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Kapitel 6: Peter Baaks begab sich in den Speisewagen

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Als Peter Baaks den Speisewagen betrat, war dieser voller Menschen. Es war laut, es roch nach schlechtem Essen, verbrauchter Luft und dieser gewissen geistigen Enge. Die Ather-schwingungen dieses Raumes behagten ihm nicht, es ekelte ihn eher an und Baaks wollte sofort umkehren, zurück in die Abgeschiedenheit und Ruhe seines Zugabteils. Aber plötzlich sah er die Kellnerin, und es war ihm unmöglich, diesen Ort zu verlassen. Baaks suchte nach einem freien Platz, aber er konnte keinen finden. Er stand eine Weile mitten im Speisewagen. Blicke waren auf ihn gerichtet, die er so nie gewollt hatte. Aber er konnte nicht gehen. Die Kellnerin ließ es nicht zu. Er musste in ihrer Nähe bleiben. Nach langen acht Minuten wurde ein kleiner Tisch frei und Baaks setzte sich.

Er sah in die Speisekarte, die auf dem Tisch lag, und er wartete. Er wartete, bis die Kellnerin zu ihm kam. Sie lächelte ihn an und Baaks lächelte zurück und seit langem fühlte er wieder seinen Herzschlag. Er bestellte einen kleinen Espresso, dazu ein Glas stilles Wasser. Ihre Frage, ob er etwas essen wolle, verneinte Baaks. Da stünde nichts auf der Karte, was ihm behagen würde. Die Kellnerin ging. Es dauerte fünf Minuten und sie kam mit einem silbernen Tablett zurück, auf dem die Espressotasse stand und daneben das Glas mit stillem Wasser. Sie stellte das Tablett auf seinem Tisch ab. Sie lächelte und Baaks lächelte schüchtern zurück. Sie ging. Sie ging fort von ihm und Baaks blickte ihr nach. Und in seinem Blick lag die gesamte Klaviatur seiner Gefühle und er war überwältigt davon, dass er noch die Fähigkeit besaß, diese zu spüren. Auf dem hellbraunen Zuckertütchen stand in Handschrift geschrieben, dass der Tod der einzige Unsterbliche sei. Das sei sehr ungewöhnlich für eine Werbung auf einem Zuckertütchen, dachte Baaks. Oder hatte sie das geschrieben? Für ihn? Und wieder beobachtete er, wie die Kellnerin die Bestellungen aufnahm, wie sie die Getränke und Speisen servierte. Er sah die geilen Blicke der Männer und Frauen, die auf die schöne Kellnerin gerichtet waren, und Baaks war eifersüchtig auf diese Blicke und er dachte, dass nur er diese Frau anschauen dürfe, dass sie nur für ihn da sei. Sie ähnelte ein wenig einer Schauspielerin, deren Namen ihm nicht einfiel. Aber die Filmszene, in der diese Schauspielerin vorkam, war ihm vor Augen. Sie stand am Abgrund einer Schlucht und flüsterte einem Mann zu:

„Wollen wir sterben oder ficken?“

Baaks öffnete das Zuckertütchen, das er noch in seiner Hand hielt. Er gab das fein gemahlene Weiß auf seinen Löffel. Wie durch eine Sanduhr ließ Baaks den Zucker nun auf die schwarze Oberfläche rieseln, bis auf ihr ein kleiner Zuckerberg entstanden war, der bald versank und sich löste tief unten im Schwarz. Jetzt erst wurde Baaks wieder bewusst, dass er sich in diesem Speisewagen aufhielt, mit diesen vielen Stimmen, die alle durcheinander durch den Raum schwirrten. Dieser Ort hier kam ihm vor wie ein tausendköpfiger Drachen, der mit

1.000 falschen Zungen sprach. Warum gaben sich die Gäste hier alle so aufgeregt, so überwichtig, und Baaks beschlich ein Gefühl, als wären diese Menschen in Wirklichkeit alle die Gefangenen ihrer selbst, in selbst gebauten Käfigen, in die sie sich im Laufe ihres Lebens eingesperrt hatten. Auch die Luft, die verbrauchte, abgestandene, machte ihm wieder zu schaffen wie schon am Anfang, als er den Speisewagen betreten hatte. Die Gäste hier schienen blind für die eigentlichen Fragen ihres Lebens und Baaks dachte, dass für diese Menschen hier diese

Blindheit auch noch normal sei. Waren sie hier nicht alle Opportunisten aus Überzeugung, humorlos, farblos, Menschen, die immer alles verachteten, was aus ihrem engen Käfigrahmen herausfiel. Baaks nahm einen nächsten Schluck aus seiner Espressotasse und schaute auf seine Uhr. Wann käme die Kellnerin zurück, zurück zu ihm? Wann würde sie ihn von hier erlösen? Sein Blick schweifte unruhig durch den Saal. Er suchte die Kellnerin, ihr Lächeln, ihre Schönheit, ihre Kraft. Aber Baaks konnte sie im Moment nicht finden. Und Baaks Gedanken holten ihn wieder ein.

Ob das hier wohl ein Speisewagen oder der Wartesaal des Todes war? Alle spielten sich das gleiche überfreundliche Theater vor, insgeheim aber verachteten sie sich selbst und jeder verachtete den anderen. Jede Regung hier wurde vom Nutzen und von der Gier bestimmt. Jeder in diesem Speisesaal war das Opfer und der Täter seiner Umstände. Der eine ungeliebt, der andere unglücklich verliebt, der dritte ein verwöhntes Kind. Wieder andere fielen wie Sklaven ihrer Triebe übereinander her. Keiner hatte gelernt, in Gelassenheit Ausschau nach dem anderen zu halten. Die flächendeckende Sucht nach dem Geliebtwerden, nach der Umarmung des Erfolgs schwebte durch den Raum. Alle waren klatsch- und geldsüchtig! Und süchtig danach, sich ständig mit den anderen zu vergleichen. Die viel zu trockene Luft bestand aus Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff und Neid. Neidorgien. Schwarmhysterie. Jeder hegte den heimlichen Wunsch, der andere möge scheitern. Unstillbarer Hunger im Speisesaal nach Anerkennung, nach Ruhm, nach Zugehörigkeit, nach sozialem Aufstieg, nach unendlicher Vergrößerung. Kein Durchatmen. Gespräche, Drachengespräche, die einfach nicht verwehten.

„Du bist mir schuldig, was ich brauche! Du bist schuld an meiner Langeweile! Du bist schuld an meiner Unzufriedenheit! Die ganze Welt ist schuld an meinem Unglück!“, tönte es durch die Sphäre des Raumes. Andere Gäste wirkten so seltsam verschlossen in ihren Körpern, dass Baaks hätte nachfragen wollen:

„Hallo, ist da jemand zu Hause?“

Die meisten in diesem Speisesaal hatten die Hälfte ihres Lebens hinter sich und ahnten, dass sie einen großen Teil davon verschwendet hatten, und weil sie nichts Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen wussten, schienen die hier Anwesenden ihre Lebenszeit nur herumkriegen zu wollen, und das möglichst nicht allein, sondern in beliebiger Gesellschaft.

In Wirklichkeit aber hatten die Gäste in diesem Speisewagen eine panische Angst vor ihrer Wegdenkbarkeit. Auch waren sie voller Ängste davor, die Geborgenheit und Ordnung ihrer falschen Gewohnheiten zu verlieren. Sie waren Erschlagene von der Überfülle sinnloser Produkte, reduziert auf graues Mittelmaß, abgerichtet zu tumben Konsumenten. Ihr Leben war zu einer trockenen Pflichtveranstaltung verkommen, farblos, ohne Lieder. In einem solchen Dämmerzustand könne kein Land mehr tanzen, dachte Baaks. In Wirklichkeit sehnten sie sich nach dem Tier, dem Abenteuer, dem Chaos, dem Unerwarteten, nach der Liebe. Und sie sehnten sich nach dem Erlöser, der sie aus ihren Käfigen befreien möge. Baaks schaute in die Runde und dachte, wer sich ständig in dieser Art von Gesellschaft aufhielt, der könne eigentlich nicht authentisch sein, da die ganze Scheiße der anderen ständig auf ihn abfärbte.

Baaks fragte sich gerade, ob er nicht selbst schon zu einer dieser ekelhaften, zynischen und übersättigten Figuren geworden war, als plötzlich die Kellnerin wieder vor ihm stand und seine Gedanken unterbrach. Wieder lächelte sie ihn an und legte ihm gleichzeitig die Rechnung auf seinen Tisch. Baaks zahlte.

„Ich will Ihnen nicht zu nahe treten“, sagte Baaks schüchtern, „aber ich würde gerne wissen, wie Ihr Name ist?“ „Treten Sie mir ruhig zu nahe“, antwortete die Kellnerin. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu:

„Johanna, ich heiße Johanna! Auf Wiedersehen, Mr. Baaks.“ Sie ging und verschwand im hinteren Teil des Speisewagens. Baaks war verblüfft. Ihre Schönheit überwältigte ihn. Und klang „Treten Sie mir ruhig zu nahe“ nicht genau so, wie in jenen Szenen, in der diese Schauspielerin, deren Namen Baaks noch immer nicht eingefallen war, flüsterte:

„Wollen wir sterben oder ficken?“

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