich ganz schön ähnlich.“

„Oh danke! Das ist mir aber eine Ehre!“, meinte Todi am Ende der Stunde und verbeugte sich vor seinem Publikum.

„Jetzt haben wir dann Herrn Schmidt. Mit ihm macht es überhaupt keinen Spaß. Wenn er wenigstens nur einmal lächeln könnte. Ich habe Angst vor ihm“ gestand mir Marie.

Ich redete ihr Mut zu und verschwand in die nächste Klasse zum Unterricht. Bald war der Tag geschafft.


Spätnachmittags rannte ich nach Hause und öffnete erwartungsvoll die Tür. Niemand. Gähnende Leere.

Also doch. Alles war Einbildung gewesen. Nein, das konnte nicht wahr sein! Die Gespräche, sein Aussehen, seine Art zu sprechen, ich konnte mich glasklar erinnern. War es ein Wachtraum gewesen oder war ich nun ein Fall für den Psychiater?

Ich stellte die Schultasche ab und ging zur Balkontür. Aber auch von dort war kein alter Mann mit Cowboyhut zu sehen. Enttäuscht drehte ich mich um – und stieß einen gewaltigen Schrei aus.

„Um Himmels willen, du darfst doch einen alten Knacker nicht so erschrecken!“, tadelte mich Coyote.

Ich rang um Luft.

„Sag einmal spinnst du? Mein Herz ist mir fast in die Hose gerutscht.“

„Besser wär’s, wenn dein Hirn ins Herz gefallen wäre.“

„Du bist also doch real?“

„Wenn du meinst. Zumindest so real wie du.“

„Darf ich dich berühren?“

Ich griff nach seiner Lederjacke und war erstaunt, wie muskulös der Arm sich darunter anfühlte.

Coyote lachte.

„Siehst du. Es geht alles mit rechten Dingen zu.“

Ich bekam trotzdem Herzrasen. Vielleicht war er ein Psychopath, so ein gefährlicher Spinner, der es auf gutherzige Menschen abgesehen hatte?

Ich legte mein Smartphone auf die Küchenablage und schaltete unbemerkt die Aufnahmefunktion ein.

„Du meinst, ich spinne. Stimmt’s?“

Coyote kratzte sich an der Stirn.

„Die Chance besteht durchaus. Ja.“

„Und was ist, wenn du der Irre bist und ich derjenige, der dich befreien möchte?“

„Wie solltest du das? Ich bin nicht eingesperrt.“

„Oh doch. Du bist eine Geisel von dir selbst.“

„Warum breche ich dann nicht aus? Sag es mir.“

„Stockholm-Syndrom.“

„Okay, mit der Diagnose kann ich leben. Das ist gesellschaftlich akzeptierter, als mit einem alten Kojoten abzuhängen.“

„Der Herdentrieb ist auch dein Problem, du Schaf.“

Er blökte so laut, dass ich mich umschaute, ob jemand unser Treffen bemerkte.

„Verfolgst du mich schon länger? Bist du diese Präsenz? Ich hab da immer etwas gespürt … Warst du das?“

Ich blickte auf seinen Schweif. Hatte ich nicht gestern neben dem Wald einen Blick darauf erhascht? Sicher, das war er doch! Warum war mir das noch nicht aufgefallen?

„Natürlich, du bist das, du bist schon seit einiger Zeit immer hinter mir her.“

„Willst du mich nicht bitten, Platz zu nehmen? Und wolltest du nicht einen Kaffee kochen?“

„Aufgrund meiner guten Erziehung bitte ich dich nun, auf meinem Sofa Platz zu nehmen.“

Danach machte ich Kaffee. Coyote zog seine Jacke aus, warf sie über die Lehne und legte seinen Hut daneben. Seine weißen Haare fielen über das leicht zerknitterte Holzfällerhemd. Er wirkte kräftig, energiegeladen und ungemein fröhlich. Ein kleiner Spalt zwischen den Vorderzähnen war zu sehen, als er mich angrinste.

„Schön, wieder bei dir zu sein. Mein Gott hatte ich schon Sehnsucht nach dir.“

„Nach mir?“

„Gar nicht so einfach, dich punktgenau im Universum zu finden. Sorry für den Stress bei der Anbahnung. Jetzt ist’s aber gemütlich.“

„Sehr gut, mir reicht der Stress in der Schule. Einigen Schülern scheint es auch nicht so gut zu gehen.“

„Setz dich mit ihnen doch mal in einen Kreis und höre ihnen von Herzen zu.“

„Wie meinst du das?“

Coyote lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und skizzierte mir eine einfache Art des Zuhörens und Redens.

„Das probiere ich sofort. Jetzt hast du mich neugierig gemacht, alter Mann. Wie hast du das vorhin mit dem Universum gemeint?“

Coyote bat mich, mich neben ihn zu setzen. „Willst du es wirklich wissen?“

Mir wurde warm ums Herz. Alle Angst war weg und ich nickte heftig.

Coyote legte seine Hände auf meine Stirn. Erst war es, als würde mein Kopf zerspringen. Dann wurde es licht, Coyotes breites Grinsen tauchte vor mir auf. Er lachte und ein tiefes und vertrautes Gefühl ergriff mich, ich erkannte …

Wo war ich? Was machte ich hier?

Ich rappelte mich auf und schaute mich um. Draußen war es finster geworden. Wie lange hatte ich auf dem Sofa gelegen?

Meine Finger tasteten sich zum Lichtschalter vor. Ein Uhr in der Früh.

Wo war Coyote?

Auf dem Küchenregal lag immer noch mein Handy. Neugierig nahm ich es und blickte auf die Oberfläche. Als Hintergrundbild war ein grinsender Coyote zu sehen. Dann versuchte ich, unser Gespräch abzuhören.

„Freue mich schon auf einen guten Kaffee. Auf deine Befreiung. Der Alte.“

Mehr war nicht zu hören.

Nur ein herzliches Lachen als Abschluss.


Die halbe Nacht wälzte ich mich hin und her, knuffte meinen Polster und starrte in die Dunkelheit.

Was hatte er mit mir gemacht?

Ich kramte in meinem Gehirn. Da war das Licht gewesen und Coyote. Zuvor hatte er meine Stirn berührt und ich hatte Geborgenheit gespürt.

Vertrautheit.

Frieden.

Meine kritische Vernunft wollte dieses Gefühl gerne abschütteln. Es gelang mir nicht, bis ich gegen Morgen einschlief.


„Heute probieren wir etwas Neues aus. Wir üben gemeinsam, wie wir mit dem Herzen hören können.“

Ich hockte mit den Kindern im Kreis, fest entschlossen, den Vorschlag von Old Man Coyote auszuprobieren.

„Und wie geht das?“

Ben hob fragend seine buschigen Augenbrauen bis zum Haaransatz.

„Das ist ganz einfach. Jetzt nehme ich diesen Sprechstab. Wenn ich ihn in der Hand halte, hören mir alle aufmerksam zu, mit dem Herzen. Wenn ich fertig bin, lege ich den Stab in die Mitte und der nächste darf ihn nehmen und reden. Alles klar?“

Nachdem ich den Sprechstab wieder in den Kreis gelegt hatte, holte ihn Marie und erzählte, was sie auf dem Herzen hatte. Alle Kinder lauschten. Nur Maries stille Stimme war zu vernehmen, als sie darüber sprach, wie wenig sie sich von einigen Lehrern geschätzt fühlte.

„Danke, dass ihr mir zugehört habt“, meinte sie abschließend.

„Können wir bald wieder im Kreis sitzen?“, fragte Ben später, der wie einige andere Kinder mit dem Stab in der Hand vor der gesamten Klasse geredet hatte.

Das musste ich Old Man Coyote erzählen. Vielleicht würde ich ihn ja treffen.


Als ich am Nachmittag die Schule verlassen wollte, fühlte ich mich leichter, fast beschwingt.

Was hatte Coyote gestern mit mir gemacht?

Hoffentlich war der Alte in Lederjacke und mit Cowboyhut schon in meiner Wohnung. Auch wenn ich nichts über ihn wusste, eines war sicher: Er machte mich glücklich und seine Tipps waren wirklich gut.

Leise summte ich vor mich hin. Schon lange hatte ich mich nicht mehr so glücklich gefühlt. In diesem Moment kam mir Katja entgegen. Sie wirkte unzufrieden, ihre Stirn war zerfurcht.

„Noah, dein Verhältnis zu den Schülern und Eltern ist zu eng. Du lässt alle zu nah an dich ran. Eine Schülerin hat mir begeistert erzählt, was ihr in der Deutschstunde besprochen habt. Wirklich, das führt zu weit.“

„Warum soll ich keine Beziehung zu meinen Schülern haben? Plädierst du jetzt für Distanz?“

„Nein und das weißt du auch. Aber deine Vorgehensweise ist unprofessionell und naiv.“

„Mein Gott, Katja. Derzeit lasse ich einen Kojoten mit Cowboyhut ganz nah an mich ran. Ich hab zu ihm, wenn ich ehrlich bin, mehr Vertrauen als zu dir und so manchen Kollegen. Ob es dir passt oder nicht, ich werde meinen Schülern zuhören, immer und überall. Und übrigens werde ich sie weiterhin spontane Referate und Buchvorstellungen halten lassen. Und wegen der Schullandwoche müssen wir auch noch reden und auf das Märchenbuch – pardon Klassenbuch – scheiße ich mal so richtig herzlich. Danke.“

Die klaren Worte saßen. Also, sie saßen in meinem Hinterkopf und dort blieben sie auch sitzen, ohne den Mund zu verlassen.

„Hast du nichts mehr zu sagen, Noah?“

„Ja, schon. Nein, doch nicht.“


Nach der Arbeit kochte ich mir Vollkornspaghetti mit Sugo. Danach nahm ich meine mexikanische Aluminiumkanne vom Regal und bald sprudelte das Wasser wie ein Geysir vom Bauch der Kanne hinauf. Ich öffnete den Deckel und goss die nachtschwarze Flüssigkeit in die Tasse.

„Einen wunderschönen Nachmittag. Sei gegrüßt von Old Faithful.“

Ich verschüttete Kaffee und verbrühte mir fast die Finger, so erschrak ich. Tja, auch Old Man Coyote explodierte in mein Leben wie ein Geysir. Würde er regelmäßig wie diese heiße Quelle in meinen Freistunden auftauchen?

Wenn er da war, schmolzen meine Zweifel wie Schnee in der Sonne. Mein Herz hüpfte auf und ab. Was passierte mit mir? Bei diesem Alten geriet ich außer Kontrolle, ich, der niemals die Kontrolle über meine Gefühle verlieren wollte.

Coyote kam rüber zu mir. Er kühlte meine Hand unter kaltem Wasser und wischte den verschütteten Kaffee auf. Dann schenkte er sich ein.

„So eine Ausstrahlung! Ganz wie seine Vorfahren aus dem afrikanischen Hochland.“

„Danke für das Kompliment, alter Mann. Stimmt, es brauchte Millionen Jahre der Menschheitsentwicklung – von den Anfängen in Afrika bis jetzt. Hier stehe ich!“

„Wieso du? Ich redete über den Espresso.“

„Natürlich, Espresso – what else?“

„Danke, Noah Clooney, ich sag dir, du wirst die Welt noch vor der Sintflut der Kapseln retten!“

Ich schüttelte nur den Kopf. Old Man Coyote schlürfte etwas zu laut und als er lächelte, zeigte er wieder die Lücke zwischen den Schneidezähnen.

„Willkommen auf dem rettenden Schiff des Lebens. Freude wartet auf dich! Was treibst du dich noch hier im dreckigen Hafen der jammernden Opfer herum? Tanz über die Landungsbrücke und komm an Bord. Ich sag dir, das Schiff ist herrlich. Die Fahrt ein Genuss. Es wird nicht mehr allzu lange dauern und die Segel werden gesetzt!“

„Coyote“, stotterte ich, „was meinst du? Ich verstehe nur Hafen, oder besser gesagt Bahnhof. Ich kapier es nicht.“

„Okay, ich erklär es dir. Aber geh erst mal aus der Sonne, dein Schatten wiegt so schwer.“

Ich trat zur Seite und nippte an meinem Espresso.

„Danke, Noah, das sind gefühlte zwanzig Kilo weniger, die auf mir liegen. Du solltest abspecken und dich leichter nehmen!“

„Was? Beleidigst du mich?“

„Nein, ganz und gar nicht!“

„Das hörte sich aber anders an, wenn ich darüber nachdenke.“

„Tanz einfach und sing darüber.“

„Spannender Vorschlag.“

„Ich mein es ernst. Singe und tanze. Dein inneres Kind macht sich schon bereit. Es ist der Schlüssel zu deinen Kindern. Nicht irgendein perfektes Schulsystem, das es gar nicht gibt. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Gut, Systeme sind wichtig, aber sekundär.“

Dann funkelten seine Augen und er sang: „Sekundär, baby. Oh yes, sekundär … “

„Und was ist dann primär, Coyote?“

„Leben, Noah, Leben. Zuerst das Leben und dann die Struktur. Prost!“

„Prost!“, gab ich zurück und nickte. „Du lebst, Noah, ist dir das schon aufgefallen?“

„Ja, sicher!“

„Okay, doch nicht. Du prostest mit Kaffee. Du bist echt schräg …“

„Coyote, aber …“

Coyote enthüllte wieder die Schneise zwischen den Zähnen. Dann zerrte er an seinem buschigen Schwanz.

„Strukturen sind sekundär, mein Lieber. Sie verändern sich. Vor allem sind sie nicht des Rätsels Lösung. Sieh sie als Gefäß, in dem das lebendige Wasser weitergegeben wird. Oder auch der Kaffee.“

Er zeigte auf die Kanne und sein Häferl.

„Viele aber legen den Wert auf Strukturen und Ordnungen, versuchen hier eine Perfektion zu erreichen, die es nicht gibt. Ich sehe das so: Systeme können förderlich und sie können hinderlich sein. Das ist alles.“

„So wie Kaffeekannen förderlich sind, oder?“

„Kannen schon eher, Kapseln weniger! Du hast den Clou, ney?“

„Schenk dir die Anspielungen auf George, diesen Frauenschwarm. Ich hätte gerne seine Anziehungskraft auf Frauen.“

Ich seufzte und hob theatralisch die Augenbraue.

„Ist da jemand gekränkt?“

„Naja. Mit Frauen tut sich momentan nicht viel!“

„Narziss und Schmollmund. Das wird schon wieder. Gekränkt sein ist immer ein Zeichen für ein verletztes und selbstverliebtes Ego. Umarme es am besten. Drück es an dich wie ein frisch gebadetes Häschen und gehe mit ihm hinaus ins Leben.“

„Witzige Vorstellung, großer Hase.“

„Weißt du, was wirklich zählt? Wie du mit den Kindern umgehst! Sie sind viel wichtiger als irgendein System. Und weil das Johannes noch nicht klar ist, fühlen sich die Kinder nicht wohl.“

„Yes, old man. Sag mal, woher kennst du eigentlich Johannes?“

„Du weißt, ich beobachte dich schon länger. Und Johannes beschäftigt dich sehr, oder täusche ich mich?“

„Stimmt, mir geht es wie den Kindern, wenn ich mit Johannes zusammen bin. Er und sein Freund Manfred, der Physik unterrichtet, hoffen sicher insgeheim, dass der Quantenphysiker Anton Zeilinger sie noch vor der Pension als verschränkte Lichtteilchen von der Schule direkt nach Teneriffa oder besser noch Mallorca beamt. Okay, verschränkte Quantenteilchen kann man mittlerweile beamen, aber beschränkte Beamtenteilchen, die sich der Schwerkraft des Schulstandortes und dem Trägheitsgesetz verpflichtet fühlen?“

Coyote schlug sich auf die Schenkel.

„Eben. Ihr fühlt euch nicht wohl. Aber das liegt nicht an irgendeinem System, sondern an euch selbst. Jeder Mensch schafft mit seinen Überzeugungen selbst Systeme und die beeinflussen wieder bestimmte Haltungen.“

Coyote fiel auf die Knie und schaute zu seinem buschigen Schwanz. Dann rannte er diesem wie ein Irrer auf allen Vieren im Kreis hinterher, packte ihn mit der rechten Hand, verbog sich wie ein Artist des chinesischen Nationalzirkus und hatte ihn kurz darauf zwischen seinen Zähnen. Ich war sprachlos. Er ließ wieder los und stand auf.

„So ist das mit der persönlichen Überzeugung und den Systemen. Sie machen sich selbstständig, drehen sich im Kreis und dann beißt sich die Katze in den Schwanz.“

Er schnurrte laut.

Mann, war das ein durchgeknalltes Theater!

„Johannes hat kaum Bezug zu seinem inneren Kind, zu dem Jugendlichen, der er einmal gewesen ist. Er hatte keine gute Kindheit, nichts, an das er erinnert werden will.

Deshalb hat er sich, sobald er konnte, auf die andere Seite geschlagen. Er will alles vergessen und abspalten. Johannes bezahlt viel dafür, und zwar mit seiner Spontanität, Freude und Lebendigkeit. Das alles hat er verloren und die Kinder, die er unterrichtet, spüren das.“

„Aber deshalb kann er doch ein guter Lehrer sein, Herr Coyote!“

„Das ist schwer.“

Coyote hielt kurz inne und überlegte.

„Selbst wenn man das eigene Unterrichtsfach mag … Wer den Zugang zu seinem Inneren verloren hat, landet irgendwann vor dieser unsichtbaren Mauer und kommt nicht mehr weiter, egal wohin. Ohne Selbstliebe verliert man die Orientierung. Der Kompass funktioniert nicht mehr und der Verstand arbeitet unzusammenhängend.“

„Du erinnerst mich ein wenig an Hattie, den Erziehungswissenschaftler aus Neuseeland. Er kam auch zu dem Ergebnis, dass es nicht die Strukturen sind, wenn der Unterricht gelingt. Das entscheidende Kriterium ist der Lehrer selbst. Bildung erhält man nicht durch ein System oder eine Struktur. Sie geschieht, wo sich Menschen begegnen.“

„Getroffen. Das gilt übrigens für alle Lebensbereiche. Wenn die Haltung stimmt, dann entstehen danach – und ich betone danach – die fördernden Systeme wie von selbst. Und diese betet keiner an. Die werden bei Bedarf auch verändert und korrigiert. Stimmt’s, Noah? Darf ich nächstes Mal eine kleinere Tasse haben? Der Kaffee kühlt zu schnell aus!“

Okay, ich hatte verstanden. „Und welches System haben wir jetzt?“

„Ein System, das Systeme an die erste Stelle reiht, noch vor dem Leben.“

„Was du da sagst, ist aber ein Widerspruch.“

„Ja, es ist paradox.“

Er zupfte an seinem buschigen Kojotenschwanz.

„Es ist wie ein Spiel, das behauptet, kein Spiel zu sein. Verstehst du? Der Mensch schafft Systeme, die ihm dienen sollten, und dann klammert er sich an sie wie ein Betrunkener an die Flasche. Er wird von ihnen abhängig.

Systeme sind Wegweiser, sie weisen und führen wohin. Mehr nicht. Verwechselst du aber das Gefäß mit dem Getränk, dann hast du ein Problem, und wenn du glaubst, dass die virtuelle Welt an sich Substanz beinhaltet, sitzt du auch in der Falle.

Du solltest übrigens weniger Pornos schauen. Nur so nebenbei.“

„Was?“

Entgeistert starrte ich ihn an. Woher wusste er, was ich in meiner Freizeit trieb?

Coyote krümmte sich vor Lachen.

„Mein Gott, du bist ein gelangweilter Single und bald dreißig. Schmeiß dich endlich ins Leben, geh aus und lerne echte Frauen kennen. Sei ein wenig lockerer und verrückter, dann interessiert dich diese Zaungast-Haltung nicht mehr wirklich. Triff dich wieder mit deinen Freunden.“

Es stimmte. Wie lange war es eigentlich her, dass ich Zeit mit meinen Freunden verbracht hatte? Wie konnte das nur passieren?

„Verbringe Zeit in der Natur, mit Freunden. Was hockst du stundenlang vor dem Computer und schaust dir Dinge an, die dir eine falsche Welt vorgaukeln. Oder kennst du etwa Frauen, die von solchen Porno-Gockeln wirklich begeistert sind?“

Ich musste lachen. Genau diese Typen fand ich furchtbar peinlich.


„Weißt du was, Noah, die Welt braucht Männer, die es wagen, sie selbst zu sein; die mutig genug sind, liebevoll, stark und lebendig zu sein. Männer, die das Leben achten und schützen. Weder Raubtiere noch Hosenscheißer, sondern solche, die auch riskieren können.

Du bist derzeit eher einer von der letzteren Sorte, ein Hosenscheißer mit viel Potential nach oben.

Mutter Erde blutet, weil die Menschen wie Räuber über sie herfallen und all die Hosenscheißer dabei zusehen, ohne etwas zu tun. Das Salz dieser Erde sollte der Mensch sein. Aber jetzt ist die Suppe versalzen und ihr müsst sie selbst auslöffeln.“

Sah ich Tränen in den Augen von Coyote? Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich wieder fasste.

„Ja, Coyote, Bertrand Russell hat das einmal ähnlich ausgedrückt. Es sei ärgerlich, dass in dieser Welt die Dummen so selbstsicher und die Gescheiten so voller Zweifel sind.“

„Stimmt, aber intelligent und dumm würde ich großzügiger definieren. Die Dummen meinen oft, die Dinge zu kennen, nur weil sie alles benennen können. Als könnte man ein Ding allein von außen erfassen! Und diese Menschen werden sogar als intelligent gefeiert. Aber was wissen sie denn vom Leben? Kennen sie die Lebewesen? Und was ist das Ding an sich? Sie halten nur das tote Wort.“

Sofort fiel mir eines meiner Lieblingsgedichte des österreichischen Dichters Rainer Maria Rilke ein, das ich für Coyote vortrug.

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.

Sie sprechen alles so deutlich aus:

Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,

und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,

sie wissen alles, was wird und war;

kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;

ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.

Die Dinge singen hör ich so gern.

Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.

Ihr bringt mir alle die Dinge um.

„Ach ja“, seufzte Coyote wehmütig. „Viele haben die Poesie des Lebens verloren. Doch auf ihr tanzen die Worte. Wörter ohne Leben sind eine tote Hülle. Und diese wird von einigen noch dazu als das viel gepriesene objektive Wissen verkauft.“

Ich war begeistert von seinen Worten. Coyote kam so richtig in Fahrt.

„Leben, Noah. Leben! Wer hat die Sterne mit einem Wurf ans Firmament geworfen? Wer hat den Menschen das Pferd der Freiheit und das Feuer des Lebens geschenkt?“

„Warst du das etwa, alter Mann?“

Er grinste, seine Augen funkelten.

„Ich hab kein Ich, also war ich es nicht. Es ist das Leben als Coyote. Verstehst du? Hätte Coyote ein Ich, er würde darüber stolpern und dümmlich in die eigenen Fallen der Gier tappen. Erinnert dich das an etwas?“

Er gluckste, als er system overload in meinen Augen las.

Das Telefon klingelte und unser Gespräch wurde kurz unterbrochen. Während ich mein Smartphone zückte und den Anruf abwies, nahm ich mir vor, weitere Infos über Coyote zu googeln.

„Coyote, ich hab dir noch nicht von meinem Traum erzählt.“

„Dann leg mal los.“

Coyote drehte sich eine Zigarette, zündete sie an und hörte mir zu. Dabei paffte er und blies Ringe in die Luft.

„Noah, dieser Traum ist ein Geschenk. Lass dich von niemanden über den Tisch ziehen, egal, ob es ein System ist oder seine Vertreter. Sonst hast du verloren.“

Coyote legte den Kopf in den Nacken und pustete Rauch in die Luft. „Und übrigens: Die Reibungswärme, die du spürst, wenn man dich über den Tisch zieht, solltest du nicht mit Nestwärme verwechseln. Das bildest du dir gerne ein, du bequemer Kerl.“

„Warum rauchst du?“, fiel ich ihm ins Wort.

„Damit ich mit dir aufhören kann.“

„Ich soll aufhören zu rauchen? Ich habe gerade mal das Kiffen gelassen, weil es mich so ermüdete.“

„Tja, die Götterpflanze Hanf …“

Er zwinkerte mir zu. „Als ausgewiesener Drogenexperte würde ich sagen: Du bist müde, weil du wie viele deiner Kollegen nur noch funktionierst.

Und was passiert mit den Kindern, wenn schlappe Lehrer sie erziehen? Man zieht sie dorthin, wo man selbst steht. Auf die funktionierende Schiene.

Was glaubst du, wie die Kinder darauf reagieren? Sie wehren sich oder sie geben auf. Und wenn es ganz schlimm wird und sie’s nicht mehr aushalten, dann experimentieren sie mit Genussmitteln. Nennen wir sie beim Namen: Drogen. Ärzte und Eltern geben vielen Kindern ihr tägliches Wundermittel … Trommelwirbel bitte!“, rief Coyote plötzlich, „für ein Mittelchen, wo man sich nur wundern kann. Hier nun exklusiv zum Sonderpreis!“

Er bat mich darum, das Mittel vorzustellen.

„Hier sind sie, die Psychostimulanzien. Sie werden sich noch wundern!“, stotterte ich, total überrumpelt, wie ich war.

Coyote stellte sich neben mich und mimte einen Moderator, der im Werbefernsehen den Experten an seiner Seite anhimmelte. „Sie sagten, Sie hätten es von Rita aus Talin. Stimmt das?“

„Ja, so könnte man’s formulieren.“

„Wenn jemand nicht mehr funktioniert, Probleme macht, dann genügt eine Pille und alles kommt wieder in Ordnung?“

„Genau, unsere Wunderdroge ist ein Geschenk für Erzieher und die Pharmaindustrie. Ich liebe sie. So bringen wir jeden wieder auf die richtige Spur. Sie wissen schon, die Realität!“

„Diese Substanz zieht also momentan sehr. Darf ich das so zusammenfassen, Herr Experte Noah Artis?“

„Ja, dieses Mittel ist wirklich hipp und es zieht die Kinder in die richtige Richtung. Es versteht sich somit in der Kunst der Erziehung.“

„Soll an den Kindern gezogen werden? Oder sollte jedes Kind sich entfalten können? Erziehen ist also das ultimative Ziehen?“

„Ach, Coyote. Ich geb’s auf.“

„Hey, du warst verdammt gut, Noah.“

Ich streckte meinen müden Rücken.

„Wissen Sie was, Rekrut Noah?“, schrie er plötzlich. „Ich lehne schon das Wort erziehen ab. Wir sollten weniger an den Kindern herumziehen und – zerren, sondern zu ihrer Entfaltung beitragen. Dies wird neue, lebensbejahende Systeme nach sich ziehen. So ist das mit dem Ziehen. Es geht um Haltung, mein Junge. Haltung!“

Er warf die Arme in die Luft und gestikulierte wild.

Ich sprang auf, salutierte und rief: „Yes, Sir!“

Danach öffnete ich die Balkontür und schlenderte hinaus ins Freie. Während ich ein paar Zigaretten rauchte, beobachtete ich Coyote durch das Fenster. Leise Zweifel stiegen wieder in mir hoch. Lebte ich noch in der Realität?

Coyote war unbeeindruckt und schien sich äußerst wohl zu fühlen. Er marschierte schreiend durch meine Wohnung. „Haltung ist das Zauberwort. Haltung!“ Nach einiger Zeit verwandelte sich sein martialischer Schritt in Tanzschritte. Zuletzt landete er auf meiner Couch und schaltete den Fernseher ein. Er warf Erdnüsse in hohen Bögen in seinen Mund und lachte sich über irgendeine Doku kaputt.

Ich musste auch lachen, obwohl ich nicht mehr so recht wusste, ob ich alle Tassen im Schrank hatte. Konnte ich noch zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden?

Aber warum fühlte ich mich so glücklich und doch vertraut mit der neuen Situation?

Als ich anfing zu frösteln, dämpfte ich die letzte Zigarette aus und trapste zurück zu meinem ungewöhnlichen Besuch.


„Coyote, kennst du den Film Matrix?“

„Ja, wieso?“

„Ist der nicht auch eine Metapher für das, was du gerade erklärt hast?“

„Rote oder blaue Pille?“

Coyote drehte den Fernseher leiser.

„Das geht jetzt zu schnell. Keine Ahnung! Rot steht für die Wahrheit, blau für die Illusion, oder?“

„Genau! Und du hast die Wahl. Überleg es dir. Die Kinder bekommen oft die blaue Pille, um in der Matrix bestehen zu können. Sie werden nicht gefragt. Das ist tragisch.“

„Du meinst wieder diese Wunderdroge? Coyote, nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Die blaue Pille im Film versprach wenigstens illusionären Spaß. Diese nicht.“

„Im Film sind Matrix und Realität andersrum. Wie Spiegel so sind. In der Wirklichkeit ist das Erwachen ein Freudenfest.“

„Wie bringt man Schüler eigentlich auf Schiene?“

„Was machen jene Lehrer, die die Kinder ruhig stellen?“

„Letztendlich beschämen sie die Schüler, denke ich.“

„Genau, Beschämung. So trennst du sie von sich selbst.“

„Einige Kollegen werten die Kinder ab, nur um ein ordentliches Programm mit ihnen zu fahren.“

„Ja, Programm …“, murmelte Coyote. „Was haben sie genau gemacht?“

„Die Schüler abgewertet, runtergemacht … Das geschieht oft sehr subtil. Die Schüler fühlen sich schlecht, weil die Lehrer die Verbindung zu ihnen kappen.“

„Genial. Das ist es! Wir kappen die Verbindung. Wir trennen uns von den Kindern und stellen uns über sie. Wenn du das machst, raubst du dem Kind seinen Wert. Besonders die sensibleren Kinder verlieren sehr schnell ihre Würde, ihre Seele, ihr Herz. Sie sind nur mehr ein Schatten ihrer selbst und hoffen einzig und allein, die Schule irgendwie zu überleben.“

„Stimmt! Ich habe oft das Gefühl, dass sie dann in Computerwelten und -spiele flüchten.“

„Ja, denn dort erhalten sie Anerkennung“, unterbrach er mich.

„Glaubst du das wirklich?“

„Sieh es mal so: Sie werden nicht beschämt! Keiner kritisiert sie. Und sie sind Helden in ihrer eigenen Welt. Schade, dass Kinder im Alltag nicht die Wertschätzung erhalten, nach der sie sich sehnen. Da ist die Flucht in die virtuelle Welt vorprogrammiert. Übrigens: Welche Spiele spielen denn deine Schüler derzeit?“

„Ach, Coyote. Keine Ahnung.“

„Ein guter Lehrer interessiert sich für die Welt der Kinder …“

„Gibt es überhaupt Pädagogen, die Kindern auf Augenhöhe begegnen?“

„Ich weiß von einer in Kanada, zwei in Papua-Neuguinea und drei im Iran!“

„Coyote!“

„Natürlich sind es viel mehr, aber immer noch viel zu wenige.“

„Und was ist mit mir? Werte ich die Kinder ab?“

„Mögen dich die Kinder wirklich? Oder rennen sie dir wie einem Rattenfänger hinterher? Kriechen sie dir vor Angst in den Arsch, nur damit du glaubst, sie würden dich lieben? Wenn sie dich wirklich lieben, dann sprich ein lautes und deutliches Ja!“

„Ja!“

„Okay. Dann wertest du sie kaum ab.“

Coyote verlagerte das Gewicht. „Und du? Lässt du dich abwerten?“

„Ja, leider viel zu oft!“

„Das ist die blaue Pille in Dosen, du Scheißer in die Hosen! Und jetzt bereite dich ordentlich vor. Die Schüler haben ein Recht auf interessanten Unterricht. Teste die Online-Games deiner Schüler und hol dir auch eine Spielkonsole. Verwende aber nicht gleich cheats.“

„Wie?“

„Ah, sorry, du bist ja ein alter Mann, der sich in der Welt der Kinder nicht mehr orientieren kann. Verstehe.“

Coyote sprang auf, wedelte mit seinem Kojotenschwanz, tanzte und als er hinausging, rief er mir über die Schulter zu: „Und nur nicht vergessen: Lebe nie unter deiner Würde!“

„Woher hast du diesen tollen Spruch?“

Ich wolle ihn mit dieser Frage aus der Fassung bringen.

„Von Leo dem Großen!“

„Was? Hast du Verbindungen zum Vatikan?“

„Ja, indirekt – über den Heiligen Geist. Tolles Projekt. Schönen Abend noch!“

„Danke. Jesus liebt dich!“, rief ich ihm hinterher.

„Weiß ich!“

Und weg war er.


Ich korrigierte einige Hausaufgaben. Als ich das Heft von Lukas aufschlug, stieg kalter Nikotingeruch in meine Nase. Dass die Eltern in der Wohnung rauchten! Ich öffnete das Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Seit einiger Zeit rauchte ich eine Marke, die ich für mich einfachheitshalber in Indian Spirit umbenannt hatte.

Das passte nun gut zu Coyote.

Jemand muss ja Rauchopfer darbringen, dachte ich mir, nahm das Hausübungsheft von Lukas und blies sanft den Rauch von Indian Spirit darauf.

„Der Große Geist segne deine Rechtschreibung und deine durchgeknallten Eltern!“, salberte ich mit bedeutungsvoller Stimme.


Kopfsprung ins Herz

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