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5 HERMES, DAS ARME SCHWEIN

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Ich wachte glücklich auf, kochte Kaffee, löffelte hastig Müsli, schnappte meine Tasche und eilte zur Schule. Diese betrat ich meistens über den Hintereingang.

Fehlte mir Selbstvertrauen? Wollte ich morgens noch meine Ruhe haben oder war meine Beziehung zu dieser Schule homoerotisch?

Als ich Franziska und Patrizia rauchend vor der Tür entdeckte, lösten sich alle meine Gedanken auf wie der Nebel an den Berghängen.

„Schöne Frauen am Morgen vertreiben Kummer und Sorgen!“, rief ich ihnen zu.

Die beiden grinsten. Nur Patrizia murmelte „danke“ zwischen zwei Zügen, bevor sie wieder zur ihrem Auto eilte, um die Gitarre zu holen. Franziska schwieg.

Trotzdem war ich mir sicher, dass sie schnurrte wie eine Katze und mit einer tiefen Stimme lockte: Könnte ich es doch mit dir hinter dem Fahrradschuppen treiben. Ich würde stöhnen vor Lust, während du in mich eindringst und meine Brüste liebkost.

Das wollte sie. Das wusste ich. Oder hoffte ich zumindest. Nein, das konnte ich leider nicht wirklich glauben.

„Wir sind übrigens gemeinsam auf der Sportwoche.“

Franziska lächelte schon wieder.

„Echt?“

Ich war plötzlich hellwach.

„Ich betreue dann die Reitgruppe.“

„Machst du das auch mit mir?“

„Wieso? Was meinst du?“

Fuck, wie komme ich da jetzt raus?

„Ähm, ich hab einfach das Gefühl, dass du schon viele geritten hast … also Pferde.“

Blut schoss mir in den Kopf. Von Franziska geritten zu werden, konnte ich mir nun wirklich abschreiben.

„Sieht man mir das an?“

Ihre Stimme hatte einen lauernden Unterton.

„Nicht jeder, aber ich hab dafür ein Auge.“

Jetzt nichts wie weg, bevor es völlig in die Hose ging.

„Du bist also ein richtiger Frauenversteher?“

„Nein, Wahrheitsverdreher!“

Sie lachte. „Welche Gruppe betreust du denn?“

„Weiß noch nicht.“

„Vielleicht Schach?“

„Wieso Schach?“

„Na, Denksport. Du denkst schneller, als du dich bewegst.“

„Wie bitte? Ich bin voll gut in Form!“, konterte ich.

„Und übrigens redest du schneller, als du denkst. Leider weißt du nicht, dass Frauen, die sich zu viel mit Pferden und Hunden abgeben, kaum einen Mann abkriegen“, fügte ich in Gedanken hinzu. Aber ich traute mich nicht, es laut zu sagen. Man konnte nie wissen … Ich wollte mir die Tür zum Wahnsinnsultrasexerlebnis offenhalten.

„Also ich mag es, wenn mir ein Mann über den Weg läuft, dem etwas einfällt. Und dann ist er auch noch Sportlehrer.“

Das war doch gar nicht so schlecht. Mein beschämtes Kind richtete sich wieder auf.

„Ja, so bin ich!“

„Interessant“, tönte Franziska, warf ihre rote Mähne über die Schulter und war weg. Ich blickte ihr mit einem leichten Kribbeln im Bauch hinterher.

„Bist du auch auf Schikurs mit den zweiten Klassen?“

Patrizia riss mich aus meinen Tagträumen. Sie hatte die Gitarre auf den Rücken geschnallt.

„Ja. Genau.“

Ich drückte meine Zigarette aus. Dann schlenderten wir gemeinsam in die Heiligen Hallen der Pädagogik.


Ich ging zu meinem Schreibtisch, den ich mit Elisabeth teilte. Das war leicht untertrieben, denn sie beanspruchte zwei Drittel des Tisches. Ihre Hefte und Bücher waren wieder auf meiner Seite verteilt und eine benutzte Kaffeetasse stand auf meinem Platz. Ich schob ihre Sachen zurück und kauerte mich vor eine freie Fläche von schätzungsweise einem halben Quadratmeter. Das musste ich dokumentieren! Also schnappte ich mein Lineal, maß Länge und Breite der Arbeitsfläche nach. Länge: 63 cm, Breite: 52 cm.

„Johannes, borgst du mir deinen Taschenrechner?“

Ich wollte, obwohl es mir schwerfiel, Kontakt mit Johannes aufnehmen. Er zog oft über die Kollegen her, vor allem, wenn sie nicht in der Nähe waren. Vielleicht würde er meine Rechnung witzig finden. Dann könnten wir gemeinsam ein Klagelied über die Misere in der Schule jaulen, statt über andere zu lästern. So entwickelten Lehrer an unserer Schule ein Gefühl von Solidarität.

Ein gemeinsamer Feind musste her: Kinder, Eltern, Kollegen, Chefin, Inspektoren, Schulbehörde, Unterrichtsminister, Regierung, Europäische Union, die Kirche, der Islam, die Amerikaner, Putin, Gott und der Ehepartner. Sie gaben dem Leben Orientierung und Struktur.

Johannes reagierte nicht. Also fragte ich ihn etwas lauter, aber er reagierte immer noch nicht, sondern musterte mich kurz von der Seite, während er sich angeregt mit Dietmar unterhielt. Ein Schüler wurde im Fachgespräch durch den Fleischwolf gedreht. Dieses lief unter dem Motto Meine Wahrheit, meine Schule, mein Gegenstand – deine Schuld und deine Fehler ab. Gefühle aus meiner Schulzeit winkten mir zu.

„Darf ich mir kurz deinen Taschenrechner borgen?“

„Ich rede gerade! Was willst du?“, knurrte Johannes genervt.

„Ach, egal.“

„Warum egal? Willst du nun etwas oder willst du nichts?“

Jetzt unterbrach er tatsächlich sein Gespräch. „Deine Klasse ist eine Katastrophe!“

„Echt?“

„Ja“, fügte Dietmar hinzu. „Johannes hat recht. Die Jungs toben wie wild den Gang entlang.“

„Hausschuhe ziehen sie auch nie an“, warf Astrid ein.

„Schweine sind sie“, ereiferte sich Johannes, „laufen nur mit den Socken auf die Toiletten.“

„Stell dir mal die bekannten und noch unbekannten Krankheitserreger auf und in den Socken vor.“

Dietmar, dessen Witz vom Frust des Lebens getrübt war, gab sich zynisch. Ich fand’s manchmal lustig, die Kinder selten.

„Ist das nicht normal für Kinder?“

Ich schaute in die Runde. Stille. Ich fand eine Frau für’s Leben, heiratete, wurde Vater, Großvater … Immer noch Stille.

„Okay, ich rede mit ihnen.“

„Stell aber gleich klar, dass sie keine Sonderstellung haben. Die sollen erst mal Benehmen lernen. Sonst tanzen sie dir bald auf der Nase herum.“

Johannes wandte sich wieder an Dietmar. „Und dann der Kevin. Bei diesen Eltern hat der keine großen Chancen. Der Vater hat nichts auf dem Kasten und die Mutter ist eine lästige Superglucke.“

Ja und in der Pathologie ist es wahrscheinlich lustiger als bei uns an der Schule. Ich mochte Kevin sehr und es tat mir weh, wenn Kollegen so über ihn sprachen.

Wahrscheinlich war ich einfach der Schwache, der Träumer und die anderen die harten Realisten. Weicheier und bad cops – die zwei Teams in der internationalen Lehrerliga.

„Johannes?“

Katja trat ins Lehrerzimmer und blickte sich suchend um. „Die Eltern von Kevin wollen dich sprechen.“

„Was? Ich habe ihn nur in Mathematik und über die Note haben wir schon geredet.“

„Sie wirken nicht gerade freundlich“, erklärte Katja. „Sie sagen, du würdest den Jungen im Unterricht mobben.“

„So eine Frechheit! Was wir uns mittlerweile alles anhören müssen.“

Johannes entglitten für einen kurzen Moment die Gesichtszüge. Dann fasste er sich und verließ den Raum. Die Lehrer im Konferenzzimmer schwiegen. Nur Martin, erst seit Kurzem an unserer Schule, schaute mich in einem Moment, in dem er sich sicher fühlte, an und grinste wissend.

Ich mochte ihn. Er war wie ein Paradiesvogel unter den ausgestopften und verstaubten Beamtenvögeln. Die Kinder liebten ihn. Einzig und allein: Er konnte Grenzen nicht wirklich stecken. Sicher hätte er ohne viel Mühe einem Bauern ohne Kühe eine Melkmaschine verkaufen können. Hausgänse hätte er motiviert, über die Alpen und das Mittelmeer nach Afrika zu ziehen. Altersschwachen Gäulen könnte er einreden, über die Gatter in die Freiheit zu springen, anstatt ihr Gnadenbrot zu fristen.

Aber Martin, der immer voller Ideen war, hatte nie wirklich einen Plan, wie man die Viecher dann wieder bremsen und zurückholen konnte.


„Ja, das ist Mobbing! Und einer, der daran auch Schuld ist, ist Noah. Ich hab’s mir, ehrlich gesagt, gleich gedacht!“, posaunte Johannes, als er wieder ins Lehrerzimmer zurückgekehrt war.

„Nein, Johannes, ich würde dich niemals mobben. Ich habe gar keine Zeit dazu.“

Ich versuchte, die Situation mit einem Scherz zu entschärfen.

„Du hast dem Fratz doch die Bühne gegeben und mit deinen Groupies über mich in einer Unterrichtsstunde gesprochen. Du plusterst dich etwas zu viel auf, junger Kollege! Da kann man sich auf die Zukunft freuen. Charakterlich unterste Schublade.“

Ich war paralysiert. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit. Einige Kollegen wandten sich ab. Nervös tippte ich 63x52 in Martins Taschenrechner, den er mir zuvor zugesteckt hatte. 0,32 Quadratmeter Arbeitsfläche.

Kaum Platz zum Atmen und noch weniger zum Arbeiten. Schweine hatten mehr Raum in ihren Stallungen als wir Lehrer im Konferenzzimmer.

„Ich bin ärmer als ein Schwein“, flüsterte ich Martin zu, nachdem ich die Zahl berechnet hatte.

„Ja, hier wimmelt es von Schweinen.“

„Beleidige nicht diese völlig unterschätzten, sozialen und intelligenten Tiere“, erwiderte ich und stand auf.


Ich unterrichtete noch eine Stunde. Danach schnappte ich meine Schultasche und schlurfte nach Hause. Langsam stapfte ich die Treppe zu meiner Wohnung hoch, öffnete die Tür und fiel erschöpft auf das Sofa.

„Brauchst du einen Kaffee?“

Coyotes Stimme wärmte mich wie eine kuschelige Decke. Freude perlte durch meinen Körper.

„Natürlich. Wo hast du dich denn rumgetrieben?“

„Einen Teil der relativen Zeit im Irish Pub nebenan.“

„Im Shannon Inn, meinem Lieblingslokal?“

„Ich hab da ein Zusatzengagement.“

Er grinste und ich spürte, dass er nicht mehr erzählen wollte. Das Shannon Inn war mein externes Wohnzimmer.

„Kannst du mir helfen, Coyote?“

„Deshalb bin ich hier. Wo liegt der Hase im Pfeffer? Das Leben geht eben rauf und runter, rauf und wieder runter. Manchmal werden wir aufgerichtet und dann wieder unterrichtet, rauf und runter. Richtest du auf oder nach unten?“

Er zwinkerte mir zu.

„Ich hab ein Problem, ein echtes!“

„Wirklich? Ist es lebensbedrohlich?“

„Quatsch!“

„Dann kann es nicht so groß sein, dein Problem.“

„So hab ich es noch nicht gesehen. Hilfst du mir trotzdem weiter?“

„Ich kann nicht nur, sondern ich will dir helfen. Ich konnte das Feuer für die Menschen dem Feuergott entreißen, ihnen das Pferd bringen und die Sterne an den Himmel werfen und …“

„Ja, schon klar, alter Mann“, unterbrach ich ihn. „Aber ich brauche konkrete Hilfe.“

„Dann schieß mal los.“

„Manchmal kommt es mir vor, als wärst du hier im falschen Film. Wie willst du mir und den Kindern helfen? Ist das nicht ein Himmelfahrtskommando?“

„Himmelfahrten sind meine Spezialität. Die drei Weisen aus dem Morgenland waren auch Exoten, Ausländer. Ihre Reise war ein viel größeres Himmelfahrtskommando. Und am Ende des Weges fanden sie den Himmel in der Krippe.“

„Coyote, ich glaub, ich krieg die Grippe. Ich bin einfach zu tief gefallen.“

„Immer mit der Ruhe, dann hast du wenigstens Bodenhaftung.“

Coyote schenkte mir Kaffee ein, öffnete das Fenster und bot mir eine Zigarette an. „Solange du noch rauchst, paffen wir gemeinsam, nicht wahr?“

Ich überlegte, warum er gerade so viele christliche Bilder verwendete. War die Jahreszeit daran schuld? Oder glaubte er, dass ich ihn so besser verstehen würde? Ich nahm einen Zug und erzählte ihm von meinem Tag.

„Armes Schwein“, meinte er nur.

„Danke. Sein oder Schwein, das ist hier meine Frage!“, posaunte ich zurück.

„Ach, damit warst nicht du gemeint.“

Coyote schob seine Lederjacke zur Seite, warf meinen Laptop an und suchte über eine alternative Suchmaschine Informationen zu Schweinen. „Du weißt schon. Kontrolle und so. Nicht mein Ding! … Ah, dieser Text … Zwar nicht aktuell von deiner Gegend, aber durchaus passend.

Alle Tiere müssen gleichzeitig ungehindert liegen, aufstehen, sich hinlegen und eine natürliche Körperhaltung einnehmen können. Sie benötigen einen trockenen Liegeplatz und dürfen nicht mehr als unvermeidbar mit Kot und Harn in Berührung kommen. Jedes Schwein muss zumindest Sichtkontakt zu Artgenossen haben. Da Schweine sehr gesellige Tiere sind, sind sie soweit wie möglich in der Gruppe zu halten. Zur Vermeidung von Rangordnungskämpfen sollte auf Umgruppierungen verzichtet werden. Ist ein Schwein jedoch nachhaltig unverträglich, muss der Betreuer dafür Sorge tragen, dass es einzeln untergebracht wird. Die Einzelhaltung ist dann so zu gestalten, dass sich das Schwein ungehindert umdrehen kann, (LAVES)

Noah, ich vermute, du bekommst jetzt eine Einzelhaltung. An der Schule bist du das nachhaltig unverträgliche Schwein. Aber das Gute ist, dass du dich dabei wenigstens umdrehen darfst.“

„Ich dachte, Johannes wäre das Schwein?“

„Schwein oder nicht Schwein. Das ist hier die Frage, Prinz von Ham and Speck!“

„Okay, Herr Coyote, du bist wieder einmal sehr aufbauend.“

Wir rauchten, quatschten, tranken heißen Kaffee und lachten. Meine Stimmung hellte auf.

„Ich werde dich verlassen“, erklärte Coyote aus heiterem Himmel.

„Was?“

Ich spie vor Überraschung und Entrüstung beinahe den Kaffee aus. „Wie stellst du dir das vor? Erst schneist du in mein Leben, stellst alles auf den Kopf und dann haust du ab? Wem soll ich denn erzählen, dass es dich gibt? Oder dass du wieder weg bist?“

„Noch nicht sofort, aber ich kann jederzeit abberufen werden von diesem Sondereinsatz. Bis jetzt hab ich dein Leben noch gar nicht richtig durcheinandergebracht. Am Ende wirst du herrlich verrückt sein und wahrscheinlich auch die Prüfung bestehen.“

„Welche Prüfung?“

„Komm mal her, Noah, leg dein Ohr an meine Brust und lausche.“

Ich spürte Coyotes schwielige Hand auf meinem Kopf. Meine Frage zur Prüfung ignorierte er.

„Was hörst du?“

„Ich höre dein Herz. Das schlägt da drinnen. Du hast ein Herz. Witzig.“

„Genauso wie du. Du hast auch ein Herz. Horchst du auf deins? Du wärst um einiges humorvoller, wenn du es machen würdest.“

„Und wie soll das gehen? Sein eigenes Herz hören?“

Coyote zog die Augenbrauen nach oben und tat genervt.

„Indem du, wenn du Probleme hast, singst und tanzt, statt nur über sie zu grübeln. Finde dein Lied, finde deinen Tanz. Zermartere dir nicht deinen hübschen Kopf. Singe und tanze deine Fragen.“

„Das ist mir bisher noch nie eingefallen.“

„Dann wirst du es umso schneller lernen.“

„Du gehst anders an die Sachen ran.“

„Ja, etwas anders zu machen ist eine tolle Medizin.“

„Dann probiere ich das vielleicht später.“

„Nicht später, jetzt. Lebe es, Noah! Lebe es! Darf ich dir etwas raten?“

„Ja, sicher!“

„Ab jetzt gibt es keine Pornos mehr, keine Beiträge von dir in Internetforen und du surfst nicht mehr endlos nach nirgendwo. Befrei dich von den Fängen des Informationszeitalters. Das hat nichts mit Gemeinschaft zu tun. Zieh für bestimmte Zeit am besten den Stecker raus.“

„Aber die sozialen Plattformen, die …“

„…mutieren oftmals zu unsozialen Zeitvernichtungsmaschinen. Außerdem kein Alkohol, Zucker und Fleisch. Schaffst du das? Nur für eine Zeit, später können wir wieder etwas lockerer werden. Und mach Sport, geh joggen und spiel endlich wieder auf deiner Gitarre. Aber erst stimmen.“

„Ja, das mache ich immer, eh klar.“

„Nein, nicht die Gitarre. Die kommt an zweiter Stelle. Vorher dich selbst.“

„Wie das denn?“

„Noah, du sollst dich stimmen lassen, du Esel. Stimm’ dich ein auf das Leben, damit alles stimmig wird. Dann hebt sich deine Stimmung ganz von selbst. Stimmt doch, oder?“

„Danke für deine göttliche Stimme, verrückter Mann.“

„Später wirst du auch das Rauchen lassen, aber noch darfst du dieses Laster ein wenig behalten. Meditiere und tanze morgens und abends. Du hast Zeit. Wenn du was lesen möchtest, dann vielleicht dies hier.“

Er zog ein Buch aus seiner Tasche. „Lies mit deinem Herzen und nicht mit dem Kopf. Sonst werden die heiligsten Werke zur Schundliteratur. Ernähre dich von den Büchern wie von Brot, statt bloß mit dem Hirn drüber zu scannen. Iss die Bücher!“

„Was?“

„Geistige Nahrung natürlich!“

„Na, dann hoffe ich, dass ich keinen Durchfall oder geistige Verstopfung bekomme.“

Coyote holte einen Stapel Bücher aus seiner Tasche. Ich nahm sie, spürte die glatten Einbände unter meinen Fingerspitzen. Es war wie eine Reise um den Erdball. William Blake, Rumi, Hafiz, Ramakrishna, Vivekananda, Huang-Po, eine zerschlissene Ausgabe der Bhagavad-Gita, um nur einige zu nennen, und dann noch eines über ein Naturvolk.

Als ich das letzte Buch auf den Stapel gelegt hatte, drückte Coyote mir ein Survivalhandbuch in die Hand.

„Die beste Lebensversicherung für die Zukunft. Könnte sein, dass du es mal brauchst.“ Dann tanzte er rüber zu meinem Buchregal und griff nach einem leicht vergilbten Taschenbuch. Papschs Buch.

„Das hat meinem Vater gehört.“

„Umso besser“, meinte er. „Zeit, dass du es liest! Am besten, du fängst damit an.“


Coyote schlug das Buch auf und befahl mir, auf den Tisch zu steigen und laut zu lesen.

Gott, war er jetzt völlig von Sinnen? Ich kam mir vor wie ein Prediger. Erst wehrte ich mich, aber als Coyote mir drohte, den Unterricht abzubrechen, gab ich nach.

„Okay, ich mach es.“

„Aber nackt!“

„Vergiss es!“

„Nein, nicht jetzt – später, Noah, später. Wieder nur so eine Empfehlung.“

„Warum?“

„Um völlig nackt zu dir selbst zu stehen. Zu deiner Ursprünglichkeit. Um dich zu zeigen, so wie du geschaffen wurdest. Wirf nicht nur die Kleider ab, sondern auch deine Scham.“

Coyote blies Ringe in die Luft und ich las, weil mir nichts anders übrig blieb, laut und deutlich, während ich auf dem Tisch stand.

„Die alte Tradition behauptet, dass ECHTES LERNEN nur in der Gegenwart von Hermes möglich ist. Das ist deprimierend, denn normalerweise versuchen die Universitätsfakultäten, Dozenten mit Hermes-Energie loszuwerden. Das ganze akademische System wurde von teutonischen Hermes-Killern geschaffen. Hermes ist magisch, detailverliebt, obszön, tänzerisch, naiv und keinesfalls karrierebewusst … Seine Präsenz ist gleichbedeutend mit himmlischer Intelligenz.“

„Wunderbar. Wie verstehst du das? Siehst du das genauso?“

„Irre Stelle im Buch, schlechte Stellung am Tisch!“

„Was noch?“

„Hm, weil ich gerade noch so dastehe, in dieser Stellung. Darf ich wenigstens in nächster Zeit Sex haben?“

„Oh ja, mit Herz.“

„In Wahrheit kann das noch gefühlte Jahrhunderte dauern. Sterne erlöschen, Galaxien werden erschaffen, die Kontinentalplatten verschieben sich, meine Kollegin Gertrude macht spannenden Unterricht und das Schulsystem wird von Grund auf erneuert … Kann ich mir zumindest die Serie Green Porno auf Sundance-TV ansehen?“

Coyote lachte über meine nicht ganz ernst gemeinte Frage, nutzte jedoch die Chance, um über den Sonnentanz zu fabulieren und die Kraft der Sonne zu preisen.

„Bis ich eine Frau in meinen Armen halte, bin ich sicher genauso runzelig wie du …“

„So hat das heute Morgen aber nicht ausgesehen.“

„Behältst du mich die ganze Zeit im Auge?“

„Nein, eigentlich bin ich immer bei dir. In deinem Herzen, Noah. Ich liebe dich, so wie ich mich selbst und das Leben liebe.“

„Danke, liebender Coyote!“

„Nichts zu danken. Aber nun wieder zurück zu Hermes. Was denkst du?“

„Echtes Lernen soll lebendig sein, so wie der wahre Lehrer lebendig ist. Aber Universitäten und Schulen töten jede Spontanität. Lebendiges Lernen, das hassen sie. Sie lieben es fein säuberlich, gut organisiert. Denen geht es nur um eins: fixe Strukturen, klare Regeln, Schienen und Fertigprodukte. Mehr nicht.“

„Bravo! Und jetzt wollen sie auch dich loswerden, die Hermesmörder.“

Coyote klatschte.

„Kannst du auch mal ernst sein, Coyote?“

„Gerne. Weißt du, wie ich dich sehe? Du bist lebendig, du bist ein Freigeist, aber du brauchst dringend noch Eier. Du bist die Welt für die Kinder, mit denen du zusammen bist. Leider arbeitest du in einem System, das sich am Defizit und an der Gleichschaltung orientiert. Im Normkatalog könntest du die Kinder abhaken. Wenn du es dir einfacher machen willst, dann machst du Dienst nach Vorschrift.“

„Yes, Sir!“

„Orientiert euch doch nur an euren Marschbüchern und Normkatalogen, ihr einfältigen Tölpel, ihr sinnloses Geschmeiß, ihr geistloses Gesinde, ihr marschierenden Einfaltspinsel!“, brüllte er auf einmal.

„Genau! Du sprichst mir aus der Seele!“

Ich kletterte vom Tisch.

„Es ist ein Geschenk, wenn man sensibel ist und das Leben spürt. Du brauchst Mut, um das zu leben, was du spürst. Vertraue auch auf deine männliche Autorität, Noah.“

„Und wie soll ich diese Männlichkeit finden?“

„Geh vor den Spiegel und zieh die Hose runter, wenn du unsicher bist. Und lies das Buch. Es ist echt gut. Und wenn du das nicht machst, dann lies wenigstens das Märchen vom Eisenhans. Das ist dir auf den Leib geschnitten.“

„Wozu soll das alles gut sein?“

„Setz es um in dein Leben, übersetz es. Du sollst es leben, Mann!“, brüllte er so durchdringend, dass es kurz darauf an der Tür klopfte.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“

Mein älterer Nachbar aus der Wohnung nebenan lehnte im Türrahmen, die Augen weit aufgerissen.

„Entschuldigung, ich hab nur meinen Fernseher zu laut aufgedreht.“

Schulterzuckend verabschiedete er sich und verschwand in seine Wohnung.

„Pst, Coyote. Geht es auch ein bisschen leiser? Die Leute finden mich sowieso schon verrückt. Ehrlich gesagt hab ich genug Probleme am Hals, da brauchst du mir keine neuen basteln.“

„Ja, verrückt sein. Das ist das Schlüsselwort. Herzenszentrierte Verrücktheit. Ein neuer Begriff wurde gerade geboren, nur für dich, mein Sohn!“

Herzenszentrierte Verrücktheit! Ich werde Seminare abhalten und reich werden!“, posaunte ich und stockte dann abrupt. „Warum hat dich mein Nachbar eigentlich nicht gesehen?“

„Er ist nicht verrückt genug. Wir sehen nur, was wir auch erwarten. Das wussten schon die Scouts der Indianer. Die kannten die Menschen oft besser als die Psychologen heute.“

„Du bist durchgeknallt!“

„Genau. Und dazu stehe ich gerne. Im Gegensatz zu dir. Der starre und begrenzte Verstand interessiert mich genauso viel wie eine Mücke, die in Namibia pupst. Bring noch mehr durcheinander. Die alten Systeme funktionieren sowieso nicht mehr.“

„Das Gefühl haben viele.“

„Noah, es ist immer das Gleiche. Erst kommt das Leben. Dann die Strukturen. Leben primär, Strukturen sekundär. Du kapieren?“

„Jawohl. Ich kapieren, Chef.“

„Momentan strömt neues Leben auf den Planeten ein. Strukturen schmelzen dahin. Alles dehnt sich. Ein kosmischer Frühling bricht an. Die ersten Pionierpflänzchen sind schon gesetzt. Ein heikler, aber spannender Moment.“

Er genehmigte sich eine Zigarettenpause.

Was meinte er wohl? Ich wechselte das Thema.

„Coyote, hast du auch das Gefühl, dass es zwei Typen von Lehrern gibt? Die bad cops und die good cops, die Harten und die Weichen?“

„Sicher, Noah, es gibt generell zwei Arten von Menschen. Die einen unterteilen die Menschen in zwei Gruppen. Die anderen machen das nicht. Ich gehöre zur letzteren Art.“

Coyote nestelte an seinem buschigen Schweif und grinste.

„Aber was macht einen guten Pädagogen aus, mein Hase? Er sollte sowohl gütig als auch streng sein. Nicht wahr?

Strenge, die dem Leben dient, ist gut. Du darfst das alles nicht so eng sehen. Das liebende Herz ist kein Weichei. Manchmal ist es das Herz eines Löwen und wie ein Löwe markiert es Grenzen. Mit den Grenzen erschließen sich neue Räume.

Zornige Pädagogen und die, die ihre Größe nicht anerkennen, provozieren geradezu Aggressionen. Vor allem unter Jugendlichen. Um in der Tierwelt zu bleiben. Gefräßige Haie und ängstliche Hasen sind nicht als Lehrer und Mentoren geeignet.“

Das musste ich erst mal verdauen. Also filterte ich einen neuen Kaffee, nahm die Kanne mit in das Wohnzimmer und lehnte mich mit der Tasse in der Hand ans Fenster. Ich nahm einen Schluck und stellte mein Häferl auf die Fensterbank.

„Hier, fang!“ Coyote warf mir eine DVD zu. „Der ist für dich.“

Club der toten Dichter? Das war einer der Lieblingsfilme meines Vaters.“

„Ja, Robin Williams hatte es drauf. Der Film ist ein Diamant für Pädagogen.“

„Was hatte er drauf?“

„Er spielt im Film einen Lehrer, der …“ Coyote schauspielerte mir alles Mögliche vor und ich musste raten, worum es ging. Der Mann war offensichtlich liebevoll, inspirierend, herzlich, originell, leidenschaftlich und vieles mehr gewesen.

Dann nahm Coyote mich an die Hand und ich rief: „Verbunden!“

„Bingo! Williams spielt einen Lehrer, der neue Wege in einem alten System geht. Er hilft seinen Schülern, sich als Individuen zu entfalten. Verbundenheit und Individualität – was für eine Kombination!“

Er klatschte, nahm meine Hand und tanzte mit mir. Danach plumpsten wir verschwitzt aufs Sofa.

„Coyote, du hast es geschafft, dass ich wieder öfter an meinen Vater denke.“

Ich wischte mir mit den Handrücken die Tränen aus den Augen.

„Weißt du, damals kam ich kaum über meine Trauer hinweg. Ein Psychotherapeut ist mit mir durch die fünf Phasen der Trauer gegangen. Ich dachte, ich hätte es geschafft, aber jetzt kommt alles wieder hoch … Aber obwohl es weh tut, ist es auch gut.“

„Pah – vier Phasen, fünf Phasen. Sind die Phasen vorwärts, rückwärts, glatt, verkehrt? Mein Gott! Was soll dieses Geschwafel über Phasen? War der Therapeut am Leben?“

„Wie? Ja, sicher!“

„Nein, ich meine: Nahm er am Leben teil? War er lebendig?“

„Hm, ich hatte öfter das Gefühl, dass er sehr im Kopf verankert war. Eher der kopflastige Typ, verstehst du?“

„Siehst du.“

Coyote umfasste meine Hand und drückte sie.

„Dein Herz darf ruhig brechen und von Tränen der Liebe ausgeschwemmt werden. Dann kann neues Leben entstehen. Spring vom Kopf ins Herz und du bist sofort an das Leben angeschlossen. Diese Tränen, weil du deinen Vater verloren hast, sind wie eine Taufe. Die Verbindung zu deinem Vater wird noch stärker werden, ohne dass du dich an ihn klammerst. Das ist ein Geschenk!“

Ich schluchzte noch eine Weile, dann wusch ich im Badezimmer mein Gesicht. Als ich zurück ins Wohnzimmer kam, rauchte Coyote am offenen Fenster. Ich stellte mich zu ihm und beobachtete, wie der Abend den Tag ablöste.

„Funktioniert das auch mit Frauen?“

„Mann, du bist aber mit Lichtgeschwindigkeit zurück im realen Leben. Ja, natürlich, aber zuerst kommt das Herz und dann erst der Sex.“

Ich griff nach dem Lichtschalter und posaunte: „Ich liebe mein Herz!“

„Jugendtorheit hat Gelingen.“

„Zitierst du schon wieder Leo den Großen?“

„Nein, das ist eine chinesische Weisheit. Aber lange kannst du dich nicht mehr darauf berufen. So taufrisch bist du nun auch nicht mehr, mein Lieber. Wird Zeit, dass du erwachsen wirst.“

Dann trank er seinen Kaffee aus und fuhr mit der Zunge um seinen Mund. Ich kniff die Augen zusammen, um sie besser zu sehen. Sah sie nicht anders aus?

„Deine Zunge, was ist mit der los? Du solltest zu einem Arzt oder Zungendiagnostiker. Am besten beides.“

„Ach nein, meine Zunge gehört mir. Ich will den armen Diagnostiker nicht verwirren.“

Coyote streckte die Zunge raus, rollte diese der Länge nach wieder ein und wedelte mit seinem buschigen Schwanz. Eine ungeheure Energie ergriff den Raum, es wurde heiß und mir schwindelte. Mein Kopf explodierte.

„Halt, Hilfe!“

Ich schrie.

„Weichei! Aber ich werde dich schon noch gar kochen!“

Dann war Coyote weg. Genauso schnell, wie er gekommen war. Zurück blieb nur ein Hauch von Rauch und Kaffee. Und etwas anderes.

Ich blähte die Nase auf. Es duftete nach Rosen. Herrlicher Geruch.

Ich war hellwach, zog mich aus und warf die Kleider auf den Boden. Nackt wie ich war, kletterte ich auf den Tisch und zitierte todernst die Zeilen über Hermes. Ich war lebendig wie lange nicht mehr, platzte vor Energie und Tatendrang.


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