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Kapitel 8: Peter Baaks beerdigte seine Mutter

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Als Peter Baaks 21 Jahre alt war starb seine Mutter. Baaks war Schulversager, hatte keine Abschlüsse und alles, was er bis dahin wusste, hatte er erraten oder von seiner Mutter erfahren. Sein Vater lebte noch. Irgendwo. Baaks hatte kein Interesse an ihm. 99 Jahre alt sollte er sein, ein alter Hai, der längst die Orientierung im Meer verloren hatte. Sie waren sich nie nähergekommen, waren sich zeitlebens immer Fremde geblieben.

Am Tag, als Baaks Mutter beerdigt wurde, stand er allein am Grab und sprach mit ihr:

„Mutter, dir habe ich es zu verdanken, dass meine kleine Persönlichkeit nicht vom ersten Tag an erstickt wurde. Durch deine liebevolle, aber auch strenge Zuneigung ist es meinen Schulen nicht gelungen, mich zum angstgepflasterten Mittelmaß abzurichten. Du hattest mir immer gesagt, ich solle mich nie damit abfinden, nur ein Hamster zu werden, dazu bestimmt, das Hamsterrad im Hamstersystem einfach weiterzudrehen. Du bist mit deinen weißen Boxhandschuhen in meine Schule gegangen und hast meinen Lehrern Schläge ins Gesicht versetzt und ihnen zugerufen, dass sie sofort aufhören sollten, mich zu einem traurigen, unsichtbaren und austauschbaren Konsumenten zu machen. Mutter, du hast mit deiner direkten und spontanen Art mein Leben so reich an wundersamen Eindrücken gemacht. Jede Woche kamst du singend mit einer anderen Frisur und Haarfarbe nach Hause. Du hattest ständig Launen und Stimmungen, du hattest furchtbare Depressionen, und ich war für die Harmonie zuständig. Ich habe mein ganzes Leben versucht deine Launen und hysterischen Anfälle auszuhalten und sie auszugleichen, denn wenn mir das misslang, gab es keine Liebe.

Aber ohne deine Liebe war ich verloren.

Du hast mir aber auch immer gezeigt, wie man im Leben Chancen und Möglichkeiten finden konnte. Du hast mir, wenn ich deine Ängste gelöst hatte, viele wunderbare Geschichten erzählt. Auch die von Kairos, dem griechischen Gott der Gelegenheit, der an seinem kahlen Kopf eine Locke auf der Stirn trägt, da müsste ich ihn packen, sonst ginge er vorüber. Ich müsse lernen etwas aus meinen Möglichkeiten zu machen, denn Möglichkeiten oder Gelegenheiten im Leben zu haben, sei das größte Geschenk, das es gäbe. Mutter, du hast nie aufgehört, an meine Begabungen zu glauben. Und du hast nie aufgehört, mich zu quälen und zu erpressen. Ungerechte Vorwürfe hast du mir oft entgegengeschleudert, auf der anderen Seite hast du mir gezeigt, wie ich aus Sonnenenergie Lebenslust gewinnen kann. Ich solle immer meinem Instinkt und meiner Intuition vertrauen, sagtest du mir. Du hast die interessantesten Bücher gelesen, immer mit der Zigarette zwischen deinen Fingern, und mir von dem US-Neurologen Daniel Levitin erzählt, der über diese 10.000-Stunden-Regel geschrieben hat, die besagte, dass man mindestens 10.000 Stunden lang üben müsse, bevor man eine komplexe Aufgabe bewältigen könne. 10.000 Stunden, bestehend aus Fleiß, Disziplin und Ausdauer. Du wüsstest, sagtest du zu mir und streicheltest dabei meine Stirn, so lange zu üben sei schwer. Es bräuchte nicht nur meine Geduld, sondern auch die Geduld derer, die mit mir übten. Und deshalb bedürfe es der Unterstützung einfühlsamer Menschen um mich herum. Ein lernendes, neugieriges Kind brauche ständig Feedback. Aber eine einsame Mutter brauche auch ständig Feedback vom einzigen Sohn. Ich bräuchte kluge Zeugen meines Tuns, kluge Zeugen meines Daseins. Und immer wieder müssten meine Lehrer liebevoll und aufmerksam Konzentration einfordern, bis die Konzentration zu meiner Konzentration geworden sei. Zur Menschwerdung reiche das Vermögen eines einzelnen Gehirns nicht aus. Das Gehirn sei das Organ, mit dem wir uns in der Welt orientierten, uns unseren Platz suchten. Nur dieses Gehirn werde eben erst im Kontakt mit der Welt geformt. Mit ihr bekomme es seine Inhalte. Und mein Gehirn werde sich so entwickeln, wie ich es zu benutzen gelernt habe. Das Gehirn sei ein Muskel, und man müsse viel Glück haben, um guten Trainern zu begegnen. Und wenn wir begeistert seien, würde das Gehirn am meisten erblühen. Entscheidend sei gewesen, dass die Gehirne in direkten Kontakt zueinander getreten seien. In dem Moment, wo es den Urmenschen gelungen sei, den Inhalt ihrer Gedanken miteinander zu teilen, war an die Stelle des einzelnen Denkens der Intellekt des Kollektivs getreten. ,Ohne diese Vernetzung der Gehirne wäre keine der großen menschlichen Leistungen möglich gewesen, mein Sohn. Wir sind alle immer die Nutznießer vom dem, was vor uns schon da war. Nur weil du auf den Schultern von Riesen standest, war es dir möglich zu entdecken, was du für dein Leben brauchtest. Ohne Austausch mit den Mitmenschen hätten Pythagoras, Newton, Darwin und Einstein nicht einmal das Einmaleins beherrscht. Ohne liebevollen Kontakt und Zuspruch der Artgenossen wäre ein Menschenkind überhaupt nicht lebensfähig. Geist und Körper würden verkümmern, Handwerkskunst, Algebra, Poesie, Musik, Architektur, all das wäre ohne diese Hilfe gar nicht möglich. Ich werde es nicht hinnehmen, mein Sohn, dass du diese dümmlichen Anschläge deiner Lehrer auf dein Gehirn weiter ertragen musst. Auch die psychischen Anschläge deiner Mutter werden dich für den Rest deines Lebens schwächen. Dieses Anfüllen mit Schwachsinn, Schuldgefühlen und Ängsten verwandeln das Gehirn in einen gelben Brei. An nachwachsenden Talenten fehlt es nie, sondern immer nur an guten, gesunden Gehirnen, die die Kinder gut ins Leben führen. Mit deiner Geburt, mein Junge, brachte ich deinen Körper zur Welt, an deiner Person aber haben wir alle herumgepfuscht, und deinen brennenden Wirrkopf haben wir erst im Laufe deines Lebens erschaffen.‘ Mutter“, sagte Baaks weiter am Grab, „noch bis ins hohe Alter hast du Reisen unternommen, mir Postkarten geschrieben, die ich alle im Laufe der Jahre gesammelt habe.“

Baaks zog am Grab eine der Postkarten aus seiner Jackentasche und las:

„Mein Junge, die Zeit erniedrigt mich, indem sie mir das Alter beschert. Ich muss häufig an Heinrich von Kleist denken, der schrieb: ,Lieber Staub als ein Weib sein, das nicht reizt!‘ Nein, mein Junge, verstehe mich nicht falsch, ich will nicht im Mittelpunkt der Hysterien und Depressionen der Frauen stehen, die nicht älter werden können! Das Bistro hier an der Riviera ist fast menschenleer. Der Kellner ist gerade mal 23 und steht leider nicht auf der Speisekarte.“

Baaks redete weiter mit seiner toten Mutter, mit der er in jungen Jahren Reisen unternommen hatte, auf denen sie Geräusche gesammelt hatten, die sie, wieder zu Hause angekommen, in Musik verwandelten.

„Mutter, du hast mich immer in deine Gebete eingeschlossen, ich solle meine Gefühle beobachten, meine Empfindungen und Gedanken, ich solle sie zur Kenntnis nehmen, ohne sie zu bewerten. Und wenn sich Gedanken in meinen Kopf einschleichen sollten, zum Beispiel, dass ich ein Versager sei, zu nichts nütze, dann solle ich einfach vor diesen Gedanken zurücktreten, sie in den Müll werfen, sie aber nicht bewerten.

Ich solle diese Gefühle vorüberziehen lassen wie dunkle Wolken. Täte ich das nicht, dann würde ich mich mein ganzes Leben lang zum Sklaven dieses ständigen Auf und Ab meiner Stimmungen machen.“

Peter Baaks warf am Tage ihrer Beerdigung 80 weiße Rosen auf den Sarg seiner Mutter, eine für jedes Lebensjahr. Auf ihrem Grabstein stand: „Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir. (Rilke)“ Auf dem Grabstein nebenan war zu lesen: „Nicht entgehet dem Tode, wer der Geburt nicht entgangen ist.“

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