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I. Einleitung 1. Das Spezifische dieses biographischen Vorhabens

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Dieses Buch ist nicht einfach zu schreiben. Die Schwierigkeit liegt nicht darin, dass der Gattung der Biographie für Personen aus der Zeit des Mittelalters besondere oder gar unüberwindliche Probleme entgegenstünden. Man hat für diesen Zeitraum längst erfolgreich erprobt, anstelle eines handelnden Subjekts, dessen Psychologie und persönliche Antriebe in den mittelalterlichen Jahrhunderten in aller Regel nicht erreichbar und darstellbar sind, die Spannung zu beschreiben und zu analysieren, die zwischen den allgemeinen Normen und Rahmenbedingungen von Leben, Religion und Politik und den individuellen Handlungen einer Person auftritt.1 So ist es durchaus möglich, ein individuelles Profil einer Person herauszuarbeiten und an ihren Worten und Taten zu zeigen, wie sie die Handlungsspielräume nutzte, die gesellschaftliche Normen und Regeln ließen, oder diese Spielräume sogar veränderte und erweiterte. Die betreffende Person muss nur in der Überlieferung genügend profiliert sein, was die Auswahl in aller Regel auf Angehörige der politischen und intellektuellen Führungsschichten einengt. Diese Profilierung in der Überlieferung ist im Falle Kaiser Heinrichs IV. ganz zweifelsohne gegeben, sogar in überreichem Maße.

Bei einer Biographie dieses Herrschers schiebt sich ein ganz anderes Problem in den Vordergrund. Man kann es als Problem der quasi kanonisierten Interpretationsmuster bezeichnen, die seit langem jede Behandlung dieses Königs und seiner konfliktreichen Regierungszeit bestimmen. Heinrich IV. hat nämlich seit dem 19. Jahrhundert in der deutschen Forschung so viele entschiedene Verteidiger und Apologeten gefunden, dass es schwer fällt, sich dem Sog dieser Lehren zu entziehen. Dies hing gewiss ursächlich damit zusammen, dass man ihn lange Zeit als den Verteidiger der Rechte einer starken Zentralgewalt porträtierte, der den übermächtigen Kräften der gregorianischen Papstkirche und den deutschen Fürsten gegenüberstand und in einem zähen und oftmals tragisch genannten Abwehrkampf gegen diese unterlag, wobei er aus dieser Sicht rettete, was zu retten war.

Angesichts seines Kampfes mit den „Totengräbern der Königsmacht“ rechtfertigte sich nahezu jeder Versuch einer Ehrenrettung dieses Königs sozusagen von selbst, da der Stolz und die Fixierung auf die starke Zentralgewalt geradezu den Angelpunkt des Mittelalterbildes der Deutschen im 19. Jahrhundert und in langen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts darstellte.2 Im mittelalterlichen Reich der Ottonen, Salier und Staufer sah man die Stellung des Reiches als führende Macht Europas verwirklicht, die im Spätmittelalter verloren ging und erst mit der Gründung des Nationalstaats im 19. Jahrhundert wieder errungen werden sollte. Und auch die aktuellen Fronten schienen im Mittelalter bereits vorgebildet: Die für die Königsmacht verderbliche Rolle von Kirche und Adel im 11. Jahrhundert spielten in der Gegenwart des 19. Jahrhunderts Ultramontane und Partikularisten. Da konnte es keinen Zweifel geben, wem Sympathie und Verständnis gebührte.

Als dieses nationale Geschichtsverständnis nach dem zweiten Weltkrieg und vor allem seit den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts in den Hintergrund trat, verlor auch Heinrich IV. ein gutes Stück seiner symbolischen Bedeutung als König an der tragischen „Wende des Mittelalters“, wie seine Zeit auf Grund des Canossa-Gangs gerne apostrophiert wurde.3 Dies führte aber nicht zu einer Neubewertung seiner Herrschaft, sondern eher dazu, sich anderen Themen zuzuwenden. So konnte es zu dem einigermaßen überraschenden Befund kommen, dass im Rahmen der wissenschaftlichen Bemühungen um die geistige Vorbereitung der Salier-Ausstellung in Speyer zwar drei Bände füllende Beiträge über „Die Salier und das Reich“ zusammenkamen, die Reflexionsstand und thematische Schwerpunkte des modernen Forschungsinteresses repräsentieren. Ein auf die Herrschaftsführung Heinrichs IV. und ihre Bewertung konzentrierter Beitrag war jedoch nicht darunter.4 Eine moderne biographische Darstellung dieses Herrschers hat sich daher immer noch mit der mächtigen Tradition der Apologie Heinrichs auseinander zu setzen; und dies gewiss vor allem dann, wenn sie andere Wege als die bisher eingeschlagenen gehen will, was hiermit ausdrücklich angekündigt sei.5

Es sei jedoch zunächst durch Wiedergabe von wenigen Stimmen aus verschiedenen Jahrhunderten versucht, einen Eindruck vom Tenor der Verteidigung Heinrichs zu vermitteln, wie er der älteren, aber auch noch der jüngeren Forschung eigen ist. Bereits Wilhelm von Giesebrecht widmete 1852 der Gesamtwürdigung dieses Herrschers unter der Überschrift „Heinrichs IV. Untergang“ ein längeres Kapitel mit vielen entschiedenen Wertungen, die lange die Leitmotive blieben: „Das Ziel, wohin Heinrich strebte, liegt offen vor. Die ererbte Macht herzustellen und neu zu befestigen, eine wahrhaft kaiserliche Gewalt, wie sie ihm vom Vater hinterlassen war, zu üben und seinem Sohne dereinst zu überliefern: darauf waren alle seine Gedanken gerichtet. Kein neues Recht hat er verlangt, aber jedes überkommene, welches seine Mutter und die Reichsverweser hatten ruhen lassen, rücksichtslos, sobald er selbst die Regierung ergriff, in Erinnerung gebracht und nach Kräften geübt, namentlich Rom und den deutschen Fürsten gegenüber. Eine vollständige Restauration des alten Kaisertums in seiner ganzen Machtfülle trotz der Verbreitung der neuen kirchlichen Ideen, trotz des gesteigerten Selbstbewusstseins der fürstlichen Herren sah er als die Aufgabe seines Lebens an. Ihre Lösung überstieg seine Kräfte; die neuen Mächte waren kräftiger als die Erinnerungen der alten Zeit.“6

Die gleichen Akzente finden sich in der 1909 erstmals erschienenen und dann vielfältig neu aufgelegten „Deutschen Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer“ von Karl Hampe. Er schloss seine positive Würdigung Heinrichs mit der Frage, „was er für Deutschland erstrebt und geleistet hat“, und kam zu dem Schluss: „so wird ihm doch auch da das historische Urteil die Anerkennung nicht versagen, dass er unermüdlich mit dem ganzen Einsatz seiner Person für die Rechte des Königtums und die Ehre des Reiches gekämpft hat.“ Und abschließend zog er die Summe: „So dürfen wir Heinrich zwar nicht nach seinen Erfolgen, wohl aber nach Talent und Streben den bedeutendsten deutschen Herrschern an die Seite stellen.“7 Es ist hochinteressant, wie Hampe nach dem ersten Weltkrieg in den 30er Jahren seine Wertungen modifizierte und vor allem um Akzente bereicherte, die in Heinrichs Leben das Schicksal des deutschen Volkes symbolisch verdichtet präfigurierten. Der zitierte letzte Satz wurde nämlich wie folgt erweitert: „So darf man Heinrich IV. zwar nicht nach seinen Erfolgen, wohl auch nicht nach seinen Charaktereigenschaften, die, verwickelt und widerspruchsvoll, sich nicht zu dem fortreißenden Wesen des wahren Helden zusammenfügen wollten und die staatsmännische Einsicht öfter durch Leidenschaften verdunkelten, wohl aber nach Talent und Streben den bedeutenderen Herrschern des deutschen Mittelalters an die Seite stellen. In seinem vom Unglück wie wenig andre heimgesuchten Leben hat sich ein gut Teil von dem Schicksalsgang des deutschen Volkes vollzogen.“ Und seine Frage, was Heinrich für Deutschland geleistet habe, ergänzte Hampe um die Bemerkung, dass „mit dessen Wohl sein eigenes Machtinteresse weitgehend zusammenfiel“.8

Keine grundsätzlich anderen Akzente als die bisher zitierten setzt auch die zusammenfassende Wertung, mit der 1979 Egon Boshof eine biographische Darstellung Heinrichs beschloss: „In der zähen Verteidigung der Königsrechte gegenüber der Reichskirche und den Partikulargewalten hat Heinrich IV. immerhin die Voraussetzung dafür geschaffen, daß der Episkopat auch nach Beendigung des Investiturstreits noch für fast ein Jahrhundert eine Stütze der Zentralgewalt darstellte und die Auflösung des Reiches in fürstliche Territorien aufgehalten wurde.“9 Bereits zuvor und dann auch danach hatte er Gründe für das Scheitern Heinrichs IV. mit viel Verständnis für den Salier dargeboten: „Er war von der besonderen Würde des Königtums zutiefst überzeugt und hat an dieser Überzeugung auch in den Stunden schmachvoller Erniedrigung festgehalten; er lebte im Bewußtsein der besonderen Berufung seiner Dynastie zur Herrschaft, und auch seine Gegner haben ihm königlichen Sinn und Eignung für sein schweres Amt nicht abgestritten – in der Übersteigerung dieser Auffassungen jedoch lag die eigentliche Gefährdung seines Daseins: seine autokratischen Neigungen reizten die Fürsten immer wieder zur Opposition, verschärften Konflikte und versperrten den Weg zu annehmbaren Lösungen; sein beleidigter Stolz trieb ihn bei seinem nicht von ihm allein verschuldeten, aber gleichwohl persönlich zu verantwortenden Zusammenstoß mit Gregor VII. zu einer maßlosen Reaktion, die eine Verständigung unmöglich machte.“10 Und an anderer Stelle: „Es gab viel Schatten im Leben dieses unglücklichsten aller mittelalterlichen deutschen Herrscher; die schwerste Enttäuschung bereiteten ihm seine beiden Söhne, die sich gegen ihn erhoben, obwohl er gerade auch für ihre Zukunft kämpfte.“11

Noch das letzte zusammenfassende Urteil über Heinrich IV. von Matthias Becher aus dem Jahre 2003 setzt im Wesentlichen die gleichen Akzente: „Vor allem zeichnete ihn eine bewundernswerte Zähigkeit aus, die ihm nach allen Rückschlägen und Niederlagen immer wieder die Kraft gab, sich erneut aufzurichten und den Kampf fortzusetzen. Dabei kam ihm wohl zustatten, daß er unerschütterlich an die Richtigkeit seiner Positionen glaubte, an sein angeborenes Herrschaftsrecht und an die Gottunmittelbarkeit seiner Stellung als König und als Kaiser. Freilich verführte ihn dieser Glaube in Momenten des Erfolgs auch zu Stolz und Hochmut, die das Erreichte bald wieder in Frage stellten. […] Fast zwangsläufig mußte er also scheitern, zumal das Reformpapsttum seit den Tagen Heinrichs III. an Kraft und Stabilität gewonnen hatte. Dessen Anspruch auf die Überlegenheit der geistlichen Gewalt hatte der Salier nur die Vorstellung von der traditionellen Herrschaft über die Kirche entgegenzusetzen, an die viele Zeitgenossen jedoch längst nicht mehr glaubten, weil ihre theoretische Fundierung letztlich nicht mehr zeitgemäß war. Immerhin räumte Heinrich nicht kampflos das Feld und sorgte so dafür, daß seine Nachfolger sich auch noch im 12. Jahrhundert auf die Reichskirche stützen konnten.“12

Solche Wertungen kann man als eine weithin herrschende Lehre noch in der modernen Forschung bezeichnen, auch wenn inzwischen durchaus Urteile abgegeben wurden, die Heinrich IV. mehr persönliches Versagen und vor allem persönliche Defizite attestieren, wie sie bei Hampe allenfalls anklangen. So hat Hagen Keller unterstrichen: „Voll Zorn und Schmerz registrierten die Zeitgenossen die Diskrepanz zwischen seinem Verhalten und den normsetzenden Vorbildern. Wenngleich der persönliche Charakter Heinrichs IV. in den Quellen deutlicher hervortritt als der seiner Vorgänger, wird seine Individualität doch nicht erkennbar, wo er als König erfolgreich wirkte, sondern dort, wo er sich nach dem Urteil der Chronisten unköniglich benahm oder wo er als Herrscher kurz vor dem Scheitern stand.“13 Mit diesem Hinweis wird auf ein zentrales Problem der Herrschaft Heinrichs aufmerksam gemacht: auf die immense Kritik, die Zeitgenossen an ihr übten. In der Tat waren die Zeitgenossen Heinrichs IV. erheblich weniger zurückhaltend in ihren Wertungen; sie lasteten dem König nicht nur politische Fehlgriffe in Fülle an, sondern notierten detailliert Taten, die man nicht als Charakterschwächen, sondern nur als Verbrechen bezeichnen kann, wenn sie denn wahr sind.

Eine Prüfung des Realitätsgehalts der vielen, alle Bereiche der herrscherlichen Amts- und Lebensführung betreffenden Vorwürfe ist bisher aber nicht geleistet, und es steht auch grundsätzlich in Frage, wie man erweisen will, ob diese Vorwürfe wahr oder aus der Luft gegriffen sind.

In neuerer Zeit hat sich vor allem Gerd Tellenbach mit der Frage beschäftigt, welche Aussagen über den „Charakter Heinrichs IV.“ möglich seien, und hat zu größter Zurückhaltung gegenüber den Vorwürfen geraten, die Zeitgenossen gegen Heinrichs Lebens- und Amtsführung erhoben: „Wenn Bruno in seinem Buch vom Sachsenkrieg konsequent und ausschließlich von Missetaten Heinrichs berichtet, nur von seiner Minderwertigkeit und verbrecherischen Art, nur von flagitia, nequitia, facinora, horribilis crudelitas, calliditas, luxuria, libido redet, gewinnen wir aus dem Bild eines solchen Monstrums kaum brauchbare Einsichten […]. Vor dem in der neueren Literatur häufigen Schluß, daß etwas doch wohl an den Beschuldigungen daran sein müsse, ist zu warnen. Ebenso gut kann vieles oder gar nichts stimmen. […] Das einzige, was aus allen diesen fatalen Geschichten mit Sicherheit hervorgeht, ist die auffallend gute Kenntnis sexueller Exzesse und Abartigkeiten bei jenen geistlichen Autoren, die sich darüber empörten, diese aber auch boshaft geschwätzig verbreiteten.“14

Es sind aber auffallend viele Zeitgenossen, und keineswegs nur Bruno, die diese Seiten Heinrichs IV. und seiner Herrschaft sehr stark in den Vordergrund gestellt und dabei wirklich kein Blatt vor den Mund genommen haben, möchte man angesichts solcher Urteile einwerfen. Überdies haben sie Heinrich ein breites Spektrum an Vorwürfen auf nahezu allen Gebieten seiner Herrschaftsführung gemacht und keineswegs nur Gerüchte über sexuelle Abartigkeiten kolportiert. Aber damit beginnt das Problem. Obgleich alle die Quellen und Einzelbelege, die Vorwürfe gegen Heinrich IV. formulieren, der Forschung natürlich bekannt sind und immer bekannt waren, bleibt in den zusammenfassenden Wertungen der älteren wie auch der modernen Forschung die Tatsache fast ohne Konsequenzen, dass wir es bei diesem Herrscher mit einem absoluten Ausnahmefall zu tun haben, was seine Beurteilung durch die Zeitgenossen angeht: Es gibt keinen zweiten mittelalterlichen Kaiser, dem auf so vielen Gebieten von so vielen Zeitgenossen so massive Vorwürfe gemacht worden sind wie Heinrich IV. Diese Vorwürfe betreffen seine inakzeptablen politischen Verhaltensweisen wie seine Neigungen zu autokratischer Willkür, sie thematisieren aber auch seine Neigung zu Verbrechen wie heimtückischem Mord und sexueller Gewalt selbst gegen nahe Verwandte. Es gibt fast keinen Vorwurf in der denkbaren Palette von politischem Fehlverhalten bis zu sexuellen Abartigkeiten, die Zeitgenossen diesem König nicht gemacht hätten.15

Es scheint daher nicht selbstverständlich, sie aus der Darstellung und Bewertung der Regierung Heinrichs IV. weitgehend auszublenden, weil ihr Wahrheitsgehalt nicht zu sichern ist. In ihnen manifestiert sich vielmehr die Art und Weise, wie Gegner Heinrichs über ihn dachten, mit welchen Argumenten sie ihren Widerstand gegen ihn begründeten. Es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass diese Gegner nicht davon überzeugt gewesen wären, mit ihren Vorwürfen wirkliche Handlungsweisen und Wesenszüge des Königs zu treffen. Selbst wenn es sich aber bei allen Vorwürfen ausschließlich um bösartige Verleumdungen handeln sollte, waren sie Teil der politischen Realität. Sie beeinflussten und prägten das politische Klima. Überdies ist mehrfach bezeugt, dass diese Vorwürfe nicht etwa heimlich kolportiert und aufgezeichnet worden wären. Vielmehr drängten diejenigen, die sie erhoben, danach, sie in öffentlichen Untersuchungen erhärten und ihren Wahrheitsgehalt prüfen zu lassen.16 Einige Male sind solche Untersuchungen allem Anschein nach durchgeführt worden mit dem Ergebnis, dass die Vorwürfe auch von Anhängern Heinrichs IV. ernst genommen wurden und man ihren Realitätsgehalt offensichtlich akzeptierte.17 Und nicht zuletzt wird von verschiedenen Autoren immer wieder betont, man müsse bestimmte Dinge gar nicht weiter ausführen, denn sie seien allen bekannt. Auch solche Äußerungen können natürlich besonders perfide Formen von Verleumdungen sein, doch sind sie nichtsdestotrotz Zeugnisse des politischen Klimas. Solch ein Klima ist aber alles andere als unwichtig, wenn man das Entstehen wie das Ausmaß von Konflikten oder die Erfolgschancen zu ihrer Beendigung beurteilen will. Und Konflikte beobachtet man in der Zeit Heinrichs IV. in einer kaum abreißenden Folge.

Daher soll in den Untersuchungskapiteln der Versuch unternommen werden, in die Darstellung des Geschehens immer auch die Kommentare und Vorwürfe der Zeitgenossen einzubeziehen, die das herrscherliche Handeln Heinrichs begleiteten. Dies geschieht unabhängig von der Frage, ob die einzelnen Wertungen und Behauptungen als wahr erwiesen werden können oder nicht. Ein solches discrimen veri ac falsi wäre im Übrigen so gut wie nie überzeugend zu leisten. Aber die politische Wirksamkeit der Vorwürfe gegen den König hat sich mit einiger Sicherheit relativ unabhängig von der Frage entfaltet, ob die einzelnen Anwürfe stimmten oder nicht – das hat wahrscheinlich schon von den Zeitgenossen kaum jemand sicher entscheiden können. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Vorwürfe war vielmehr eine ausgeprägte Bereitschaft der (oder zumindest vieler) Zeitgenossen, das Erzählte überhaupt für denkbar zu halten. Und von dieser Bereitschaft gingen viele Autoren ganz eindeutig aus, sonst wären ihre Argumente ja auch wirkungslos geblieben beziehungsweise hätten sich gegen sie selbst gewandt. Die Intensität, mit der über längere Zeiträume die vorwurfsvollen Argumente vorgebracht und wiederholt wurden, spricht sehr dafür, dass man von der Wahrheit und der Wirksamkeit des Vorgebrachten überzeugt war. Dies aber setzt ein bestimmtes Klima voraus, das Teil der politischen Realität war und deshalb für ein tieferes Verständnis der Vorgänge unabdingbar ist.

Es sei hier nur kurz darauf hingewiesen, wie desaströs solch ein Klima für eine Gesellschaft war, deren politische Verfahren fast ausschließlich darauf basierten, dass man in persönlicher Kommunikation den Konsens aller herstellte und dann das Beschlossene umsetzte.18 Diese Verfahren gründeten auf Vertrauen in die Integrität der Beteiligten und wurden durch jeden Zweifel an dieser Integrität im Kern getroffen. Gerade diesen Zweifel aber säten die Gerüchte und Nachrichten über angebliches Verhalten des Königs unablässig. Sie haben deshalb mit einiger Sicherheit politische Wirkungen entfaltet. Daher scheint es unabdingbar, all diese Nachrichten, und zwar unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, zur Kenntnis zu nehmen als Argumente in den politischen Auseinandersetzungen und als Indizien für das herrschende politische Klima.

Diese Bereitschaft stellt ein Spezifikum dieser biographischen Darstellung dar, die damit einen doch deutlich anderen Zugang zu ihrem Objekt sucht, als es ihre zahlreichen Vorgänger getan haben. Es werden auch die Stimmen der Feinde und Gegner Heinrichs IV., die in dem vielstimmigen Chor der Zeitgenossen übrigens deutlich in der Überzahl sind, mit Argumenten zu Wort kommen, deren Wahrheitsgehalt unbestimmt ist, die aber sicheres Zeugnis von den Themen und vom Niveau der politischen Auseinandersetzung geben. Diese Einbeziehung von Nachrichten, die zumindest Auskunft über die Denkweisen in den politischen Lagern geben, eröffnet eine zusätzliche Möglichkeit, politische Entwicklungen in welche Richtung auch immer zu verstehen und zu bewerten und so der eigenartigen Erscheinung eines Königs gerechter zu werden, dessen Bild wie kein zweites von Gunst und Hass seiner Zeitgenossen verzerrt worden ist. Dieses Zerrbild lässt sich aber gewiss nicht dadurch entzerren und glätten, dass man einen Teil der Stimmen weglässt, um das Subjekt dieser Darstellung als strahlenden Held erscheinen zu lassen.

Heinrich IV.

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