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6 DER TON DES SAXOPHONS

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Mit dem Rosenduft in der Nase kam ich auf die Idee, Franziska, in deren Nähe ich mich immer lebendig fühlte, anzurufen. Vielleicht war sie noch an der Schule.

„Hallo, Franziska, bist du zufällig noch im Schulgebäude?“

„Noah! Ich habe gerade in der Nähe deiner Wohnung geparkt. Vor der Schule war alles voll. Ich muss nur noch was kopieren. Wo brennt’s?“

„Kommst du nachher rüber zu mir? Wir könnten ins Pub gehen oder gemeinsam kochen und dann einen Film schauen.“

„Warum nicht? Aber nur, wenn du mich abholst. Ich hab Angst, die Schule im Dunklen alleine zu verlassen. Mir ist letztens ein eigenartiger Mann begegnet. Der hat mich irgendwie verunsichert.“

„Natürlich hol ich dich ab.“

„Danke, dir vertrau ich, nach dem, was ich gerade zuvor gesehen habe.“

„Wie meinst du das?“

„So wie Gott dich schuf bist du ganz nah am Fenster gestanden. Das warst doch du? Wohnst du nicht im obersten Stock im Haus direkt hinter der Kuppe?“

„Ja, da wohne ich“, stotterte ich verlegen. War das peinlich, auch wenn ich mich sicher nicht zu verstecken brauchte! Aber mein Licht nicht unter den Scheffel, sondern auf den Tisch zu stellen und dabei gesehen zu werden?

„Keine Angst, ich hab fast nichts sehen können. Du hast halt meine Fantasie beflügelt. Du, ich kopiere nur schnell die Arbeitsblätter für den Unterricht. Bis du kommst, bin ich fertig.“

„Abgemacht. Ich bin schon unterwegs.“


Ich sprang in meine Kleidung, die Treppe hinunter und joggte am Wald entlang. Bei vollem Lauf brauchte ich exakt vier Minuten. Der Geruch des herannahenden Winters lag in der Luft. Über meinen Weg huschte ein Fuchs, rostrot und viel eleganter als sein ausgestopfter Artgenosse im Biologiezimmer.

Da war wieder diese Gegenwart. Ich hatte das Gefühl, eine Präsenz spüren zu können. Mein Puls hämmerte und alles fühlte sich nach Leben an. Zu spüren, dass ich lebte, kam mir wie eine Erinnerung aus einem vergangenen Leben vor. Was oder wer hatte diesen Frühling mitten in der kalten Jahreszeit herbeigezaubert? War es wirklich Coyote?

Franziska wartete hinter der Glastür. Als ich sie sah, war es, als würde ein schmachtender Saxophonton Bereiche in mir wachspielen, die ich schon einige Zeit vergessen hatte.

„Na hallo, Frau Professorin!“

Es folgte ein Küsschen links und rechts auf die Wangen. Franziskas rotblondes Haar roch nach Pfirsich. Als wir zurückgingen, den Himmel über uns ausgespannt, hakte sie sich bei mir unter.

„Noah, ist das Leben nicht ein wunderbares Geschenk?“

„Ja, heute sehe ich das genauso.“

„Du meinst aber nicht den Vormittag an der Schule!“

„Oh nein, erinnere mich nicht daran. Da gab es nur Probleme.“

„Schade. Aber trotzdem, das Leben bleibt immer ein Geschenk, das gelebt werden will und kein Problem, das gelöst werden muss.“

„Meine Mutter hat ein Kaffeehäferl mit diesem Spruch.“

„Das wäre doch das ideale Geburtstagspräsent für Johannes“

„Ja, das war was. Aber ich befürchte, er würde es nicht verstehen. Wie findest du ihn?“

„Jeder hat seine Schwierigkeiten mit ihm, vor allem die jungen Lehrer.“

„Warum ist mir das noch nicht aufgefallen. Ich dachte, ich wäre der Einzige, der …“

„Quatschkopf. Keiner will es sich mit ihm verscherzen. Er hat sich über Jahre seine Machtstellung ersessen.“

In diesem Moment sprintete Franziska los.

„Wer zuletzt oben ist, muss Abendessen machen.“

Sie war erstaunlich schnell.

„Na, was ist los mit dem Herrn Sportlehrer? Keine Luft in den Lungen?“

Sie rannte weiter und warf mir einen verschmitzten Blick über die Schulter zu.

„Ich hab wohl die Geografie dieser Gegend studiert und dabei das Laufen vergessen.“

Vor lauter Anstrengung japste ich und hatte Seitenstechen, aber um mir keine Blöße zu geben, nahm ich alle Kraft zusammen, zog ihr nach und holte sie im letzten Augenblick ein. Gemeinsam liefen wir in unser imaginäres Ziel, der Hügelkuppe, ein. Da standen wir, schnauften und prusteten, und das mit einem Lachen im Gesicht.

Einen Lidschlag später legte Franziska den Finger auf die Lippen und flüsterte: „Schau, ein Fuchs!“

Als würden wir nicht existieren, trottete er gemächlich über die Straße und blickte zu uns. Sofort hatte ich wieder dieses kribbelige Gefühl.

„Schön!“, wisperte ich nur.

„Ja“, meinte Franziska und zeigte auf den Nachthimmel. Orion hatte sich sichtbar auf das Himmelszelt gesetzt.


Franziska knetete den Teig für die Pizza und ich schnipselte Tomaten, Ananas und Schinken. Wir arbeiteten, als hätten wir das schon immer gemeinsam gemacht. Während der Käse im Ofen schmolz und verführerisch duftete, öffnete ich meinen besten Rotwein. Wir prosteten einander zu.

„Shit, ich sollte weder Alkohol trinken noch Fleisch essen.“

„Wieso das denn?“

Franziska hob fragend die Augenbraue.

„Ein Arzt, naja, mehr ein Alternativarzt, fast schon ein Schamane, hat mir diese Diät empfohlen.“

„Aber heute genehmigst du dir eine Ausnahme. Auf der Pizza ist sowieso kaum Fleisch.“

„Hast du Lust, mit mir den Club der toten Dichter ansehen?“

„Gerne, den wollte ich schon immer sehen. Der alte Streifen soll verdammt gut sein.“

„Genauso wie mein Wein.“

„Es gibt aber auch die Kombination von jung und gut.“

„Danke.“

„Oh, ich hab an den Film Fack ju Göhte gedacht!“

„Stimmt trotzdem. Die Hauptperson unterrichtet auch Deutsch und Sport. Da ist man zwangsweise cool drauf und hat den Swag.“ Ich zwinkerte ihr frech zu.

„Von wem hast du Club der toten Dichter?“

„Von einem Freund. Der schwärmt für diesen Film.“

Ich legte die DVD ein, wir rückten näher zusammen, tranken den Wein und holten uns ein Stück Pizza.

„Der Wein ist etwas schüchtern im Abgang“, witzelte ich.

„Und ich war etwas schüchtern beim Aufgang zu deiner Wohnung. Das hat sich nun aber gelegt.“

Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter. Dieser Pfirsichduft! Als gegen Ende des Films die Jungs für ihren Lehrer John Keating der Reihe nach auf die Tische stiegen und „Oh Captain, mein Captain!“ riefen, konnte ich mich nicht mehr halten. Tränen liefen über meine Wangen. Franziska schluchzte ebenfalls neben mir.

„Sorry“, meinte ich und putzte mir die Nase. „Das ist eigentlich nicht meine Art.“

„Oh, endlich ein Mann mit Gefühlen!“

Sie küsste mich, erst zaghaft und verspielt, dann immer intensiver, und bald schon lagen wir auf meiner Couch, die Kleidung am Boden verstreut.

Mann, tat das gut nach gefühlten Jahrhunderten der totalen Enthaltsamkeit! Wir badeten in einem Meer aus Küssen, Stöhnen, Wippen, Wimmern und Liebkosungen. Unsere Bewegungen wurden langsamer. Sie saß auf meinem Schoß, ihre rötlichen Haare umspielten ihre Brüste. Je langsamer wir uns bewegten, desto intensiver wurden die Gefühle.

Franziska stöhnte und zitterte und ich glaubte, meine Schädeldecke würde abheben. Ein Funkenregen hellen Lichts. Sterne wurden geboren, Heißluftballone stiegen auf, ein Adler breitete seine Schwingen aus, Wellen brausten, brandeten herein und schäumten, Berge schwankten, reißende Flüsse sprangen über Gestein und ein Geysir schoss unter lautem Stöhnen in den Himmel.

Der Orgasmus meines Lebens! Franziska und ich schwebten draußen im Weltraum. Ganz alleine. Eng umschlungen. Ihr Körper zuckte. Ermattet und sprachlos lagen wir nebeneinander, die Arme ineinander verschränkt.

„Besser als Selbstbefriedigung, oder?“

Franziskas Stimme vibrierte vor Freude.

„Dafür gibt es keine Worte. Früher hab ich mir manchmal die Orgasmen vorgespielt, nur damit ich schneller mit der Selbstbefriedigung aufhören konnte.“

„Scherzkeks“.

Es klingelte. „Oh, mein Gott, mein Nachbar. Wieder mal ein Lauschangriff.“

„Bleib einfach liegen.“

„Dann musst du aber gehen.“

Ich bewunderte ihren weichen Körper und erinnerte mich an Worte von William Blake, der meinte, dass der nackte Körper der Frau ein Teil der Ewigkeit sei, zu groß für das Auge des Mannes. Es schellte wieder, diesmal ungeduldiger.

„Ich könnte nicht mal gehen, wenn ich wollte“, protestierte Franziska, „mein Körper zittert noch.“

Also sprang ich auf, zog mir leicht genervt die Hose über, was nicht einfach war, schlüpfte in mein Hemd und stolperte zur Tür. Es klingelte noch einmal und diesmal nahm er den Finger nicht mehr vom Klingelknopf.

„Was für einen Film schauen Sie denn jetzt wieder? Ich krieg bei diesem Lärm kein Auge zu!“

„Den Club der toten Dichter“, knurrte ich und betonte toten besonders stark.

„Grandioser Film, aber da gibt es doch keine lauten Szenen.“

„Doch, die in der Höhle, wo sich die Jungen mit den Mädchen … Sie wissen schon … Erinnern Sie sich nicht?“

„Kann sein, aber drehen Sie in Zukunft den Fernseher leiser, vor allem, wenn Sie Mädchen in der Höhle haben.“

Er zwinkerte mir zu und drehte sich um. Die Tür fiel ins Schloss. Ich atmete auf. Vielleicht war er netter, als ich immer gedacht hatte. Dann sauste ich wieder zu Franziska.

„Was hast du zu ihm gesagt?“

Franziska stieg in ihren Slip und zog sich das Unterhemd über.

„Die Wahrheit natürlich … dass er die Szene mit dem Geheimversteck in der Höhle gehört hat.“

„Ja, nichts als die pure Wahrheit. Höhle, Mädchen und Junge. Mein Gott, dich sollte man als Therapie verschreiben. Und die Höhle ist geheim. Bitte sag es niemanden weiter. Auch nicht deinen Kumpels.“

Sie stand mit dem Rücken zu mir.

„Glaubst du an Gott?“, fragte ich sie spontan.

„Das ist doch keine Frage des Glaubens. Ich fühle ihn, ich bin bei ihm. Ich liebe das, was man Gott nennt. Ich bin da mitten drin, so wie alles, was lebt.“

„Ich finde das nicht so einfach, ich fühle es, kann es aber nicht klar sehen.“

„Du willst Gott sehen?“

Sie blickte mich unvermittelt an, eine steile Falte in der Stirn. „Können deine Augen sich selbst sehen?“

Ich schwieg. Was sollte ich darauf antworten?

„Noah, das, was ich vorhin erzählt habe, von dem Mann, du bist der Erste, dem ich es erzähle. Ich mach mir fast in die Hose, wenn ich als Letzte die Schule verlasse oder alleine unterwegs bin. Es ist, als ob der Typ mir auflauert. Der Mann ist ein bisschen gruselig, aber trotzdem faszinierend. Ich fürchte mich, ihn zu sehen, und gleichzeitig freue ich mich darauf. Wenn du seine Augen sehen würdest, könntest du mich verstehen …“

Eifersucht stieg in mir auf. Ich wollte Franziska wegen dieses Wahnsinnstypen unterbrechen, doch ich hatte keine Chance.

„… ich wusste nicht mehr, wo ich war, drehte mich um und sah einen …“

In ihre Augen trat ein flehender Blick. „Bitte lach mich jetzt nicht aus. Ich sah einen Schwanz, wie von einem Fuchs oder so.“

Franziska hatte Coyote gesehen! Ich war erleichtert und gleichzeitig verunsichert.

„Ist das ein Kerl mit Cowboyhut und Lederhose?“

„Ja, genau. Die Lederhose, den Cowboyhut und seine weißen Haare hab ich ganz vergessen. Der Fuchsschwanz war einfach zu irritierend.“

„Vor dem brauchst du wirklich keine Angst zu haben. Den kenn ich, er ist ein gutmütiger Freak, ein richtiger Philanthrop, ein wenig schrullig ist er und leicht durchgeknallt, aber eigentlich schwer in Ordnung. Vielleicht hat er den Fuchsschwanz am Schlüsselbund montiert.“

„Du kennst ihn?“

„Nur ein bisschen“, stotterte ich. „Er hilft manchmal im Pub nebenan aus.“

„Im Shannon Inn? Das beruhigt mich ein wenig.“

„Wenn du diesen alten Knacker so anziehend findest, was ist dann mit mir? Findest du mich auch attraktiv?“

„Willst du das wirklich wissen? Da muss ich noch mal drüber nachdenken.“


Es war zwei Uhr morgens, als ich auf das Display meines Handys blickte. Ich zündete mir eine Zigarette an.

„Meinst du, ich krieg Probleme wegen der Mobbinggeschichte?“

„Ich denk schon. Johannes fühlt sich von dir bedroht. Du bringst Unruhe in sein Leben, Noah, und das will er verhindern.“

„Ich hasse Probleme, aber verbiegen mag ich mich auch nicht. Warum gibt Katja mir keine Rückendeckung? Das wäre verdammt wichtig.“

„Katja schätzt dich, auch wenn sie nicht alles gutheißt, was du anstellst.“

„Ja, vielleicht, aber was soll ich deiner Meinung nach machen?“

„Lass dir bloß kein schlechtes Gewissen von Johannes einjagen. An unserer Schule brauchen wir sowieso einen Perspektivenwechsel, so wie die Jungs im Film. Wir sollten alle mal auf die Tische steigen so wie diese im Film – oder du heute am Fenster.“

Sie knuffte mich in die Seite und grinste.

„Ich denke, Johannes fühlt sich von deiner Arbeit bedroht. Dabei könnte er selbst so viel gewinnen! Weißt du, ich glaube sogar, dass wir auf die Tische für unseren inneren Lehrer steigen sollten, der ermutigenden, liebevollen Stimme in uns. Wir sollten diesen Lehrer nicht immer allzu schnell rauswerfen. Er hätte uns viel zu lehren …“

Kopfsprung ins Herz

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