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Das Schweigen der See

Es kam langsam über uns. Seit Wochen kreuzten wir vor der westafrikanischen Sahara, nahmen meeresbiologische Proben, arbeiteten in den Laboratorien, aßen unsere Mahlzeiten und schliefen oder wachten in den Nächten entsprechend unserer Arbeitsrhythmen. Das Wetter war gut, sonnig, warm, mit mittelstarken Winden, die eine leicht bewegte See zur Folge hatten. Es war schön, an Deck zu arbeiten und die Vorzüge der Forschung in tropischen Breiten zu genießen. Gelegentlich konnte sich der eine oder andere sogar ein kleines Mittagsschläfchen auf dem Peildeck oder der Back leisten.

Aber dann begann sich der Himmel allmählich zu verfärben. Das Blau des Himmels bekam eine gelbliche oder leicht bräunliche Note, die immer stärker zu werden schien. In den nächsten Tagen war das Phänomen auch ohne besondere Aufmerksamkeit von allen zu beobachten. Gelbliche Schwaden trieben in entsprechender Höhe wie dünne Wolken langsam über die See, dämpften das Sonnenlicht und ließen die Kollegen immer öfter und intensiver als sonst üblich in den Himmel schauen. Der Wind ließ langsam nach.

Viel gesprochen wurde nicht darüber, denn jeder wusste, was diese Verfärbungen zu bedeuten hatten: In der Höhe trugen ablandige Winde Saharastaub über das Meer. Die große Wüste griff über das Land hinaus und versuchte, sich auch des Meeres zu bemächtigen. Aber vorerst waren es nur Staubschwaden in großer Höhe.

Das änderte sich über Nacht. Als wir morgens an Deck kamen, schlug uns eine ungewohnte Hitze entgegen und alle Gegenstände, egal ob Deck, Probengeräte, Winden, Unterstände, Reling, Taue oder was sich sonst noch im Freien befand, waren mit einer Schicht rötlich braunen Staubes bedeckt. Die Atmosphäre war angefüllt mit diesem sehr feinen Sand, so dass die ganze Umgebung einen braunen Ton aufwies. Die Fernsicht war extrem eingeschränkt und sank auf unter eine Meile. Das Wasser war ebenfalls mit einer braunen Schicht bedeckt, die kleinen Wellen wirkten schmutzig, die Schaumstreifen, die wir mit unseren Geräten erzeugten erinnerten an einen mit Schlammstoffen angefüllten Tümpel.

Die höhersteigende Sonne drang mit ihren Strahlen kaum noch bis zur Wasseroberfläche durch und stand als matte, bläuliche Scheibe an einem braunen Himmel. Hatten wir draußen zu tun, so bedeckten sich bald die Haare mit Saharastaub, der auch auf der Haut klebte, bis unter die Kleidung drang und in den Augen unangenehm rieb. Die Mannschaft aktivierte die Wasserschläuche, spritzte alles in die See, aber nach nur wenigen Minuten ließ sich eine neue Staubschicht auf dem sonst schwarzen Deck entdecken.

Wir waren in einen „Outburst“ geraten, einen durch bestimmte Luftmassenbewegungen ausgelösten seewärtigen Transport von feinstem Saharastaub. So etwas ist vor Westafrika keine Seltenheit und seit Jahrhunderten bekannt. Angeblich sollen sogar in früheren Zeiten Schiffe dank der Unsichtigkeit der Atmosphäre gestrandet sein. In der Tat verschwand alles, Luft, Meer, Horizont, ja selbst die nächste Umgebung in dieser staubigen, fast keine vernünftigen Entfernungsschätzung zulassenden Staubwalze. Wir waren vollkommen isoliert, das Meer, dieser uns seit Jahren vertraute Lebensraum hatte von einem zum anderen Tag seinen so typischen Charakter verloren und wirkte bedrohlich, abweisend und auf eine mir bisher nicht bekannte Art fremd.

Wind und Seegang hatten aufgehört, Akzente zu setzen. Es gab nichts mehr auf der Welt als die braune Umgebung, die es unmöglich machte, in weiterer Entfernung zwischen See und Luft zu unterscheiden. Über der ganzen düsteren Szenerie lag zudem eine unheimliche Stille. Kein Vogel besuchte das Schiff, kein Krächzen unterbrach das grauenvolle Schweigen im Inneren dieses fliegenden Sandberges. Kein Fisch oder Wal durchbrach die träge schwingende Wasseroberfläche. Das Meer war erstorben. Unsere Stimmen klangen merkwürdig gedämpft, möglicherweise „schluckte“ der Staub einen großen Teil des Schalls, sodass die Geräusche wie durch Watte an unser Ohr drangen. Aber diese wenigen Geräusche stammten nur vom Schiff, es gab keine Klänge mehr, die aus der Natur stammten.

Ich kletterte auf das Peildeck und mit jedem Meter stieg die Temperatur fühlbar. Klaus, unser Bordmeteorologe, hatte ein paar Messungen gemacht und dabei festgestellt, dass wir in einer „verdrehten“ Wetterlage steckten. Im Gegensatz zum Üblichen nahm die Temperatur mit der Höhe zu. Auf dem Arbeitsdeck hatten wir 25° C, in 10 m Höhe jedoch 35° C, also pro Meter Höhenunterschied eine Temperaturdifferenz von einem Grad. Oben hätte ich eigentlich schwitzen müssen. Aber nichts dergleichen, unsere Messungen hatten auch ergeben, dass die Luft derart trocken war, dass selbst eine aus dem Kühlschrank entnommene Getränkeflasche sich nicht mit dem üblichen Kondenswasser überzog. In dieser Luft war praktisch kein Wasser mehr enthalten. Das ist die Todesluft, die die Körper austrocknet und jeden Saharareisenden dazu zwingt, mindestens sechs Liter Wasser pro Tag mitzuführen und auch zu sich zu nehmen. Das Körperwasser dringt aus allen Poren, formt aber keine Schweißtropfen mehr. Es verdunstet sofort. Neues Wasser wird aus dem Körper nachgeliefert und langsam trocknet man ein. Wer dann nicht genügend trinkt, stirbt. Unter Umständen noch vor Sonnenuntergang desselben Tages.

Die Aussicht vom Peildeck war trostlos. Eine undurchdringlich braune Umgebung ohne Grenzen, ohne Konturen. Die Sonne stand zwar nun fast im Zenit, aber die Helligkeit erinnerte eher an den frühen Morgen. Ein paar matte, bläulich wirkende Lichtpunkte auf der See waren nur eine schwache Erinnerung an das Lichtfest, das normalerweise die große Spiegelfläche des Meeres erzeugt. Aber überwältigend war und blieb die große Stille, die über der Szenerie lag und das Ungeheure der Situation noch steigerte. Nicht einmal die Geräusche der arbeitenden Männer drangen zu mir auf die oberste Plattform des Schiffes. Es war buchstäblich nichts zu hören.

Diese absolute Stille hatte ich schon einmal erlebt. Am Ruinenhügel der antiken Nabatäerstadt Avdat in der Negevwüste. Nach einer Besichtigung der Ruinen, der Straßenzüge und der alten, mit fremden und unverständlichen Schriftzeichen versehenen Steine einer vor 2000 Jahren untergegangenen Welt war ich die Böschung des Stadthügels wenige Meter hinuntergeklettert und hatte mich in den Sand gesetzt. Hier herrschte das völlig lautlose Schweigen der Wüste. Selbst der leichte Wind erzeugte keine Geräusche in meinen Ohrmuscheln, denn ich saß in einer windgeschützten Mulde, die in ihrer völligen Bedeutungslosigkeit von dem Lufthauch keines Besuches gewürdigt wurde.

Ich schaute über die umliegenden sandfarbenen Hügel in eine scheinbar erstorbene und von dem Gang der Geschehnisse vergessene Landschaft. Weiter hinten erkannte ich zwei oder drei weidende Dromedare, die wahrscheinlich einer in der Nähe wohnenden Nomadenfamilie gehört haben dürften. Dieses große Schweigen war beängstigend und die Tugend eines Wüsteneremiten besteht wahrscheinlich nicht darin, in unfruchtbarem Land allein zu leben, sondern dieses alles durchdringende Schweigen auf längere Zeit auszuhalten.

Vielleicht beginnt man dann nach Jahren eigenartig zu werden und Stimmen zu vernehmen. Göttliche Stimmen oder die Einflüsterungen des Wahnsinns – wer will es wagen, zwischen beiden zu unterscheiden? So wie bei jenem längst dahingegangenen verrückten Weisen des Wadi Rum von dem uns Lawrence Kunde gibt: „Die Howeitat berichteten, dass er sein Leben lang unter ihnen herumgeirrt sei, immer so sonderbar jammernd; er kümmerte sich weder um Tag und Nacht noch um Essen, Arbeit oder Obdach. Alle wären gut zu ihm, da er ein kranker Mann sei, aber er erwiderte niemals auf Fragen, noch spräche er laut; das tue er höchstens, wenn er allein sei, draußen unter den Schafen und Ziegen“.

Diese allumfassende Stille wurde selbst in der kurzen Zeit am Stadthügel von Avdat für mich so körperlich, dass sie mich mehr belastete als die Welt der Geräusche und des Lärms. Ich ging meinen aufkeimenden, leicht versponnenen Gedanken nach und war dabei, mich in einer Geisterwelt zu verlieren, als plötzlich, wie das Fingerschnippen des Hypnotiseurs, ein Esel irgendwo in der Nähe unter der Glut der Mittagssonne laut und vernehmlich mehrere Male durch die Wüste brüllte und mich in die Realität zurückholte.

Diese Erinnerung an den Esel brachte mich auch auf der „Meteor“ aus meinen Gedanken und ich schaute wieder aufmerksamer in meine Umgebung. Aber es hatte sich nichts geändert. Der trübe Ausblick war geblieben und die große Stille lastete immer noch über Schiff und See. Der Staub rieselte unmerkbar, aber beständig aus der Luft. Ich sammelte die Menge von ein oder zwei Teelöffel vom Deck und verstaute den rötlichen Staub in ein mitgebrachtes Glasgefäß. Als „Souvenir“.

Dann überließ ich mich wieder meinen Fantasien, die in dieser Situation reichlicher flossen als gewöhnlich. Wie wird wohl die erste Begegnung europäischer Seefahrer mit derartigen Staubwalzen ausgefallen sein? Portugiesen müssten diejenigen gewesen sein, die das erste Mal damit zu tun bekamen, damals vor rund 500 Jahren, als sie sich daran machten, im Laufe von Jahrzehnten den Seeweg um Afrika und nach Indien zu erkunden.

Was haben die Männer gedacht als von einem Tag auf den anderen die Frische des Meeres verschwand und sich die Welt in braunen Nebel hüllte, der Sand sich auf der Karavelle abzulagern begann, die Segel schlaff herunterhingen und keine Fahrt mehr im Schiff war. Keine anderen Geräusche drangen an das Ohr der verängstigten und verunsicherten Menschen als das Knarren der Planken, Blöcke und des Tauwerks des durch leichte Meeresströmungen bewegten Schiffes. Es wird gebetet. Naht das Ende des Ozeans, der Welt, kippt das Schiff über den Rand der Erdscheibe und fällt in das Nichts? In das Nichts ohne Wiederkehr? Die Nerven liegen blank, wie man so sagt. Bei allen, vom Schiffsjungen bis zum Kapitän.

Dann – in meinem Kopf treibe ich die Dramatik genüsslich auf die Spitze – springt in unmittelbarer Nähe ein großer Wal, hebt seinen Körper in die Luft, kippt zur Seite und klatscht unter ohrenbetäubendem Lärm auf die See, dass die heranrollenden Wellen die Karavelle ins Schlingern bringen. Ein Aufschrei der Verzweiflung gellt über das Meer. Vielleicht war dieser Aufschrei das letzte, was von dem Schiff Zeugnis gegeben hätte. Aber der Schrei hat die Staubwalze nicht verlassen und es war niemand da, ihn zu hören.

Wenn man unsere Situation auf sich wirken lässt, bekommt man eine Ahnung, wie die Ungeheuer des ausgehenden Mittelalters auf die Karten und Portolane kamen und wird nachsichtig mit unseren Vorfahren. Es waren nur verängstigte Menschlein, die der Fremdheit dieser Natur nicht gewachsen waren und sich nicht anders zu helfen wussten, als ihre Ängste in fantastischen Ungeheuern bildlich wiedererstehen zu lassen und so zu „verarbeiten“.

Das Schweigen der Wüste und der See. See und Wüste, wie eng sie doch miteinander verwandt sind. Wir sprechen einerseits von einem Sandmeer, andererseits von einer Wasserwüste. Das Kamel ist das „Wüstenschiff“ und südlich der Sahara zieht sich quer durch den Kontinent die Landschaftsbezeichnung „Sahel“. Der aus dem Arabischen stammende Begriff heißt nichts anderes als „Im Uferbereich liegend“ oder „Rettendes Ufer“ oder schlicht „Küste“. Das sagt alles.

Hier auf See denke ich also an die Wüste, als ich damals am Hügel von Avdat saß, dachte ich jedoch an das Meer. Welche kompromisslose Wüste stellt die See dar. Ständig veränderbar, unstetig, lebensfeindlich für den Menschen, denn er vermag sich in ihr noch nicht einmal dauerhaft zu bewegen. Und die See unterbindet jede Erinnerung an Tragödien.

Verunglückt jemand in der Sahara, so findet man seinen Jeep, vielleicht die ausgetrocknete, mumifizierte Leiche, Skelette, unter Umständen eine letzte Botschaft. In einen Felsen geritzt oder wie auch immer mitgeteilt. Risse uns hier ein Sturm, eine Monsterwelle oder ein irgendwie anders geartetes Unglück in die Tiefe, die See würde sich ruhig über uns schließen und nichts, aber auch gar nichts würde von dem Drama Zeugnis geben. So wie bei den vielen Schiffen, die ohne Botschaft nicht mehr wiederkamen. Das Meer, die tiefdunkelblaue See würde wie seit 5000 Jahren unter einem heiteren Himmel über die Gräber rollen. Die Erinnerung wäre im System verloren gegangen.

Wüste und See. Riesige, menschenfeindliche Gebiete, angefüllt mit geheimnisvollen Kräften, gegen die der Mensch nichts vermag. Beide regiert von dem gleichen Herrscher, dem Himmel. Die Wüste kenne ich nicht so gut, ich habe mehrmals in ihren Vorhöfen gestanden, bin aber nie zu ihrem Herzen durchgedrungen. Daher will ich nicht mehr von ihr reden, aber das Meer und der Himmel sind Teil meines Lebens.

Wer zur See fährt, lernt den Himmel zu achten. Als ich das erste Mal auf ein Peildeck enterte und auf einem richtigen Ozean den Blick über die große Wasserfläche schweifen ließ, erschrak ich fast über die Größe des Himmels. Wie eine riesige Kuppel spannte sich das Himmelszelt über der See und begrenzte sie in jeder Richtung. Verglichen mit diesem riesigen Gewölbe wirkte das Meer klein, unbedeutend, eigentlich nur der untere wässrige Abschluss des Firmaments. Nirgendwo vorher hatte ich einen derartigen Himmel zu Gesicht bekommen, seine Größe schlug mich in seinen Bann und hat mich bis heute nicht losgelassen.

An Land, jedenfalls in den Regionen, in denen wir in der Regel beheimatet sind, ist der Himmel Beigabe, ein Teil der Landschaft. Der Himmel hat auf unser Treiben lediglich einen modulierenden Einfluss und äußert sich häufig nur in trivialen Zusammenhängen wie z. B. der Frage nach der Kleidung. Das Gespräch über das Wetter gilt als das Paradebeispiel des „Small Talk“, das worüber man Kontakte knüpfen kann, was aber letztendlich ohne jede Bedeutung ist. Der Himmel spielt bei unserem Treiben keine besondere Rolle. Nicht so auf See, in der Welt des Ozeans sind Meer und Himmel die bestimmenden Größen.

Deswegen ist der erste morgendliche Blick immer zum Himmel gerichtet, dann auf die See und erst danach folgt alles andere. Das Meer ist ein eigener Kosmos, gebildet von Wasser und Himmel, in dem sich das Schiff seinen Weg bahnt. Niemand kann daher zur See fahren und den Himmel vernachlässigen, denn die See ist nicht der Spiegel des Himmels, sondern seine rechte Hand. Wenn der Himmel zürnt, ist das Meer der Hammer und graue Wellenberge werden über die See wandern und auf Schiffe und Felsenklippen einschlagen, Ländereien überfluten, Menschen ertränken. Wenn dir der Himmel gewogen ist, so ist es das Meer, das dich und deinen schwimmenden Untersatz behutsam an das Ziel trägt.

Aus diesem Grund wurde und wird der Himmel mit Achtung und Respekt betrachtet, dessen Vorzeichen man rechtzeitig erkennen und deuten muss. Aus Erfahrung, Belehrung und heute auch mit Hilfe der Elektronik, der Satellitenbilder und allen modernen Hilfsmitteln, die dem Seemann zur Verfügung stehen. Der Ozean, die nur gemeinsam zu denkende Verbindung von Himmel und Meer, ist scheinbar mal Partner, mal Gegner, wechselt die Rollen, ist nicht berechenbar. Du schimpfst auf ihn, du erfreust dich an ihm, aber du wappnest dich auch gegen ihn und steckst, wenn es sich nicht vermeiden lässt, seine Schläge ein.

Er ist der große König, der huldvoll Gnade gewährt oder ohne Begründung vernichtet. Menschen interessieren ihn nicht, er folgt nur seinem Gutdünken. Wenn dabei ein Schiff auf der Strecke bleibt oder eine Insel untergeht, sollten wir uns nicht einbilden, er hätte es wegen uns getan. Der Mensch ist viel zu belanglos als dass er sein Tun auf ihn ausrichten würde und geht jemand an ihm zu Grunde, so schlicht deshalb, weil er sich in seinen Regierungsbereich gewagt hat. Wer sich ihm nähert, muss ihn achten, respektieren, darf ihn nie aus den Augen lassen und muss seine Vorbereitungen treffen. Das ist der wahre Unterschied zwischen dem Land- und Seeleben.

Selbstverständlich wirkt sich das Antlitz des Himmels auf die Stimmungslage der Männer aus. Heraufziehendes, drohendes Gewölk oder möglicherweise eng beieinander liegende Isobaren auf der Wetterkarte spiegeln sich in ähnlichen Falten auf der Stirn der Verantwortlichen. Der vorfrühlingshafte Hauch über einer frischen, blauen See bringt ein Lächeln in die Gesichter. Aber auf unbestimmte Weise bedrückend wird die Stimmung, wenn sich Himmel und Meer zu dem vereinen, was ich für mich in Ermangelung eines besseren Wortes das „schweigende Kontinuum“ genannt habe, die Vereinigung der beiden Elemente zu einer ununterscheidbaren stillen Masse.

Genau das hatten wir jetzt vor Westafrika. Himmel, Sand und Meer verschwammen zu einer ununterscheidbaren Vermischung der Elemente, die deshalb so bedrängend wirkt, weil sie dem Menschen nichts Konkretes bietet. Weder Gefahr noch Sicherheit. Mit beidem kann der Mensch leben, aber das Nichts verunsichert ihn wie die Dunkelheit. Das existenzielle Grauen der Vorzeit kriecht als uraltes Erbe aus den Gehirnteilen, die sich noch sehr gut daran erinnern, welche Angst der Mensch hatte, ob sich nicht aus dem Nebel der Wälder auf einmal die massige Gestalt des angreifenden Bären herauslöst.

Plötzlich surrte etwas an meinem Ohr vorbei und ein kleiner Körper klatschte gegen einen Decksaufbau. Eine zarte Libelle mit fragilen Flügeln und rotem Körper war gelandet. Eine Spur des Lebens in dieser toten Welt, ein Bote aus einem anderen Universum. Die kleine Libelle wirkte wie ein Trost an einen Verzweifelten, wie ein Versprechen. Wenn eine Sternschnuppe uns Hoffnung auf den Himmel macht, so sprach die Libelle vom Leben, der Fülle, dem schwingenden Reigen alles Lebendigen. Diese Libelle mahnte mich, meinen verstiegenen Gedankengängen zu entsagen und mich wieder der Realität zuzuwenden. Ich stieg vom Peildeck, ließ meinen Blick über die See gleiten und verschwand in meiner Kabine, um meine „Spinnereien“ dem Tagebuch zu übergeben.

Im Laufe des Nachmittags trafen noch mehr Libellen ein, zwei Heuschrecken wurden aufgefunden und eine große Anzahl lästiger Fliegen kam auf das Schiff. Die Luftmassenbewegung hatte die Tiere auf das Meer entführt und der in der unsichtigen braunen „Brühe“ hell leuchtende weiße Rumpf unseres Schiffes hatte sie wahrscheinlich angelockt. Sie hofften auf einen Platz zum Überleben. Vielleicht nur, aber immer noch besser als in die See zu fallen. Aber sie werden sterben, denn hier gibt es nichts zu fressen und irgendwann werden wir weiter in den Ozean hinausfahren und die Küste zurücklassen. Sie sind verloren – außer die Fliegen vielleicht, denen offensichtlich kaum beizukommen ist.

Wir Biologen hatten schon längst aufgehört, Proben zu nehmen. Der Sand verschmutzte und verstopfte die Planktonnetze, alle Proben waren in Sand getaucht und ob die Netze unter diesen Umständen überhaupt noch richtig fingen, sei dahingestellt. Wer konnte, hatte sich unter Deck verkrochen, um dem ewig in den Augen, unter den Achseln, ja selbst in den Unterhosen reibenden Staubablagerungen zu entgehen. Das Zeug drang überall durch.

Allein die Physiker machten noch einige Messungen, aber dann war Schluss. Wir beschlossen, den ungastlichen Ort zu verlassen und unsere Station vorzeitig abzubrechen. Alles wurde eingepackt und jeder verschwand unter der Dusche und dann in den Messen oder Kabinen. Die Maschine wurde angeworfen, „Meteor“ nahm Fahrt auf und wir machten uns im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Staub.

Am nächsten Morgen und 100 Seemeilen weiter südlich empfing uns wieder ein frischer kobaltblauer Ozean, mit klarem Himmel, leichter Dünung, Wind und einer strahlenden Sonne. Die Wasserschläuche beseitigten die letzten Boten der großen Wüste. Zur gleichen Zeit wunderten sich Autofahrer in München über den merkwürdigen gelblichen Staub, den sie morgens auf ihren Wagen vorfanden und ein oder zwei Tage später vermeldeten die Zeitungen, dass Saharastaub bis nach Deutschland gelangt sei. Ein nicht alltägliches Ereignis, denn eine ungewöhnlich große Staubwolke war aus der Wüste auf das Meer und in die planetarische Luftzirkulation geweht worden.

Noch ein anderes Mal habe ich diese große Stille, die bedrängende Macht des Nichts erfahren. Jahre später im Indischen Ozean. Wir hatten ein mehrwöchiges Forschungsprogramm im Roten Meer abgearbeitet und begaben uns zu Vergleichsmessungen in den Indischen Ozean. Im südlichen Roten Meer, bei den heißen, sonnenverbrannten, steinigen und kaum bewachsenen Hanish-Inseln wehte ein kräftiger Wind, der die tiefblaue See mit weißen Schaumköpfen zierte. Ein immer wieder schönes Bild, welches das Herz eines jeden seevernarrten Menschen ein paar Takte schneller tanzen lässt und in mir immer Fröhlichkeit erzeugt.

Bei Bab-el-Mandeb, der südlichen Pforte des Roten Meeres zum Indik, schlief der Wind jedoch ein, die Schaumköpfe verschwanden, die Wellen flachten ab. Wir fuhren in eine fast eine Woche dauernde Flaute hinein.

Nach der Passage der Meerenge und als wir unser im sicheren Abstand vom Land ausgesuchtes Arbeitsgebiet erreichten, bewegte sich der Ozean nur noch schwach. Dann kam jede Bewegung zum Erliegen. Den ersten Tag pflügte „Meteor“, jetzt die neue, durch eine ruhige Wasserfläche, die gelegentlich noch Felder mit „Katzenpfoten“ zeigte. Einige wenige Wolken zogen noch über den Himmel. Zeugen der letzten zarten Windzüge bevor die Atmosphäre gänzlich ihre Tätigkeit einstellte.

Ab dem zweiten Tag befanden wir uns dann in einer entrückten Welt. Das Meer war völlig zur Ruhe gekommen, ein durchgehend glatter, ölig wirkender Meeresspiegel, ein wie mit einem Lineal gezogener Horizont trennte sauber die in verschiedenen Blautönen leuchtenden Elemente. Kein Lufthauch regte sich mehr. Auf der „Meteor“ herrschte unangenehme Hitze, da jeglicher kühlender Wind fehlte. Lediglich auf den kurzen Strecken zwischen zwei Stationen, brachte der Fahrtwind etwas Linderung. Sobald aber das Schiff stand, war nichts mehr zu spüren, außer Hitze und die brutale Kraft der Sonnenstrahlen. Keine Bewegung, weder im Wasser noch in der Luft. Nichts, gar nichts. Nur beklemmende Hitze und wieder die alles umfassende Stille der einsamen See.

Am dritten Tag verschwand der Horizont in weißlichem Dunst, das Meer verlor sich in einem helleren Streifen, aus dem auch der Himmel hervorzusteigen schien. Selbst die anfangs kräftigen und leicht unterschiedlichen Blautöne von Himmel und Meer wurden heller, weißer und glichen sich mehr und mehr einander an. Wir verschwanden in einem weißlich-blauen Kontinuum, in dem die Elemente ununterscheidbar wurden und sich in der Ferne verloren.

Hitze und absolute Stille über der ganzen Szenerie. Die Sonne ging am Morgen auf, wanderte unbeeindruckt über den Himmel und verschwand, ohne dass irgendeine Veränderung am Himmel eintrat. Nachts zeichnete der Mond eine silbrige Straße auf das erstorbene Meer, zog seine Bahn und ging unter. Dann kam wieder die Sonne. Sobald sie über dem erschien, was wir für den Horizont hielten, traf uns die Hitze ihrer Strahlen. Es wurde von Tag zu Tag unangenehmer, da die Luftfeuchte anstieg und kein Wind die unsichtbaren Dunstschwaden wegblies. Treibhaus.

Als wären wir in eine für das Leben unerreichbare Dimension versetzt, besuchte uns kein Vogel, kein fliegender Fisch startete zu seinen kurzen Segelflügen. Selbst unsere treuesten Reisebegleiter, die Haie, waren verschwunden. Nirgendwo eine Flossenspitze, kein torpedoförmiger Körper, der seine Kreise um das Schiff zog. Vorne am Vorschiff, auf der Back, dem ruhigsten Ort der „Meteor“, war das Schweigen der See bedrückend. Wir kamen uns wie in einer verlorenen Welt vor, als gäbe es nichts mehr auf dem Planeten außer uns. Niemals habe ich auf See ein derartiges Gefühl der Verlorenheit, der Einsamkeit empfunden wie in diesen Tagen.

Der Ozean erschien mir unermesslich, fremd, lebensfeindlich. Die Stille zerrte am Gemüt. Wir wurden wortkarg zueinander, mürrisch, die sonst üblichen Scherzworte, die kleinen Hänseleien, das Geschwätz verstummten. Wir machten unsere Arbeiten, sicher, wir besprachen die notwendigen Dinge, Planungen, Geräteeinsätze, aber ansonsten zog sich jeder in sich selbst zurück. Die Bordbar blieb fast immer leer. Einige saßen in den Laboren und werkelten was das Zeug hielt, andere lagen still in den Kojen, lasen oder starrten mit leerem Blick an die Decke oder auf die geöffneten Bullaugen und warteten auf den nächsten Einsatz. Die Mahlzeiten fanden im Wesentlichen schweigend statt.

Ein Schatten war auf uns gefallen, das empfanden alle, aber keiner konnte mit Bestimmtheit sagen, was es war. Angst? Wovor, das Schiff war in Ordnung? Bei Bedarf könnten wir die Maschine anwerfen und uns mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit in ein anderes Seegebiet begeben. Wie damals vor Westafrika im Sand. Einsamkeit? Warum, um uns waren etwa 50 lebende Wesen? Wir kriegten es nicht in den Griff, aber die Stimmung war gedrückt.

Dann folgte der nächste Tag, die Sonne ging auf, die Sonn ging unter, nichts regte sich. Keine Welle, kein Windzug. Nur Schweigen, Stille, Einsamkeit, Verlorenheit in der Weite der See. Der 5. Tag. Das gleiche Bild. Nichts. Diese Tage gehören zu den unangenehmsten, wenn auch durchaus interessanten Erfahrungen, die ich auf dem Meer gemacht habe.

Solche entnervenden Situationen ohne Wind und Seegang sind übrigens keine Seltenheit auf dem Ozean und nicht etwa der Ausdruck höllischen Hasses auf unsere „Meteor“ oder deren Bemannung. In allen Ozeanen gibt es die Rossbreiten und die Mallungen. In der nördlichen Hemisphäre liegen bei etwa 30 – 40° Nordbreite permanente Hochdruckgebiete, wie z. B. das berühmte Azorenhoch. Sowohl im Zentrum eines Hochs als auch im zentralen Tiefdruckgebiet gibt es keine oder nur sehr geringe Luftdruckunterschiede. Ohne Druckunterschiede aber kein Wind, denn Luft setzt sich nur bei Druckunterschieden in Bewegung. Deswegen gibt es im zentralen Azorenhoch wegen fehlender Druckgradienten typischerweise wenig bis keinen Wind und nur geringen Seegang. Für Segelschiffe ist dies natürlich sehr hinderlich und es können viele Tage vergehen, bis diese „Rossbreiten“ überwunden sind.

Die fehlenden Druckunterschiede im Zentrum eines Tiefs bewirken übrigens auch das „Auge des Hurrikans“. Während rund um das Zentrum enorme Druckunterschiede und damit Windgeschwindigkeiten auftreten, ist es im „Auge“ praktisch windstill – allerdings herrscht eine fürchterliche See.

Im Azorenhoch steigt die Luft aus großer Höhe ab und fließt erst langsam, dann immer schneller werdend nach Süden ab, denn um den Äquator gibt es eine permanente Tiefdruckrinne. Die Passatwinde folgen also bzw. entstehen aufgrund dieser großräumigen Druckdifferenzen. Kurz vor dem Äquator treffen dann die Passatwinde der Nord- und der Südhalbkugel aufeinander und kommen in der äquatorialen Tiefdruckrinne, die keine nennenswerten Druckgradienten zeigt, zum Erliegen. Deshalb ist auch die Gegend um den Äquator mit Flauten und schwachen Winden verbunden, den „Mallungen“, die ein ebenfalls gern gehasster Gegner der Segelschiffe waren und auch modernen Forschungsschiffen und ihren Besatzungen feucht-heiße und schweißtreibende Tage bringen.

Betrachten wir daher den Atlantik oder den Pazifik von Nord nach Süd, so sind drei Flautenzonen auszumachen: In der nördlichen subtropischen Hochdruckzelle, bei den äquatorialen Mallungen und in der südlichen subtropischen Hochdruckzelle. Nördlich und südlich davon weht es kräftig, gelegentlich sogar sehr kräftig.

Von diesen Rossbreiten und Mallungen abgesehen kann es noch Spezialbedingungen geben. Das Windsystem der asiatischen See beispielsweise wird durch die russisch-sibirische Landmasse bestimmt. Im Sommer heizt sich das Land enorm auf, Temperaturen bis 45° C sind nicht ungewöhnlich. Warme Luft ist leicht und steigt auf. Leichte Luft bedeutet aber auch niedrigen Druck, es entsteht ein grandioses Tiefdruckgebiet, das wie ein überdimensionaler Staubsauger die Luft aus anderen Gegenden mit Macht anzieht. Heftige bis stürmische Winde gehen dabei vom Indik auf das Festland, es herrscht der Südwestmonsun, der auf dem Indischen Ozean Wellen aufwirft, die einen Vergleich mit dem Nordatlantik nicht zu scheuen brauchen.

Im Winter jedoch wird es auf der riesigen Landmasse extrem kalt. Die Luft ist kalt, damit schwer und es etabliert sich ein so genanntes „Kältehoch“. Dieses Hoch wirkt nun umgekehrt zum Sommer wie ein gigantisches Gebläse und schickt starke Winde vom Land auf die See, was im Indik als Nordostmonsun bezeichnet wird.

Im Kleinen kann dies jeder Badegast auch bei uns an der Nordsee erfahren. An schönen heißen und eigentlich windfreien Sommertagen heizt sich das Land schneller auf als die See, die Luft steigt auf, es entsteht ein Mini-Tiefdruckgebiet und wir haben auflandigen Wind. In der Nacht jedoch kühlt das Land schneller ab als das Wasser, die Druckverteilung kehrt sich um und der Wind weht „ablandig“, also vom Land aufs Meer. Das sind minimale Monsunerscheinungen. Am Morgen und am Abend haben wir dagegen windstille Bedingungen, weil alle Druckunterschiede über Nacht abgebaut wurden.

Ähnlich ist es im asiatischen Raum zwischen den beiden eben beschriebenen Jahreszeiten, denn die Druckdifferenzen sind in diesen Monaten sehr gering, sodass es in diesen „Intermonsunzeiten“ kaum Wind und praktisch spiegelglatte See gibt. Und genau in dieser Situation befanden wir uns, wir steckten mit unserer „Meteor“ in einer jener drucklosen Perioden zwischen den Monsunen, die die atmosphärischen Bewegungen zum Erliegen brachten.

Aber endlich kam dann der sechste Tag, der der Agonie mit einem dramatischen Kontrapunkt ein Ende setzen sollte. Als wir morgens aus den Kojen stiegen, empfingen uns an Deck nicht die heißen Strahlen der bereits aufgegangenen Sonne, sondern ein schwer und tief bewölkter Himmel. Dichte, graubraune Wolkenmassen standen reglos am Himmel, denn kein Wind schob sie weiter. Das Meer war nicht mehr blau, sondern spiegelte die vornehmlich braunen Töne der Wolken wider, die ganze Umgebung entsprach durchaus nicht den landläufigen Vorstellungen eines tropischen Ozeans. Wenn ich das Foto, das ich an diesem Morgen gemacht habe, jemandem zeige, so tippt er vielleicht auf die Nord- oder Ostsee, aber niemals auf den Indischen Ozean.

In dieser feuchtwarmen, trüben Suppe begannen wir unsere Arbeiten. Fast genau um 10 Uhr am Vormittag plötzlich ein einziger Donnerschlag im Himmel, der alle zusammenzucken und nach oben schauen ließ. Das Donnergrollen lief über den ganzen Himmel, schwoll an, schwoll ab und verging. Niemand hatte einen Blitz gesehen, aber das Krachen war auch im Schiffsinneren nicht zu überhören gewesen.

Wenige Sekunden nach diesem Paukenschlag begann der Wind zu wehen. In rasender Eile nahm die Windgeschwindigkeit zu und innerhalb von wenigen Minuten hatten wir volle Sturmstärke. Dann kam der Regen. Heftig, dicht, vom Sturm derart über die Decks und die See gepeitscht, dass er in Schleiern über das Meer raste und die Wasseroberfläche in einen weißen, blasenwerfenden, scheinbar kochenden Ozean verwandelte. Wer sich darum kümmern konnte, sprang schnellstmöglich unter Deck und schloss die Bullaugen, in die es heftig hineinregnete. Als das Inferno begann, war ich gerade dabei, das Planktonnetz in das Wasser zu lassen. Es wurde durch den Wind weit nach Lee gedrückt, nur mit viel Mühe bekamen wir es wieder an die Bordwand und fierten es ins Wasser. Ich selbst war innerhalb weniger Sekunden bis auf die Haut durchnässt. Aber ich habe es genossen! Was für eine Erfrischung nach diesen elenden Tagen in Schweiß und Hitze!

Es stürmte weiter und es regnete wie aus Waschkübeln. Die Fernsicht ging drastisch herunter, „Meteor“ verschwand in einer Mischung aus Sturm und den wahrscheinlich dichtesten Regenschwaden, die ich jemals gesehen habe, einem weißen Nebel, in dem wir meinten, nur 30 m weit blicken zu können. Als meine Netze wieder an Bord sollten, die gleichen Schwierigkeiten wie beim Aussetzen. Während des Fanges war ich an Deck geblieben, ich war sowieso nass und diese unfreiwillige Dusche war mir sehr angenehm. Mit der Zeit stellte sich dann aber trotz des warmen Sturmes ein leichtes Frösteln bei mir ein und ich verschwand, mich trockenzulegen.

Anschließend stand ich mit ein paar Kollegen an der geöffneten Labortür und schaute von trockenem Standort in den noch immer anhaltenden sturmgepeitschten Wasserfall. Die Wassermassen schossen in dickem Strahl durch die Speigatten, die Ablaufrinnen der oberen Decks schafften es nicht, diese Berge von Regen wegzuschaffen und so trat das Wasser über die Deckkanten und ergoss sich in breiten Vorhängen von den oberen Plattformen. Ich hatte schon viel über die gewaltigen tropischen Regengüsse gehört und gelesen, aber dies übertraf meine Erwartungen bei weitem.

Wir unterhielten uns so nebenbei, welche Chancen ein altes Segelschiff in diesem Wetter gehabt hätte. Typischerweise wurden bei Flauten alle Segel gesetzt, um auch noch den kleinsten Windhauch auszunutzen. Verheerend, wenn dann innerhalb weniger Minuten volle Sturmstärke erreicht ist. Das Schiff legt sich weit nach Lee über, die erste Rahnock kommt an den Wasserspiegel. Die Männer entern in Windeseile auf und bergen an Segeln, was Hände und Füße packen und bewältigen können. Wird es gut gehen? Wir können es nicht wissen.

Im Atlantik, vor dem südlichen Südamerika, gibt es einen ähnlich plötzlich einsetzenden Sturm, den Pampero, der sofort mit voller Macht vom Festland bläst. Verluste, Beinaheverluste, mit Glück und Geschick gemeisterte Vorfälle sind gut dokumentiert. Es kam wohl darauf an, die leisesten Anzeichen des Herannahenden Sturmes wahrzunehmen und sofort und konsequent zu handeln. Dann hatte man den rettenden Vorsprung zumindest einen kleinen Teil der Segel bereits geborgen zu haben bevor der Wind über das Schiff herfiel. Jede Rah, die vor Einsetzen des Sturmes frei war, erhöhte die Überlebenschance drastisch. Wer die Situation nicht erkannte oder unentschlossen zögerte, ging unter. Hier im Indischen Ozean dürfte es vielleicht ähnlich gewesen sein. Möglicherweise wusste der erfahrene Kapitän bereits beim Anblick des nach derartig heißen Flautentagen drohend bewölkten Himmels, was kommen würde. Den anderen musste Gott beistehen.

Nach knapp zwei Stunden hörten Sturm und Regen genau so plötzlich wieder auf, wie sie begonnen hatten. Wie abgeschaltet. Aber auch die atmosphärischen Spannungen waren abgebaut. Im Laufe des Tages verschwanden die Wolken, die Sonne kam durch, ein moderater Wind erhob sich, kräuselte die zwischenzeitlich wieder ruhig gewordene Meeresfläche und begann, die ersten Wellen zu formen. Der Spuk war vorbei, der Indik kehrte wieder in seinen wohlbekannten Rhythmus zurück. Das Leben ging weiter.

Das Meer und das Leben

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