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Kapitel 9: Peter Baaks arbeitete als Friedhofsgärtner

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Peter Baaks liebte diesen alten, zugewachsenen Friedhof mit seinen alten, dickstämmigen und mächtigen Weiden, Birken, Eschen und Kastanien, auf dem seine Mutter nun ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Er mochte diese Natur, diese Ruhe hier so sehr, dass er sich als Friedhofsgärtner bewarb und diesen Job auch bekam. So war er seiner geliebten Mutter nahe und konnte sich auch noch jederzeit um ihr Grab kümmern. Und Peter Baaks konnte mit ihr sprechen. Mehr als vier Jahre seines Lebens hatte Baaks hier gearbeitet und sich allerlei Wissen über Wesen und Beschaffenheit eines Friedhofs angeeignet. Er werde aber bald mit seiner Arbeit hier aufhören, da dieser Friedhof verwesungsmüde geworden sei, sagte er der Frau, die jeden Tag hierherkam, um das Grab ihres vor einigen Wochen verstorbenen Mannes zu gießen.

„Verwesungsmüde?“, wiederholte sie.

Das sage man über alte Friedhöfe, die nicht mehr nutzbar seien, gesättigt mit Toten, die keinen Hunger mehr auf menschliche Proteine hätten, die als Gottesacker überdüngt seien. Was das für ihren verstorbenen Mann bedeuten würde, den sie erst vor kurzem hier zu Grabe getragen hätte, wollte die Frau ganz aufgeregt von Baaks wissen. Bei ihm ginge die Reise eben langsamer zurück in die atomare Geheimgesellschaft der kleinen, kleinsten Teilchen, antworte Baaks. Die Erde hier nehme eben langsamer wieder auf, was sie hervorgebracht habe, es würde eben dauern, bis ihr Mann in den Ramschladen der Schöpfung zurückgenommen werden würde. Während seiner Zeit als Friedhofsgärtner habe Baaks hier das absolute Wissen bekommen, das Wissen, dass nach unserem Tod nichts mehr übrig bliebe. Keine Jungfrauen, die man ewig ficken könne. Nichts. Einfach gar nichts. Die Frau schaute Baaks erstaunt an.

Der menschliche Tod spiele sich heute mehr in der Luft und im Wasser ab als unter der Erde. Das sei auch der Grund, warum sich die Menschen heute lieber verbrennen ließen, das hätten sie bei ihren Asienreisen gesehen und die Hinterbliebenen verstreuten den Rest an Kohlenstoff im Wind oder im Meer. Zudem sei diese Methode auch billiger, fügte Baaks hinzu, denn seit 2004 gäbe es auch kein Sterbegeld mehr.

Hier auf diesem Friedhof bräuchte niemand mehr einen Friedhofsgärtner. Die Erde sei einfach zu müde, um ständig diese vielen Toten zu fressen. Wo viel Leben sei, sei eben auch viel Tod. Im Übrigen hätte Baaks eingesehen, dass das Verbrennen von verstorbenen Körpern das Beste ist: nach dem Ableben einfach keine Spur, kein Ort, kein Grab. Einfach nichts hinterlassen. Baaks lächelte die Frau an und fügte hinzu, dass für ihn das Leben nichts anderes sei, als eine lustvolle und atemberaubende Reise aus dem Nichts ins Nichts zum Nichts. Er habe erkannt, dass unsere Körper nichts anderes seien als ein bizarrer Betriebsunfall der Evolution, die zu 100 Prozent aus Zeit und zu 80 Prozent aus Wasser bestünde. Lebenszeit sei gleichzeitig auch immer Sterbenszeit, zu leben beginnen hieße auch immer zu sterben beginnen, und nur dieses Wissen sei es, das unser Tun und unser Dasein auf dieser Welt so kostbar mache, das uns auffordere, so viel wie möglich unserer Zeit in der Gegenwart zu verbringen. Der Tod begleite das Leben wie der Schatten das Licht. Der Tod sei ebenso wie die Geburt ein Geheimnis der Natur, hier Verbindung, dort Auflösung derselben Grundstoffe. Die Geburt aber bringe nur ein schlagendes Herz zur Welt, die Person, das Bewusstsein aber würde erst im Laufe des Lebens erschaffen. Wenn man jung sei wie er, würde man denken, dass der Tod einen nicht berühren könne, man denke, nur die anderen könne er treffen, als junger Mensch glaubte man, man sei unsterblich, aber irgendwann beginne es, dass man sich von Menschen trennen müsse, das gehöre zum Schwierigsten, aber jeder mache diese Zeit irgendwann in seinem Leben durch. Mit den wenigen Freunden, die noch blieben, täten wir uns zusammen und klammerten uns aneinander. Aber dann falle jedem von uns die Haut von den Knochen, der Krebs fresse das halbe Land auf, wir verwandelten uns in Leichen und versuchen wir auch uns festzuhalten so lange wie möglich, irgendwann müssen wir loslassen, egal wie sehr wir uns auch bemühen gut zu sein, am Ende seien wir isoliert, allein. Denn für jeden von uns stehe der Tag bereits bei unserer Zeugung fest. Kurz und unwiderruflich sei unser aller Zeit. Es sei das Beste, sich den Tod zu seinem Freund zu machen, denn nur dieses Wissen um die Kostbarkeit unserer gestundeten Zeit sei es, das uns den Mut gebe, zu handeln und zu wagen.

Und nicht weil es so schwer sei zu wagen, wagten wir nicht, sondern weil wir nicht wagten, sei es so schwer. Ständiges Klagen und Schuldzuweisungen seien vergeudete Lebenszeit. Für uns alle gebe es nur eine Zeit, in der es wesentlich sei aufzuwachen, und diese Zeit sei jetzt.

Bei den vielen Beerdigungen, die Baaks in seinen vier Jahren als Friedhofsgärtner miterleben konnte, beobachtete er, dass sich hinter jeder Trauer um einen Verstorbenen der heimliche Triumpf dessen verbarg, der überlebte. Auch sah er, dass häufig erst der Tod die verschlossenen Türen bei den Hinterbliebenen öffnete. So wie der Mensch aus einer Vielzahl von Elementen und Atomen bestehe, so bestehe er auch aus einer Vielzahl kleiner Geschichten. Der Mensch sei nun mal das Tier, das sich Geschichten erzähle, und jede Familie habe ihre eigene Geschichte und in jedem von uns sei ein tiefes Verlangen, seine eigene Geschichte zu erzählen, und die Vorstellung zu sterben, ohne seine Geschichte zu Ende erzählt zu haben, gebe uns das furchtbare Gefühl, niemals gelebt zu haben. Früher oder später erfinde sich jeder seine Geschichte, die er dann für sein Leben halte. Alles, was wir seien, entstehe aus unseren Geschichten und aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir unsere Welt. Ob Gott, Geist oder Dummheit, jede Art der Gedanken lebe nur durch den Menschen, rief Baaks, der auch junge Menschen auf dem Friedhof beobachtete, die ihm das Gefühl gaben, dass sie bereits in ihren jungen Jahren innerlich verstorben seien.

In jedem von uns stecke auch immer das Gegenteil unseres Selbst. Und wenn man sterbe, könne man seinen Besitz ohnehin nicht mitnehmen. Die alten Ägypter hätten das versucht. Sie hätten all ihren Besitz mit ins Grab genommen und gedacht, dass sie reich sein würden im Himmel. Aber sie wurden beraubt, und zwar nicht im Himmel, sondern hier auf Erden, das war alles. Man könne nichts mitnehmen. Nicht sein Geld, nicht sein Talent, nicht seine Liebe. Es gehe nur darum im Leben, den anderen so viel wie möglich von seinen Talenten und Möglichkeiten weiterzugeben. Es mache ihr Spaß, ihm zuzuhören, sagte die Frau, und sie fände es schade, dass Baaks diesen Friedhof als Gärtner verlasse. Ob er einen Sinn in seinem Leben sehe, fragte ihn die Frau. Er könne keinen Sinn sehen, antwortete Baaks nach einer kurzen Pause. Aber das, was er täte, zum Beispiel seine Arbeit hier auf dem Friedhof, das sei doch ein Sinn, antwortete die Frau. Seine Arbeit hier sei letztlich nur die Illusion eines Sinns, den er sich schaffe.

Er wolle sein Leben ohne Illusionen leben, alles andere wäre für ihn verschwendete Lebenszeit, und er habe nur ein Leben und das sei kurz. Er suche die Klarheit der Dinge und nur in ihr könne er sich und seine Ruhe finden. Illusionen, Glaube, Religionen, alles das seien nichts als Blähungen in den Köpfen der Menschen.

„Und Gott?“, fragte die Frau.

Der stehe immer dann vor der Tür, wenn das Denken aufhöre, antwortete Baaks.

Nachdem Peter Baaks den Friedhof verlassen hatte, war er nie wieder hierher zum Grab seiner Mutter zurückgekehrt.

Der Zug raste mit einer Geschwindigkeit von 240 km/h durch die Landschaft, der Junge war auch nicht mehr draußen auf dem Gang und Peter Baaks hatte das Gefühl, dass durch die Begegnung mit Johanna irgendetwas Neues in seinem Leben beginnen würde. Nur, was könnte das sein? Der Zug reduzierte seine Geschwindigkeit und er wurde so langsam, dass Baaks einzelne Schneeflocken, Rehe und Spaziergänger draußen erkennen konnte. Und immer wieder Schnee, der durch den fahrenden Zug aufgewirbelt wurde. Baaks überfiel eine Schwere und eine Müdigkeit, als hätte er eine Narkose bekommen. Sein Körper wurde schwer und etwas zog ihn nach unten und auf einem Straßenschild konnte er lesen: „Hier beginnen die Pfade der Erinnerung.“

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