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Der Atem des Ozeans

Von allen Phänomenen der See gehört die Dünung zu den mir liebsten Erscheinungen. Jene – nach Maupassant – „mächtigen und trägen langen Wellen, jene Wasserhügel, die einer nach dem anderen, geräuschlos, ohne Erschütterung, ohne Schaum, wutlos drohend, durch ihre Stille erschreckend heranrollen.“

Gleich die erste Begegnung wurde zu einem Schlüsselerlebnis. Auf meiner Fischereifahrt führte unser Weg nördlich an Schottland vorbei. Wir passierten den Pentland Firth mit seinem aufgeregten, quirligen Wasser, den steilen, kurzen Wellen und unmöglichen Strömungen. An Backbord lag die schottische Küste als graue Landmasse mit pittoresk vorgelagerten Felsnadeln, den Duncansby-Stacks, die dem hellen, schaumigen Wasser einer nicht unbedeutenden Brandung entstiegen. Ein weißer Leuchtturm, grüßte zu uns herüber. Steuerbords war anfangs im Dunst ebenfalls schemenhaft Land zu erkennen, die Orkneyinseln, die aber bald achteraus zurückblieben.

Nachdem wir später eine prominente Felsnase passiert hatten – lass es Kap Wrath gewesen sein oder irgendeine andere Ecke, ich weiß es nicht mehr – öffnete sich der Blick auf den freien Atlantik und ein erster mittelhoher, sich anscheinend über den gesamten Seespiegel hinziehender Wellenzug wanderte auf das Schiff zu, nahm es sanft auf seinen Rücken und setzte es wieder im Tal ab. Dann kam der nächste Wellenkamm, dann noch einer und noch einer. Wir waren in den Bereich der Atlantikdünung gelangt. Da sich außerdem das triste, graue Wetter plötzlich besserte und Licht und Helligkeit auf uns und die See fiel, schien es mir, als sei ein Vorhang aufgezogen worden und eine völlig andere Bühne würde vor uns geöffnet.

In diesem Moment formte sich in meinem Geiste meine Vorstellung von dem Begriff „Ozean“. Wenn ich heute über den Ozean spreche, so steigt automatisch dieses oder ein ähnlich komponiertes Bild in meinem Kopf auf. Mögen der Himmel und das Aussehen oder die Farbe der See auch den Wandlungen des Wettergeschehens unterliegen, die Dünung gehört als unverrückbarer Bestandteil dazu. Ohne Dünung kein Ozean. Natürlich ist das in einem objektiven Sinne nicht richtig, denn es gibt Zeiten auf dem Ozean, wo er keine Dünung zeigt und andererseits sind Dünungserscheinungen durchaus auch in der Nordsee, ja sogar in der Ostsee möglich. Vielleicht nicht so gewaltig, aber durchaus vorkommend. Dennoch verunsichert mich dieser scheinbare Wiederspruch nicht: Es gibt immer zwei Wahrheiten auf dieser Welt, die so genannte objektive, von allen erfahr- und beschreibbare und die für einen Menschen wichtigere Wahrheit des subjektiven Erlebens.

Die Dünungswellen legen Zeugnis von den Stürmen auf dem Meer und der geballten Wut des Windes. Wenn die Wellen die Kinder des Windes sind, so ist die Dünung die Enkelgeneration, denn die Wellen werden durch Wind geboren, Dünung jedoch durch Wellen.

Lassen wir es harmlos anfangen. Zunächst kräuselt nur ein leichter Luftzug die ruhige Wasserfläche, aber die Wetterkarte zeigt ein gewaltiges Tief, geradezu ein Druckloch in der Atmosphäre. Die Isobaren liegen eng beieinander, also starke Druckdifferenzen auf kurze Entfernung – in der Fachsprache Druckgradienten genannt -, oder einfacher: Starker Wind ist zu erwarten. Der noch sehr leichte Wind reibt an der Wasseroberfläche und erzeugt auf dem hier vorausgesetzten völlig glatten Meer erste sehr kleine Wellen, die Kappillarwellen, häufig auch als „Katzenpfoten“ bezeichnet.

Nun kommt es näher, der Wind legt zu, größere Wellen formen sich, das Meer überzieht sich mit Schaumköpfen. Die Wogen gehen höher und höher, der starke Wind packt nun in die Wasserwände wie in Segel, die Reibung spielt keine sonderliche Rolle mehr, er presst sie vorwärts, pumpt Energie in ihre Körper und die Höhe steigt. Zunächst sind die Wellen kurz, vergleichsweise steil und wandern in wohlgeordneter Formation mit einem Drittel der Windgeschwindigkeit über das Meer. So schnell sie dabei für unser Auge auch sein mögen, der Wind bleibt schneller, der Sturm gibt sie nicht frei und sie wachsen weiter.

Aber nun nehmen die Wellen eine andere Form an, werden länger und relativ gesehen flacher, gerundeter, der Eindruck konkreter Wellen verblasst hinter dem Gefühl, die ganze Meeresoberfläche würde rhythmisch zu gewaltigen Bergen gehoben und gesenkt. Übersteigt jedoch die Form ein bestimmtes Maß, werden die Wellen instabil. Die grauen, gischtüberzogenen Berge türmen sich dann im Schwerwetter zu Wasserwänden auf, die mehrere Hundert Meter lang sein können und ähnlich einer Brandung am Stand überbrechen können.

Diese Ereignisse gehören zu den beängstigendsten und gewaltigsten Eindrücken auf der See, aber durch dieses Überbrechen, dem Zusammenbrechen der Wogen wird ein weiterer Wellentyp erzeugt, dessen Fortpflanzungsgeschwindigkeit jetzt aber rund vierfach höher ist und mit dem 1,4-fachen des Windes über das Meer wandert.

Diese, als Dünung bezeichneten Schwingungen verlassen daher mit erstaunlichem Tempo das Sturmgebiet und machen sich bereits nach 120 Stunden in bis zu 5000 Seemeilen Entfernung bemerkbar. Dann bilden sie die großen, grauen, patriarchalischen Wellen des Nordatlantiks, die kobaltblauen, transparent wirkenden Wogen der Subtropen oder die riesige, donnernde Brandung an den Ozeanküsten. Dabei darf die Dünung nicht mit abflauender Windsee verwechselt werden, sie ist etwas Eigenständiges, denn wie sollte eine abflauende Windwelle plötzlich an Geschwindigkeit zulegen und den Wind überholen?

Diese unterschiedlichen Geschwindigkeiten lassen sich übrigens auch von Laien auf See, etwa bei einer Kreuzfahrt, beobachten. Häufig werden kleine Windwellen, die meist durch Schaumköpfe identifizierbar sind, von breiten Wellenrücken unterlaufen. Sie holen die kleine Welle ein, heben Sie kurz auf ihren Rücken und verschwinden wieder in der See. Das war Dünung.

Da die Dünung in der Regel einem weit entfernt liegenden Ereignis entstammt, erreicht sie ein Seegebiet als breite Front und ohne Zusammenhang mit den lokalen Wetterbedingungen. Ich habe es oft erlebt, dass eine völlig ruhige See plötzlich von kräftigen Wellen überzogen wurde, ohne dass auch nur ein Hauch von Wind wehte. Das Schiff begann zunächst leicht, dann immer stärker zu schwingen und innerhalb kurzer Zeit arbeitete es sehr kräftig in den mehr oder weniger hohen Wellen. Dabei war die See ansonsten ruhig, ohne Kräuselungen, nahezu „ölig“ glatt. Allein breite und hohe Wasserwälle zogen heran und zwangen dem Gefährt eine sehr rhythmische Berg- und Talfahrt auf.

Wie auch wir Menschen unterliegt die Dünung während ihrer Lebenszeit deutlichen Veränderungen. Im Anfang sind die Dünungswogen hoch, acht bis zehn Meter sind nicht ungewöhnlich, und relativ kurz. Auf ihrem weiteren Weg über die Ozeane nimmt die Wellenhöhe jedoch allmählich ab, die Wellenlänge dagegen zu. Alte Dünung ist gemütlich und zeichnet sich durch niedrige Wellen aus, deren Abstand mehrere Hundert Meter betragen kann und die das Schiff im sanften Rhythmus von 20 Sekunden - eine erstaunlich lange Zeit - senkt und hebt.

Das schafft die beruhigenden Bilder einer im wohltemperierten Rhythmus wogenden See. Ist zufällig ein anderes Schiff in der Nähe, sieht man sehr schön, wie der Begleiter zunächst in die Höhe gehoben wird, dann aber langsam hinter einem Wasserberg verschwindet, so dass nur noch die obersten Aufbauten über die Wellen zu ragen scheinen. Und gelegentlich noch nicht einmal das. Neben dem eigenen Gefährt baut sich derweil die Wasserwand auf, hebt das Schiff und wenig später schaut der Beobachter weit über die See und vielleicht auf das tief unter einem liegende andere Schiff. Dann geht es wieder abwärts, der Kompagnon steigt auf und das Spiel beginnt von neuem. Sehr alte Dünung vermittelt dagegen fast gar nicht mehr den Eindruck konkreter Wellen. Die Wellenlängen sind so groß geworden, dass es scheint, der gesamt Seespiegel stiege allmählich an, erreichte einen Höhepunkt, um darauf wieder über eine gleich lange Strecke sanft zu fallen.

Aber natürlich entspringt meine Begeisterung für die Dünung nicht ihrer naturwissenschaftlichen Grundlage und den physikalischen Modalitäten, sondern vor allem gefühlsmäßigen Eindrücken. Zunächst einmal habe ich es immer als etwas langweilig empfunden, auf einem völlig glatten Meer zu fahren. Das vermittelte mir kein sonderlich euphorisches Seefahrtsgefühl. Das änderte sich aber sofort, wenn die See in Bewegung war und das Schiff gehoben und gesenkt oder zu den Seiten gerollt wurde. In dieser Hinsicht ist eine moderate Dünung von zwei oder drei Metern geradezu hervorragend geeignet, das Gefährt angenehm zu wiegen und so wirklich das Gefühl zu bekommen, auf flüssigem Element seinen Weg durch die Welt zu ziehen.

Der Vorteil von Dünung ist dabei ihre nahezu völlige Gleichförmigkeit. Man merkt sehr schnell, wie stark sich das Schiff bewegt, wie hoch die Rollwinkel werden und wie man sich gegen diese Bewegung stemmt oder sie ausgleicht. Reine Windsee dagegen ist ruppiger, mit Unstetigkeiten gesegnet, so dass es oft harte Schläge und unerwartete Schaukelbewegungen gibt, die in unglücklichen Fällen geeignet sind, einen von den Beinen zu hebeln oder Gegenstände ohne Umschweife von Tischen zu fegen.

Die Bewegungen der Dünung sind dagegen leicht beherrschbar und voraussehbar, hatte ich mir ihren Rhythmus zu Eigen gemacht, glich der Körper sie „automatisch“ aus und ich musste mich eigentlich nicht mehr irgendwo festhalten. Das änderte sich allerdings, wenn die Dünung sehr viel höher wurde, dann war „richtig“ Bewegung im Schiff und das Eintauchen des Gefährtes in die Wellentäler ging mit erheblichem Radau und harten Schlägen einher, die „Behaglichkeitsgrenze“ war nun überschritten.

In engem Zusammenhang damit steht, dass mir die Dünung immer ein optimistisches „Jetzt-geht’s-los-Gefühl“ vermittelte, das nach Aufbruch, Tatendrang und fernen Küsten „roch“. Mir vermittelte eine Dünung immer die Vorstellung des Neuen, auch wenn Sie mitten auf dem Meer und vielleicht erst drei Wochen nach der Abreise auftrat. Fällt nun ein tatsächlicher Aufbruch mit dem Dünungserlebnis zusammen, steigert sich das Erlebnis zu jener Klarheit, die ich gerne mit dem Begriff der „Reinen Impression“ umschreiben möchte.

Die Szene, die mir dabei vor den Augen steht, führt uns vor die norwegische Küste. Als ich damals als schlichter Tourist mit der Hurtig-Route nach Norden strebte, waren wir von Bergen kommend immer direkt an der Küste entlanggefahren. Zwischen den vielen Häfen am Wege führte praktisch keine nennenswerte Teilstrecke über das offene Meer. So gelangten wir bis Bodö. Nun aber sollte es zu den Lofoten gehen, wobei der Vestfjord zu überwinden war, eine Seestrecke von rund 60 Seemeilen.

Dieser Vestfjord ist nun aber kein eigentlicher Fjord, sondern ein etwa dreieckiges Stück Atlantik, das im Osten vom Festland und im Westen von den Inselketten der Lofoten und Vesterålen gebildet wird, die im spitzen Winkel der norwegischen Küste zustreben. Dieses Gebiet ist für nicht unerheblichen Seegang bekannt, was auch mit der Einengung der von West oder Südwest einlaufenden Wellenfelder durch die dreieckige Form dieser Meeresregion bedingt sein mag.

Als wir aus Bodö ausliefen, neigte sich die Sonne schon dem Westhorizont zu und die Schiffsleitung gab bekannt, dass nun mit einer „gewissen Unruhe“ im Schiff zu rechnen sei. In der Tat, schon bald hinter dem Hafen lief uns eine kräftige, hohe Dünung entgegen, die unsere „Midnatsol“ zu überwinden hatte.

Hei, wie da das Schiff sprang und tänzelte, sich auf die Wellen schob, in die Täler klatschte, dass die Gischt am Bug hoch aufspritze und als Tröpfchenschleier über das Vorschiff gingen. Da es gerade Zeit zum Abendessen war, saßen wir in der Nähe des zum Bug gerichteten Fensters und konnten gut dem Kommenden, der Gischt, der sinkenden Sonne entgegensehen. Die Gläser auf den Tischen klirrten fröhlich vor sich hin, die Teller zogen am Tischtuch und rappelten bei zu hartem Einsetzen in die See. Mit den Passagieren war eine merkwürdige Veränderung geschehen: Viele fehlten, die Gespräche der meisten erstarben schnell oder es herrschte allgemeine Einsilbigkeit.

Nicht allen war es daher vergönnt, diese herrliche Fahrt voll auszukosten, an Deck zuzuschauen, wie sich das Schiff seinen Kurs zu den Inseln bahnte. Immer neue Wogen rückten gegen das Schiff vor, das unermüdlich aufritt, in die Täler fiel, erneut aufritt, Gischt und Schaum spritzte und mit der Kraft eines Bullen auf sein Ziel zustürmte. Wir waren vergnügt ob dieser lustvollen, dynamischen Fahrt. Kein Küstengezuckel mehr, sondern endlich ehrlicher, freier Ozean. Uns umwehte das Gefühl der absoluten Freiheit, des Wikingerhaften, des Zurücklassens des Vergangenen. Zu neuen Ufern! Herrlich, fantastisch! Niemand, der dieses nicht selbst einmal miterlebt hat, kann die Frische dieses Eindrucks, die Lust am Aufbruch, die Dynamik des auf der Dünung reitenden Schiffes wirklich nachvollziehen.

Die Dünung ist das Atmen der See. So wie sich der Brustkorb eines lebenden Wesens mit seinen Atemzügen langsam hebt und senkt, so vermittelt mir die Dünung den Eindruck von Atembewegungen des Meeres. Dies wird umso deutlicher, wenn man längere Zeit auf völlig ruhigem Meer dahingleitet. Für einen, zwei, oder auch drei und vier Tage mag das ohne nennenswerten Affekt auf den Reisenden sein. Dann aber beginnt die Periode, wo mir immer das Meer wie erstorben schien, ich mir der großen Leere und Einsamkeit dieses riesigen Naturraumes bewusst wurde und ich meiner Bedeutungslosigkeit in der Unendlichkeit der See gewahr wurde. Die „schweigende See“ ist nach meinem Empfinden ein unmenschlicher Zustand.

Gelegentlich wurde ich gefragt, ob ich nicht wegen der großen Wassertiefen von 5000 m oder so Angst auf den Seefahrten empfand. Ich habe dann sinngemäß geantwortet, dass es zum Ertrinken ziemlich egal ist, ob die Wassertiefe 5, 50 oder 5000 m beträgt. Nein, was mich gelegentlich zum Gruseln brachte, ist die entsetzliche Weite und Leere des Meeres. Unser Schiff liegt auf Position und auf 1000 oder 2000 Km oder noch mehr ist im Umkreis nichts vorhanden außer Wasser. Kein Land, kein Schiff, kein Mensch. Käme es zum Äußersten wäre niemand da zum Helfen, auch bei 5 m Wassertiefe nicht. Wie schreibt Alexander von Humboldt? „Die Unermesslichkeit des Meeres ergreift den Schauenden finsterer und tiefer als die des gestirnten Himmels.“ Wer empfindsam ist, den umfängt dann die Angst des Leeren, die Einsamkeit, die Verlorenheit, der Horror vacui, und ich möchte nicht wissen, wie viel Alkohol durch Seemannskehlen gerade wegen dieses Umstandes geflossen ist. Auch wenn es niemand zugibt.

Wenn dann aber Dünung auftaucht, belebt sich für mich das Meer wieder, es beginnt zu atmen und wird damit menschlicher. Es reduziert seine erhabene Erscheinung auf ein menschliches Maß, auf eine Dimension, die der Mensch aushalten kann. Protagoras hat einmal gesagt, der Mensch sei das Maß aller Dinge. Dies sollte man aber nicht so verstehen, dass der Mensch das Maß setzt, sondern dass nur die auf menschliches Maß reduzierten Gegebenheiten für ihn überhaupt seelisch auf Dauer auszuhalten sind. Und deshalb mag ich die Dünung, weil das Atmen der See meinem Atmen entspricht.

Das Meer und das Leben

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