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2. Ausgangspunkte und Erkenntnisziele

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Schon Georg Waitz formulierte in seiner mehrbändigen Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches in der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass uns die Formen und Inhalte mittelalterlicher Beratung mit dem Herrscher nicht zugänglich seien: „Über die Art der Verhandlung und Beschlussfassung fehlt jede nähere Kunde.“16 Diese Feststellung ist im Wesentlichen heute noch gültig, auch wenn der hohe Stellenwert der Beratung für die Etablierung und Aufrechterhaltung mittelalterlicher Ordnung inzwischen häufiger betont und zum Thema von Forschung wurde.17 In der Tat werden moderne Erwartungen bezüglich der formalen und normativen Grundlagen mittelalterlicher Beratung wie ihrer konkreten Ausgestaltung durch die Aussagen der zeitgenössischen Überlieferung nicht unbedingt befriedigt.

Für moderne Betrachter fehlt es in den Quellen an verwertbaren Informationen zum formal berechtigten bzw. notwendigen Teilnehmerkreis an den Beratungen, zu beratungspflichtigen Themen, zum geregelten Ablauf der Konsensherstellung, zum Zustandekommen der Entscheidungen und zu vielem mehr. Hiermit sind aber wohl anachronistische Erwartungen formuliert. Eine semi-orale vormoderne Gesellschaft kreierte nämlich viel weniger explizite Regelungen als eine moderne. Sie kam mit einer begrenzten Zahl allgemeiner und grundsätzlicher Festlegungen aus und „fand“ „Gewohnheiten“ dann, wenn es konkrete Probleme nötig machten.18 Ansonsten machte man es so, wie es gute, alte Sitte, Brauch oder eben Gewohnheit war.

Andererseits überrascht die Vehemenz des Protestes und Widerspruchs, wenn etwa Könige sich zu weit von den für uns schwer durchschaubaren |18|Gewohnheiten entfernten, die für Beratungen offensichtlich doch etabliert waren.19 Widerstand setzte sowohl ein, wenn Könige die Beratung wichtiger Themen unterließen, als auch, wenn sie nicht für eine ausgewogene Gruppe ihrer Ratgeber sorgten, sondern einseitig lediglich den Rat bestimmter Personen einholten. Gänzlich arbiträr war die Praxis der Beratung also sicher nicht.

Normative Grundlagen für mittelalterliche Beratung erwähnen die Quellen aber nicht eben häufig. Es wurde zumeist das Prinzip der Vertraulichkeit respektiert. Die Reihenfolge der Redner in der Beratung scheint sich nach ihrem Platz in der Rangordnung gerichtet zu haben, was den Höchstrangigen die größten Möglichkeiten gab, die Richtung der Willensbildung zu dominieren. Was beraten wurde, bestimmte der König oder Herr. Behandelte er wichtige Themen zu lange dilatorisch, gab es Probleme. Zudem hören wir genügend Einzelstimmen, die bezeugen, dass mit vielerlei Mitteln versucht wurde, Entscheidungen verdeckt zu beeinflussen, was nicht immer akzeptiert wurde. Schon diese wenigen Bemerkungen raten dazu, die Andersartigkeit mittelalterlicher Beratung zu beachten, genauer nach ihrer Eigenlogik und ihren Spielregeln zu fragen. Systematisch ist solch ein Versuch bisher jedoch noch nicht unternommen worden.

Durch neuere Untersuchungen mehrten sich die Indizien dafür, dass sich in den Beratungen für gewöhnlich weniger eine Kultur der freien Meinungsäußerung und des geschliffenen Arguments etablierte als eine Kultur der Inszenierung und der „Konsensfassaden“, die dafür sorgten, dass die Konsensherstellung im Interesse der Mächtigen vonstatten ging.20 Ein überlegt vorgehender König, der die Ranghöchsten seiner Ratgeber in seine Planungen einbezog, hatte anscheinend viele Möglichkeiten, seine Interessen und Anliegen durchzusetzen, weil diese Ranghöchsten als Erste ihren Rat gaben und so die Richtung der Meinungsbildung entscheidend beeinflussten. Schließlich stand am Ende solcher Beratungen keine Abstimmung; vielmehr scheint es Aufgabe und alleiniges Recht des Herrn oder Königs gewesen zu sein, Ratschläge und Argumente zu gewichten und daraus eine Entscheidung abzuleiten, die ihm die richtige zu sein schien – oder auch, keine zu treffen.

Die häufigen Konflikte und Herrschaftskrisen zeigen jedoch, dass die an der Herrschaft partizipierenden Kräfte dann die Zusammenarbeit verweigerten, wenn die königlichen Entscheidungen zu eindeutig ihre Interessen verletzten. Die Überlieferung ist allerdings wohl noch nie systematisch daraufhin befragt worden, welche Einsichten sie darüber zulässt, wann und warum die Inszenierung |19|von Willensbildung scheiterte und die Konsensherstellung zu einem komplizierten und kompetitiven Spiel der Kräfte und Koalitionen mutierte. Einzelfälle bezeugen aber ganz deutlich, dass es feste Gewohnheiten gab, zu reagieren, wenn die eigenen Vorstellungen und Interessen bei der Konsensherstellung keine Berücksichtigung fanden. Dann griff man nämlich zum Mittel der conspiratio, des conventiculum und der coniuratio und stellte so an einem anderen Ort Konsens in einem Teil eines Verbandes her, der sich nicht selten in bewaffnetem Vorgehen gegen andere Meinungen konkretisierte.21 Dann aber begannen in aller Regel auch Verhandlungen, durch die zum Konsens zurückgefunden werden sollte.

Aus diesen einführenden Bemerkungen über den Forschungsstand zum Thema Beratung und zu seinen Problemen lässt sich eine Reihe von Folgerungen ableiten, die für die angestrebten Untersuchungen von Gewicht sind: Zunächst einmal ist die Beratung des Königs mit „den“ Ratgebern von der Einflussnahme einzelner Ratgeber auf königliche Entscheidungen zu unterscheiden. Formen der Intervention oder der Fürsprache sind teilweise Begleiterscheinungen von Prozessen der Konsensherstellung, teilweise unterlaufen sie aber auch die Beteiligung aller Ratgeber zugunsten besonderer Vertrauter. Das Verhältnis zwischen vom König anberaumten allgemeinen Beratungen und der zumeist verdeckten Einflussnahme verschiedenster Kräfte auf die königliche oder allgemeine Willensbildung ist daher zu klären und gegebenenfalls als Spannungsverhältnis zu beschreiben.

Unterschieden wird daher in dieser Arbeit zwischen informell-vertraulichen und formell-öffentlichen Beratungen innerhalb eines Verbandes. Letztere zeichnet ein regelhafter Ablauf aus, an den alle Teilnehmer gebunden sind; erstere hängen von der Huld und Gnade des Herrn ab und werden Einzelnen gewährt, ohne dass ein Anspruch auf sie besteht. Sie gelten zwar als hohe Auszeichnung und als eine hervorragende Möglichkeit, verdeckt Einfluss auszuüben. Doch werden diese Möglichkeiten entscheidend von der Willkür des Herrn bestimmt, der sie gewährt. Er ist niemandem Rechenschaft darüber schuldig, ob er einem informellen Rat oder Vorstoß Folge leistet.

Allerdings genügen auch die Regeln der formellen Beratungen heutigen Ansprüchen auf Beteiligung an Entscheidungen nur bedingt: Zwar war festgelegt, dass der einberufende König oder Herr den versammelten Ratgebern ein Problem schilderte und um Rat bat, den die Anwesenden dann nach ihrem Rang geordnet gaben, ehe der König die Konsequenz aus den Ratschlägen zog und eine Entscheidung verkündete. Dies musste allerdings nicht einmal immer geschehen. Auch wurde kein fester Teilnehmerkreis bestimmt, der Anspruch auf Teilnahme an den Beratungen erheben konnte, wie keine Mindestzahl an |20|Ratgebern festgelegt war, die für solche Beratungen erreicht werden musste. Zumindest Angehörige der Führungsschichten aber haben den Anspruch erhoben, an solchen Beratungen beteiligt zu werden. Eine spezifische Öffentlichkeit der Beratung wurde überdies dadurch erreicht, dass die Ratgeber sie entweder selbst herstellten, weil sie unterschiedlichen Netzwerken angehörten, oder aber Zuhörer gestattet waren, die sich zumeist aus dem Kreis der Vasallen rekrutierten, was jedoch nur selten praktiziert wurde.

Es reicht zudem wohl nicht aus, auf dem Felde der Beratung lediglich zwischen informellen und formellen Formen zu differenzieren, die zudem durch ihren vertraulichen bzw. öffentlichen Charakter charakterisiert sind. Genauso wichtig scheint es, zwischen den Beratungen innerhalb einer Gruppe und den Verhandlungen zwischen verschiedenen Gruppen oder Parteiungen zu unterscheiden. Auch bei Verhandlungen über die Beendigung von Konflikten oder den Abschluss von Bündnissen zwischen Gruppen sollte ja Konsens und Einigkeit über bestimmte Sachfragen hergestellt werden, entweder im direkten Austausch oder unter Zuhilfenahme von Boten, Gesandten und Vermittlern.22 Diese Verhandlungen sind wie die Beratungen durch den Austausch von Argumenten, durch die Anbahnung von Kompromissen, den Ausgleich von Interessen charakterisiert, und damit geschieht die Herstellung von Konsens in ganz ähnlichen Formen wie in den Beratungen eines Verbandes. Sie sind aber aufgrund einer unter Umständen temporären Spaltung des Verbandes dadurch gekennzeichnet, dass nun nicht mehr eine Person die Beratung leitet und am Ende ihr Ergebnis formuliert, sondern zwei oder mehr Parteien Konsens über Probleme herzustellen versuchen, ohne dass dabei jemandem eine dominierende Rolle zugebilligt würde.23 Beide Formen der Konsensherstellung sind also für die folgenden Untersuchungen in gleicher Weise wertvoll.

Alle bisher angesprochenen Formen der Beratung unterscheiden sich deutlich von königlichen Entscheidungen, die nicht auf der Grundlage von Beratungen oder Verhandlungen mit „den“ Getreuen, sondern aufgrund von Entschlüssen zustande kamen, die allenfalls durch verdeckte Einflussnahme besonderer Vertrauter in bestimmte Richtungen gelenkt worden waren. Der königlichen Pflicht, sich beraten zu lassen, war anscheinend manchmal schon dadurch Genüge getan, dass Probleme mit einzelnen, weisen Ratgebern besprochen wurden. Welche Fälle es jedoch waren, in denen man dies akzeptierte, und wann nicht, können wir zurzeit nicht mit Bestimmtheit erkennen. Es ist auch grundsätzlich fraglich, ob die mittelalterlichen Zeitgenossen abstrakt und theoretisch genau unterschieden haben, welche Probleme einer allgemeinen Beratung bedurften und welche lediglich mit besonderen Vertrauten zu erörtern waren.

|21|In den Untersuchungskapiteln sind daher vorrangig politische Problemlagen analysiert, in denen besonders intensiv von Beratung und Verhandlung die Rede ist. Dort wird es möglich, an konkreten Beispielen die Regelhaftigkeit des Vorgehens und Verhaltens sowie die Handlungsspielräume der Akteure und ihre Limitierung zu erkennen.

Hier sollte man auch daran erinnern, dass der Vorgang der formellen Beratung große Ähnlichkeit mit Sitzungen des Königsgerichts hat, in denen der König „Urteilern“ ein Problem vorlegte, das diese dann in Kommunikation mit der Gerichtsgemeinde in einem Urteilsvorschlag lösten, dem der König in aller Regel zustimmte.24 Auch hier thematisieren die Quellen so gut wie nie, in welchem Ausmaß die Urteiler verdeckt mit den anderen Beteiligten kommunizierten, ehe sie einen Urteilsvorschlag machten. In der Formel consilio vel iudicio ist aber die Nähe der beiden Vorgänge, Rat oder Urteil, zum Ausdruck gebracht.25 Häufiger scheint man bei einem Problem zunächst nämlich offen gelassen zu haben, ob man es durch Rat oder durch ein Urteil lösen wollte. Erst wenn etwa die gütliche Konfliktbeilegung durch einen Ratschlag nicht gelang, griff man zum Urteil, das einen stärkeren Anspruch auf Befolgung erhob.26

Gab es aber einen Anspruch bestimmter Ratgeber, an solchen formellen Beratungen beteiligt zu werden? Zweifelsohne existierte ein Zusammenhang zwischen dem Rang einer Person und diesem Anspruch. Es war für einen König sicher schwer, die höheren kirchlichen und weltlichen Ränge wie Erzbischöfe und Herzöge bei einer formellen Beratung zu übergehen, wenn sie denn anwesend waren. Daneben ist aber immer wieder zu lesen, dass Könige oder auch Regentinnen ein besonderes Verhältnis zu einzelnen Ratgebern entwickelt und diesen besonderes Gehör geschenkt hätten. Das war zweifelsohne möglich, zugleich aber auch sehr konfliktträchtig, wenn diese Vertrauten nicht zu den Ranghöchsten gehörten.27

Was wissen wir zudem über Rahmenbedingungen solcher Beratungen? Es sind wieder nur verstreute Einzelnachrichten, die den Eindruck erzeugen, dass die Teilnehmer einer formellen Beratung mit dem König davon ausgingen, dass die anvisierte und vom König angestrebte Lösung des Problems zuvor bereits mit wichtigen Leuten abgesprochen war.28 Dies gebot die politische Klugheit, die den König darauf verwies, vorab sicherzustellen, dass die wichtigen Ratgeber mit seiner Sicht der Dinge übereinstimmten. Man darf insgesamt wohl formulieren, dass dem König einige Möglichkeiten solcher Einflussnahme auf die Ergebnisse der Beratung zu Gebote standen: Er konnte |22|das Problem dilatorisch behandeln, bis er genügend Unterstützung gefunden hatte; er konnte Unterstützung so längerfristig und mit Kompensationsangeboten anbahnen; er konnte das Problem erst dann thematisieren, wenn die ständig wechselnde Konstellation der Ratgeber für seine Ansicht günstig war. Er musste nicht alle Ratgeber auf seiner Seite haben, sondern vor allem die ranghöchsten, weil diese als Erste ihren Rat gaben. Und er formulierte last, not least auch selbst den Konsens, der sich aus den Ratschlägen ergab.

Stellt man solche Rahmenbedingungen der Konsensherstellung in Rechnung, wird auch das Phänomen des Fernbleibens von solchen Beratungen verständlicher. Es zeigt einmal, dass bestimmte Ratgeber schon vorher wussten, welche Probleme wie entschieden werden sollten. Deshalb praktizierten sie eine subtile und wahrscheinlich auch wirksame Form des Widerspruchs gegen Entscheidungen, die sie nicht verhindern konnten, aber auch nicht mittragen wollten. Nahm das Fernbleiben ein größeres Ausmaß an, signalisierte es unzweideutig eine Opposition gegen die Amtsführung des Königs.29

Das schwierige Geschäft der Konsensherstellung führte also ganz offensichtlich zu einer Reihe von Praktiken, die einem ungeschützten Aufeinanderprallen kontroverser Meinungen durch Vorklärungen und Absprachen vorzubeugen versuchten. Gerade wenn schwierige Fragen zu entscheiden waren, berieten sich schon vor einer allgemeinen Aussprache Verwandte und Freunde allein miteinander und sondierten so die Stimmung, wie wir etwa im Falle der Königswahl zur Nachfolge Kaiser Heinrichs II. hören, bei der es unterschiedliche Präferenzen gab.30 Erst wenn man sich so über die Chancen der Konsensherstellung vergewissert und den Weg zu einer einvernehmlichen Lösung gefunden hatte, wagte man die Einberufung einer Versammlung, in der nach gut vorbereiteter Willensbildung dann eine Entscheidung gefällt wurde.

Durch solche Vorklärungen bekamen die formellen Beratungen aber den Charakter von Inszenierungen, in denen ein vertraulich vorbereiteter Konsens öffentlich bestätigt wurde. Man wird davon ausgehen dürfen, dass vielen Akteuren in diesem politischen Kräftespiel der Beratung bewusst war, dass es sich hierbei um ein vorbereitetes Unternehmen handelte, bei dem Rollen vorweg verteilt und Ziele abgesprochen waren.31 Diese Tatsache wurde jedoch sorgfältig verborgen zugunsten der Fiktion, dass die richtige Lösung durch die Argumentationen der Ratgeber erst gefunden würde.32 Die Spannung, ob sich auch alle an die abgesprochenen Rollen halten würden, blieb aber in jedem Fall |23|erhalten. Überraschungen waren immer möglich, wie etwa die Königswahl von 1125 zeigte, die durch einen überraschenden Parteiwechsel Herzog Heinrichs von Bayern entschieden wurde.33

Insgesamt ergeben die Versuche einer Annäherung an die Problematik der Beratung damit eine Fülle von Eindrücken, die Schlaglichter auf Rahmenbedingungen und Praktiken werfen. Ob die Momentaufnahmen allgemein gültige Befunde abbilden oder Ausnahmesituationen betreffen, ist nicht immer sicher zu beurteilen. Hier kann nur eine systematischere Aufbereitung des zur Verfügung stehenden Materials die Voraussetzungen verbessern.

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