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Ein Junge

I.

Ein Junge kämpft sich durch die Dünen. Sturm bläst. Das Dünengras wird gepeitscht und gezaust, der Wind treibt den losen Sand vor sich her und verwandelt den Dünengürtel in ein Sandstrahlgebläse. Der Junge muss gegen den Wind an, stolpert vorwärts. Der Sand schlägt ins Gesicht und in die Augen. Wie ein Ritter klappt der Junge das Visier runter und zieht die Pudelmütze über das Gesicht. Durch die Maschen kann er ausreichend sehen und ist leidlich gegen den Flugsand geschützt.

Er will zum Meer, zum Strand. Es ist sein erster Herbst auf der Insel und er will das Meer bei Sturm sehen. Von weitem hört er bereits das Donnern der Brandung, eine unheimliche Geräuschkulisse. An- und abschwellendes Dröhnen gemischt mit dem scharfen Zischen des Windes. Er erklimmt den letzten Dünenzug und sieht das Meer.

Graue Wellenberge ziehen gegen den Strand, schaumbedeckt, Gischt spritzend, ein Chaos. Die Wogen steilen zu grauen Mauern auf und brechen dann über – überall Schaum und Gischt. Die Wasserwalze wirft sich auf den Strand. Welchen Strand? Es gibt ihn nicht mehr, nur eine wirre Wasserwelt ohne Struktur und Ordnung. Regelmäßig an- und abschwellend, je nachdem wie die Wellen auflaufen. Der Junge legt sich nieder, schaut und schaut und schaut. Das Bild prägt sich ein.

II.

Ein Junge ist zusammen mit Kumpels nachts aus dem Internat entwichen. Aus den unteren Fenstern. Nun sind sie am Strand. Es ist um Mittsommer.

Das Meer liegt völlig ruhig. Das Wetter war heute schön, ein klarer, sichtiger Tag. Jetzt ist Nacht, aber es wird nicht richtig dunkel, ja gegen Norden ist am Horizont ein deutlicher heller Schein zu sehen. Alles in Blau gehalten. Der Junge ahnt, dass es im Norden heller wird, er hatte da mal etwas gehört. Es ist völlig still, nur ab und zu der scharfe Pfiff des Austernfischers.

Als sie sich dem Wasser nähern, beginnen auf einmal die Fußabdrücke zu leuchten. Sie ziehen mit einem Stock eine Furche in den Sand und bekommen einen leuchtenden Strich. Mit den Händen graben sie ein Loch und haben leuchtende Finger, jedenfalls kurzzeitig.

„Meeresleuchten“ sagt einer. Sie sind beeindruckt. Von dem Meeresleuchten, der Mittsommerhelle und der Stille.

III.

Ein Junge bricht durch die Eisschicht und steht bis zu den Knöcheln im eiskalten Wasser. Es ist ein Eiswinter und Schollen treiben in der See. Das Watt im Rückraum der Insel ist komplett mit Eis bedeckt. Seit Tagen völlige Windstille und Sonnenschein. Der seeseitige flache Rand des Meeres hat eine oberflächliche Eiskruste gebildet, die sich mit Sand überzogen hat. Dort ist er eingebrochen.

Nun versucht er zurückzukommen, bricht immer wieder ein, aber Füße können nur einmal nass werden. In einigen Tagen wird das Eis das im Watt liegende Versorgungskabel vom Festland zerstören und die Insel wird keinen Strom mehr haben. Keine Heizung, keine warmen Mahlzeiten. Die Häuser werden sich mit der gleichen etwa einen Zentimeter dicken Eisschicht überziehen, die die Bäume und Sträucher jetzt schon tragen.

Der Junge und seine Kameraden werden sich über die ausfallende Schule freuen, draußen das Eis bewundern und dann mit offenen Mündern zusehen, wie die Bundeswehr nach drei Tagen mit Hubschraubern kommt. Eine Luftbrücke. Sie bringen Decken, Material aller Art und - Gulaschkanonen!

IV.

Ein Junge ist größer geworden und sitzt in seinem Zimmer vor einem gewaltigen Becherglas aus dem Chemieraum. In dem Glas schwimmen drei, vier zarte, kugelförmige und völlig transparente Rippenquallen. Seestachelbeeren, genauer Pleurobrachia pileus.

Der Junge ist fasziniert von der Eleganz der Tiere. Wie sie in gebogenen Bahnen durch das Glas manövrieren, gegen das Glas stoßen, rückwärts setzen und auf neuer Bahn ihren Weg fortsetzen. Sie entfalten die Tentakeln, zwei lange Fäden, die noch feinere Fäden tragen. Das gelingt nur halb, denn das Glas ist dafür etwas zu klein. Acht Reihen aus verklebten Wimperplättchen, die namengebenden „Rippen“, treiben die Tiere vorwärts und irisieren im Sonnenlicht in allen Regenbogenfarben.

Die Biologielehrerin hatte ihn aufgeklärt, was das für Tiere sind, die er vor ein paar Tagen noch leidlich lebend am Strand gefunden hatte. Sie hatte ihm aber nicht gesagt, wie sich die Tiere bewegen. Dies sollte er an frischeren Tieren selbst herausfinden und aufschreiben.

Es wird ihm das erste Mal die beste Note im Fach Biologie einbringen. Eine Vision steigt in dem Jungen auf: Du willst Meeresforscher werden. Und er ahnt dabei in keiner Weise, dass er zehn Jahre später genau über diese Tiere seine Diplomarbeit schreiben wird.

Das Meer und das Leben

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