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2. Die Gacaca-Pilotverfahren und ihre Wahrnehmung in Ruanda

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Gerichtsverhandlungen, die sich mit Völkermordverbrechen befassten, waren in Ruanda grundsätzlich öffentlich. Verfahren vor den Sonderkammern konnten auch ausländische Prozessbeobachter, soweit sie keine journalistische Akkreditierung benötigten, ohne Erlaubnis besuchen. Dennoch war das Interesse gering. Kinyarwanda, die Sprache Ruandas und auch die Gerichtssprache, verstanden die wenigsten. Dolmetschen in den meist kleinen Gerichtsräumen wirkte störend, zumal wenn mehrere Beobachter dem Prozess folgen wollten. Diese Gefahr bestand bei Gacaca nicht. Wie das Wort, das dem deutschen »Gras« oder »Rasen« entspricht, nahe legt, fanden die Prozesse im Freien statt, an zentraler Stelle eines Dorfes oder Stadtteils. Selbst ein halbes Dutzend oder mehr Beobachter konnten sich jetzt mit ihren Dolmetschern einfinden, ohne dass daraus für das Gericht und die Öffentlichkeit eine Störung entstanden wäre. Und das Interesse war groß nach dem 18. Juni 2002, als offiziell der Beginn der neuen Gacaca-Justiz verkündet worden war und in allen zwölf Provinzen des Landes die Durchführung von Pilotverfahren zur Informationssammlung einsetzte. Dass ein Volk über sich selbst zu Gericht sitzt, sich einem Läuterungsprozess unterzieht, schien ein einzigartiges Experiment zu sein, das zudem durch die zu erwartenden Einblicke in die Abgründe menschlichen Verhaltens noch an Attraktivität gewann. Doch anders als bei den Verfahren vor den Sonderkammern musste für die Beobachtung von Gacaca-Prozessen von allen Nicht-Ruandern ausnahmslos eine Erlaubnis beantragt werden. Der Antrag war zu richten an den Obersten Gerichtshof (Cour Suprême), der die Gacaca-Aktivitäten beaufsichtigte und koordinierte, und sollte eine Begründung enthalten. In meinem Fall ergab sich die Begründung aus einem Schreiben des Justizministers Mucyo, in dem ich, nach einem Besuch in dessen Büro und einem langen Gespräch über den Holocaust, Deutschlands Verantwortung und Aufarbeitungsversuche, ausdrücklich dazu ermuntert wurde, »wahrheitsgetreu von allen Bemühungen zu berichten, die unternommen würden, um der Folgen des in Ruanda begangenen Verbrechen des Völkermords und der dort ebenfalls begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Herr zu werden«.

Die Erlaubnis, die ich daraufhin erhielt, gestattete mir, Gacaca-Verhandlungen im ganzen Land zu besuchen. Versehen war sie mit der Maßgabe, mich getreu den ruandischen Gesetzen zu verhalten, die ruandischen Sitten und Gebräuche und das ruandische Volk im Allgemeinen zu achten und strikte Neutralität zu wahren. Besonders hervorgehoben wurde noch, dass es mir untersagt war, Fotoaufnahmen oder Tonaufzeichnungen von den Verhandlungen zu machen.

Man tat gut daran, sich an diese Ge- und Verbote zu halten. Die Hautfarbe sorgte bereits für Aufmerksamkeit, der Sitzplatz – auf einer Bank im Schatten, während die Dorfbevölkerung, oft nicht einmal durch einen Sonnenschirm geschützt, auf dem Boden hockte – ebenfalls. Und die dauernd anwesenden Sicherheitsbeamten, sogenannte Local Defence Forces, waren ohnehin sehr kontrollfreudig. Allerdings wurde das Fotografieren auch manchmal erlaubt, je nach Laune, so hatte es den Anschein, der oder des Vorsitzenden des Gacaca-Gerichts. In der Region um die südruandische Stadt Butare jedenfalls schien sie oft so zu sein, dass Fotos nicht als Sicherheitsbedrohung eingeschätzt wurden. Auch 2002 lief die Zeit dort offensichtlich noch anders als in anderen Teilen des Landes.

1994 rettete die Verzögerung von fast zwei Wochen, mit der der Völkermord die Stadt Butare und die gleichnamige Präfektur erreicht hatte, vielen Menschen das Leben. Die rettende Grenze zu Burundi war nicht weit und die relative Ruhe in der Präfektur zu einer Zeit, als in Kigali die Toten schon nach Zehntausenden gezählt wurden, verschaffte vielen die Möglichkeit zur Flucht. Doch ab dem 20. April ergoss sich der Strom der Gewalt auch über Butare. Der einzige Tutsi-Präfekt des Landes, Jean-Baptiste Habyalimana, war bereits einen Tag vorher zusammen mit anderen, die Ruhe und Frieden bewahren wollten, beseitigt worden. Danach begannen die Massaker an den Tutsi. Kein Dorf, in dem sie nicht umgebracht wurden, durchweg in großer Zahl, denn in der Präfektur Butare lebten mit zirka 130 000 weit mehr Tutsi als in den anderen Präfekturen Ruandas.76

Ermordet wurden sie auch in Gishamvu, der Heimatgemeinde Jean Kambandas, des Premierministers während des Völkermords. Dort treffe ich acht Jahre später, im November 2002, zwei Richter des örtlichen Gacaca-Gerichts. Wie ihre Kolleginnen und Kollegen der anderen Gacaca-Gerichte waren sie von der Bevölkerung gewählt worden, zwei von über 250 000, die nach Abschluss der Pilotphase in den dann mehr als 11 000 Gacaca-Gerichten urteilen sollten. Dem Beispiel ihrer historischen Vorbilder folgend nannten sie sich Inyangamugayo, Menschen, die dem Bösen fern stehen, als weise und moralisch integer gelten und daraus ihre Autorität beziehen. Dass sie nicht am Völkermord beteiligt sein durften, verstand sich von selbst, auch dass Hutu ebenso wie Tutsi Inyangamugayo sein konnten. Entscheidend war die individuelle Vorgeschichte, ansonsten galt die Devise »Wir sind alle Ruander«.

Meine beiden Gesprächspartner sind Hutu, in Gishamvu geboren, und wissen genau, was in den 1990er Jahren bis hin zum Völkermord in ihrer Gemeinde geschehen war. Jetzt stehen sie am Rande des Dorfplatzes und warten darauf, dass die Bevölkerung zur ersten Gacaca-Verhandlung eintrifft. Die ruandische Nationalflagge, in der Mitte des Platzes an einem Mast hochgezogen, kündigt davon, dass hier bald ein hoheitlicher Akt vollzogen wird. »Ich bin sicher, dass Gacaca die richtige Lösung ist«, meint Amadou H. »Die Menschen hier haben alles gesehen, sie wissen, wer was gemacht hat. Es liegt jetzt an ihnen, darüber zu sprechen. Sie waren vorher keine Monster und sind es jetzt auch nicht. Sie sind beeinflusst worden von denen, die den Völkermord wollten.« Sein Richterkollege Johani B. fügt hinzu: »Ja, diejenigen, die den Völkermord geplant haben, sind die wirklich Verantwortlichen, die andern waren ihre Instrumente. Doch auch als Instrumente haben sie schlimme Dinge getan und das müssen sie gestehen. Dann entscheiden wir, wie wir sie verurteilen werden. Die Strafe muss nicht unbedingt eine Gefängnisstrafe sein, viel wichtiger ist, dass wir zusammensitzen und eine Lösung finden, die von allen als gerecht empfunden wird.«77

Bevor sie Gacaca-Richter werden konnten, mussten Amadou H. und Johani B. in einem einwöchigen Schnellkurs lernen, wie ein Gacaca-Prozess strukturiert ist, was bei der Verhandlungsführung zu beachten ist, wie ein Urteil abgefasst sein muss und natürlich: welche Strafen überhaupt verhängt werden durften und wann am besten auf eine Bestrafung verzichtet werden sollte. Der Schnellkurs für die Gacaca-Richter stand am Ende eines Programms, das zunächst die justizielle Spitze des Landes in den verschiedenen Aspekten der neuen Gacaca-Justiz unterwies, diese dann als Lehrer für Juristen niederer Instanzen und Jura-Studenten in den Abschlusssemestern einsetzte, die ihrerseits die späteren Gacaca-Richter und -Richterinnen unterrichteten. Was Gacaca war, welches Ziel es verfolgte und wie es umgesetzt werden sollte, war auf diesem Weg allen ruandischen Juristen bekannt. Denen, die es konkret anwenden sollten, waren der Inhalt einzelner Verfahrensschritte und die Erwartung, die sie an die Kooperationswilligkeit der lokalen Bevölkerung stellen durften, noch durch Zeichnungen veranschaulicht worden.78

»Ja, wir wissen Bescheid«, erklären denn auch unisono Amadou H. und Johani B., »und die Menschen hier sind sich auch darüber im Klaren, was von ihnen erwartet wird«, sagen sie noch, bevor sie sich auf eine Bank hinter einem Tisch setzen, an dem mittlerweile schon ihre Richterkollegen Platz genommen haben. Ihnen gegenüber, in einem Abstand von etwa fünf Metern, sitzt die erste Reihe der Dorfbevölkerung, halblinks hocken die Angeklagten, drei Männer in rosafarbener Gefängniskleidung, zwischen 30 und 40 Jahren alt. Sie hatten bereits eine »Présentation« durchlaufen, öffentlich ihre Taten gestanden und haben somit auch eine Akte. Neben ihnen sitzt noch eine Frau, ebenfalls mittleren Alters, allerdings in normaler Kleidung.

Um 11.30 Uhr beginnt die Verhandlung. Alle Anwesenden erheben sich und gedenken in einer Schweigeminute der Toten des Völkermords. Der Vorsitzende des Gacaca-Gerichts teilt mit, was Inhalt der Verhandlung sein wird, nämlich die Tatvorwürfe gegen die anwesenden Angeklagten und die Feststellung möglicher weiterer Verbrechen, die während des Völkermords im Dorfgebiet begangen wurden. Er fordert Disziplinwahrung für die Dauer der Verhandlung. Sprechen dürfe nur, wer sich vorher gemeldet habe, und das auch nur zur Sache. Ausuferndes Gerede werde er nicht akzeptieren. Im Übrigen weise er darauf hin, dass niemand die Gacaca-Verhandlung vor ihrem Ende verlassen dürfe.

Mit einer Handbewegung erteilt er sodann dem Gerichtssekretär das Wort, der in sehr gedrängter Form die bisher bekannten Anklagen verliest: Damscène R. soll im April 1994, mit einem Gewehr bewaffnet, viele Tutsi erschossen haben. Die Tutsi waren in die Kirche von Nyumba geflüchtet, wo sie sicher zu sein glaubten. Zusammen mit anderen Tätern ist Damscène R. zur Kirche gefahren und hat das Feuer auf die Flüchtlinge eröffnet. Anasthase N. hat ein junges Mädchen geschlagen und gezwungen, ihm das Versteck seiner Familie zu zeigen. Danach hat er das Mädchen getötet. Emmanuel B. ist angeklagt, mehrere Tutsi ermordet zu haben, unter ihnen zwei Kinder, deren Leichen er in eine Latrine warf.

Alle Anklagen werden bestätigt. Eine Frau erhebt sich – sie ist, da aus Gishamvu und am Leben, aller Wahrscheinlichkeit nach Hutu – und erzählt, wie sie Damascène N. vor der Kirche gesehen hat. Sie könne sich noch genau erinnern, wie er eine Frau erschossen habe, denn die Kugel sei haarscharf an ihrem eigenen Kopf vorbeigeflogen. Wieder eine andere Zeugin, auch sie Hutu, berichtet, dass das junge Mädchen, das Anasthase N. umgebracht habe, von diesem vor dessen Tod so geschlagen worden sei, dass es vier Zähne verloren habe. Anasthase N. sei in einer Gruppe gewesen, die Jagd auf Tutsi gemacht habe. Das bekräftigt auch eine andere Zeugin, die ihn mehrfach bei Mordaktionen gesehen haben will. Zum Beweis zeigt sie ihr stark vernarbtes rechtes Knie. »Hier hat er mich mit einer Machete verletzt. Außerdem hat er mir noch mein Geld gestohlen.« Dann melden sich noch Zeugen, die beobachtet haben, wie der dritte Angeklagte, Emmanuel B., mit den Kindern verschwunden sei. Auch er sei nicht allein gewesen. Zwei andere Männer, Jean-Pierre M. und Claude K., hätten ihn begleitet, und sie, die Zeugen, wüssten auch, dass die drei zusammen noch mehr Morde begangen hätten, an Kindern und an Erwachsenen.

Der Sekretär notiert die Namen der eben Beschuldigten, um sie später mit den Listen Inhaftierter abgleichen zu können. Die Frau in Alltagskleidung sitzt immer noch neben den drei Angeklagten, als der Gerichts-Vorsitzende sich ihr zuwendet, ihren Namen – Agnès A. – nennt und sagt, dass sie an der Ermordung von fünf Tutsi beteiligt gewesen sein soll. Er verliest die Namen der Ermordeten – sie scheinen in Gishamvu bekannt gewesen zu sein – und fragt, wer zu einem der Fälle etwas sagen könne. Das können sehr viele. Etliche Zeugen melden sich und erzählen, was sie von den Morden wissen. Niemand jedoch beschuldigt Agnès A. Andere Namen fallen und werden wieder von dem Gerichtssekretär notiert, der von Agnès A. ist nicht darunter. »Ich bin unschuldig«, sagt sie. »Ich bin nicht mal in der Lage, rohes Fleisch zu kaufen und zuzubereiten, wie soll ich dann einen Menschen getötet haben. Was mir vorgeworfen wird, ist falsch. Ich kann schon deshalb nichts gemacht haben, weil mein rechter Arm während des Völkermords gebrochen war.«

Vereinzelt ist zustimmendes Murmeln zu hören, das aber folgenlos bleibt. Weder wird Agnès A. freigelassen, noch ist von den Richtern ein Hinweis auf einen in dieser Sache zu treffenden Entschluss zu hören. Über vier Stunden Verhandlung in der nachmittäglichen Hitze fordern ihren Preis. Einige Richter haben erkennbar Mühe, wach zu bleiben oder konzentriert zu wirken. Überhaupt ist die Atmosphäre ganz anders, als man angesichts der zur Sprache gebrachten Tatvorwürfe vermuten sollte. Schon vor Beginn der Verhandlung findet ein reger Austausch zwischen den Angeklagten und Männern und Frauen aus der Dorfbevölkerung statt. Auch während der Verhandlung gibt es Zurufe und Gelächter, und was aus den Gesichtern der vielen spricht, die schweigend zusehen, kann nur gemutmaßt werden. Sie sitzen dort und lassen keine Gefühlsregung erkennen. Es ist, als ob sich vor ihren Augen ein Spektakel abspielt, das ein fernes Ereignis betrifft und in dem nur der Zufall darüber entscheidet, wer in anderer Kleidung auf der anderen Seite sitzt. So gesehen passt es zum Gesamteindruck, dass plötzlich ein heftiger Regen einsetzt und alle, ohne Instruktionen des Gacaca-Vorsitzenden abzuwarten, nach Hause eilen.

Fragte man Zoulfaty M. nach den Gründen für diese eigenartige Atmosphäre in Gishamvu, die auch bei den nächsten wöchentlichen Gacaca-Verhandlungen festzustellen war, antwortete sie ohne zu zögern, dass in Gishamvu wohl Täter, Mitläufer und Gaffer über sich selbst zu Gericht gesessen hätten. Überlebende des Völkermords dürften nicht dabei gewesen sein, denn dann wären die Verhandlungen anders verlaufen. Zoulfaty M. ist Tutsi, knapp über 30 Jahre alt und Gacaca-Richterin in der Gemeinde Huye in der Nähe von Butare. Den Völkermord hat sie in Kigali überlebt, in einem Kellerraum, zusammen mit ihrem Mann, einem Hutu, der der Opposition zugerechnet wurde und darum in Lebensgefahr schwebte, und drei Geschwistern. Der Kellerraum gehörte einer befreundeten Hutu-Familie, die während der fast zwei Monate, die die fünf Personen in dem engen Versteck ausharren mussten, für sie sorgte. Mehrfach seien sie nur knapp der Entdeckung und damit dem sicheren Tod entronnen. Aber sie hätten es geschafft, im Gegensatz zu den Eltern und vielen Verwandten, die getötet worden seien.

Zoulfaty M. weint häufig, als sie mir von der schwierigen Zeit des Überlebens erzählt und von den Toten, die sie auf dem Weg zurück in ihr Heimatdorf gesehen hat. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gacaca funktioniert«, sagt sie beinahe trotzig, und: »Die Wunden sind viel zu tief, die Erinnerung noch viel zu frisch. Der Hass der Häftlinge in den Gefängnissen ist mit den Händen zu greifen, der Schmerz der Überlebenden endlos. Wie soll da eine Versöhnung zustande kommen? Ich weiß, dass viele Opfer die Strafen, die Gacaca-Gerichte verhängen können, als zu gering empfinden. Sie fühlen sich noch einmal erniedrigt, zumal es ihnen auch wirtschaftlich schlecht geht. Sie haben Hunger und leiden und es gibt keine Aussicht auf Besserung.«79

Mit dieser Meinung steht Zoulfaty M. nicht allein. Viele Überlebende denken wie sie, scheuen sich aber, ihre Meinung zu sagen, erst recht gegenüber einem Fremden. Niemand möchte sich gegen das große staatlich betriebene Versöhnungsprojekt stellen, für das Gacaca der offizielle Schlüssel ist. Eine Ausnahme ist hier nur die Opferorganisation Ibuka, die regelmäßig eine stärkere Berücksichtigung der Belange Überlebender fordert. Ihnen müsse die Hauptsorge der Politik gelten, nicht den vielen Tätern und deren eventueller Geständnisbereitschaft.

Durchdringen konnte sie mit dieser Forderung bislang offensichtlich nicht, ebenso wenig wie mit ihrem Verlangen, die Verbrechen des Jahres 1994 und davor allein auf die eigentlichen Völkermordverbrechen im Sinne der Völkermordkonvention zu beschränken und daher in den Gesetzestexten zur Einsetzung der Sonderkammern und Reaktivierung der Gacaca-Justiz nur von itsembabwoko zu sprechen (ethnische Säuberung, Völkermord) und nicht auch von itsembatsemba (Massaker). Itsembabwoko sollte sich ausschließlich auf den Völkermord, das heißt auf die an den Tutsi begangenen Verbrechen beziehen, während itsembatsemba auch politisch motivierte Massaker, das heißt die Massenmorde an den der Opposition zugerechneten Hutu umfasste.80 Gewählt wurde schließlich der Begriff itsembabwoko n’itsembatsemba, also eine Verbindung von beiden Verbrechensmodalitäten, um das gesamte verbrecherische Geschehen mit seinen unterschiedlichen Opfergruppen abbilden zu können.

»Diese Entscheidung war genau richtig«, versichert mir Odette Nyiramilimo in einem Gespräch wenige Tage später.81 Einer größeren Öffentlichkeit war sie durch das Gourevitch-Buch über den Völkermord in Ruanda bekannt geworden, in dem sie dem Autor über die Umstände der ihr und ihrer Familie zugedachten Vernichtung berichtet hatte. Jetzt ist sie, eine ausgebildete Ärztin, Staatsministerin für soziale Angelegenheiten und sitzt mir in ihrem Büro gegenüber. »Ein Land kann nicht auf offenen Wunden aufgebaut werden«, fährt sie fort, »das ganze Unrecht muss zur Sprache kommen. Und natürlich muss dabei ein Unterschied gemacht werden zwischen den an Tutsi und Hutu begangenen Verbrechen. Tutsi wurden Opfer eines Völkermords, niemand sollte überleben. Einen Völkermord an den Hutu hat es jedoch nicht gegeben. Getötet wurden Hutu, die als Oppositionelle galten, nicht ganze Familien. Das darf nicht vergessen werden.«

Sie greift zu dem Buch von Alison Des Forges über den Völkermord, das im Regal steht, legt es zwischen uns auf den Tisch und weist anklagend darauf: »Hier, vieles von dem, was darin steht, ist richtig. Aber Alison Des Forges macht alles kaputt, wenn sie am Ende der Befreiungsarmee FPR82 vorwirft, systematisch Verbrechen an Hutu begangen zu haben. Das ist falsch. Und ich sage das mit der gleichen Überzeugung, mit der ich sage, dass nicht alle Hutu Völkermordtäter gewesen sind. Ich habe mal gesagt, dass 90 Prozent der Überlebenden nur überlebt haben, weil sie von Hutu gerettet worden sind. Dafür bin ich heftig kritisiert worden. Gut, dann waren es eben 80 Prozent.« Odette Nyiramilimo hält kurz inne, schaut mich an und bemerkt dann: »Wissen Sie, das ist der Grund, warum das friedliche Zusammenleben von Hutu und Tutsi in unserer Gesellschaft wieder möglich ist. Meine Kinder haben mich kürzlich gefragt, ob Tutsi wieder Hutu heiraten könnten. ›Natürlich‹, habe ich geantwortet, ›warum denn nicht? Wir leben doch wieder zusammen.‹« Mein Gesichtsausdruck scheint Überraschung oder Erstaunen zu zeigen, denn mit Nachdruck fährt sie fort: »Doch, doch, wir haben gemeinsam das Böse erfahren und jetzt müssen wir es gemeinsam überwinden. Es gibt keine Alternative dazu.« Dann, nach einer Pause: »Gacaca wird uns helfen, wieder zueinander zu finden, und ich hoffe, auch das Ausland hilft uns. Es hat die Pflicht, uns zu helfen, weil es den Völkermord nicht verhindert hat.«

Unter ruandischen Politikern, Juristen und Journalisten scheint die Forderung weit verbreitet, dass die Welt, die 1994 beim Völkermord tatenlos zugesehen habe, moralisch und vielleicht auch rechtlich verpflichtet sei, Ruanda bei seinen Versuchen zu unterstützen, die Folgen des Völkermords zu überwinden. Kaum ein Gespräch über den Völkermord – und ein solches Gespräch 2002, acht Jahre danach, nicht zu führen, war letztlich unmöglich –, in dem nicht an die Verantwortung des Auslands für den friedlichen Wiederaufbau Ruandas appelliert wird. »Die Deutschen kennen sich doch aus mit Versöhnung«, stellt Odette Nyiramilimo noch am Ende unseres Gesprächs fest, und in der Tat neigen diejenigen unter meinen Gesprächspartnern, die sich in der Geschichte ihres ehemaligen Kolonialherren auskennen – Ruanda war von 1898 bis 1916 deutsche Kolonie – dazu, Deutschen pauschal eine gewisse Expertise im Umgang mit Völkermord zu unterstellen. »Es wäre gut, wenn sich Deutschland stärker in den ruandischen Versöhnungsprozess einbringen könnte«, wünscht sich auch Célestin G., ein promovierter Sozialwissenschaftler, der längere Zeit in Deutschland gelebt und den Völkermord in einem Flüchtlingslager nahe der burundischen Grenze überlebt hat. Und er fügt hinzu: »Der Versöhnungsprozess, wenn man ihn denn so nennen will, wird schwierig werden. Gacaca ist zwar Teil unserer Tradition und schlechter als in Arusha kann es nicht laufen, aber die Probleme sind für den, der sie sehen will, riesengroß. Die Wahrheit ist selten so eindeutig, wie sie zunächst scheint. Wie soll die Zerrissenheit unserer Gesellschaft überwunden werden? Wie soll die Gewalt, der die Menschen ausgesetzt waren, aus den Köpfen verschwinden?«83

Ruanda

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