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1. Der allgegenwärtige Völkermord und das normale Leben

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Am Anfang, im Frühsommer des Jahres 2002, stehen Fragen, Fragen wie: Ist das ein Völkermörder? Wo war wohl diese Frau zur Zeit des Völkermords? Stammt die tiefe Narbe von einem Machetenhieb? Wer ist überhaupt ein Hutu, wer ein Tutsi? Dann, nach einigen Wochen, folgt Verwunderung. Verwunderung darüber, dass das Leben augenscheinlich seinen ganz normalen Gang geht. Menschen unterhalten sich, lachen und gehen ihrer Beschäftigung nach. Dass hier in diesem Land, oft als Idylle aus tausend Hügeln bezeichnet, vor beinahe genau acht Jahren ein Völkermord stattgefunden hat, vor aller Augen und mit Hunderttausenden von Toten, scheint undenkbar.

Natürlich sind dergleichen Fragen und Reaktionen naiv. Kein Verbrechen ist so groß, dass es noch nach Jahren dem zufälligen Blick erkenntlich wird. Kein Schmerz ist so präsent, dass er sich fortwährend auch dem Unbeteiligten gegenüber äußert. Keine Idylle so perfekt, dass dort nicht auch Abgründiges vorstellbar wäre. Und trotzdem. Es gibt Erinnerungen, die sich an Bildern und Eindrücken festmachen und darum stärker sind als der Naivitätseinwand. Da ist die Szene, aus der Distanz gefilmt und etliche Male gezeigt, von den zwei Männern, die auf einer rötlich schimmernden unbefestigten Straße Tutsi töten. Mit Wucht schlagen sie mit ihren Macheten auf menschliche Körper ein, einmal, zweimal, dreimal, bis diese hingestreckt und zu keiner Bewegung mehr fähig sind. Da ist das Buch von Philip Gourevitch mit dem verstörenden Titel »Wir möchten Ihnen mitteilen, daß wir morgen mit unseren Familien umgebracht werden«, in dem in verschiedenen Episoden von der kalten Brutalität der Mörder und der Ausweglosigkeit der Situation derer berichtet wird, die von Hutu-Tätern für den Tod bestimmt waren. Und da sind schließlich noch die vielen Szenen, die für die Gleichgültigkeit stehen, mit der die Welt im Frühjahr 1994 auf das Geschehen in Ruanda geblickt hat: Um Hilfe flehende Frauen, Kinder und Männer, die ihrem Schicksal überlassen werden. Von UN-Soldaten gerettet werden nur Menschen mit heller Hautfarbe, Einheimische bleiben zurück, ja werden sogar gewaltsam zurückgestoßen und, woran für alle Beteiligten nicht der geringste Zweifel bestehen konnte, den in Sichtweite wartenden Killern zur Ermordung freigegeben. Es handle sich um eine rein innerruandische Angelegenheit, in die sich einzumischen nicht angeraten sei, hieß es damals.

Jetzt, im Frühsommer 2002, kommt der Besucher, auf dem Flughafen der Hauptstadt Kigali gelandet, in ein Land, das sich ganz entschieden der Zukunft zugewandt hat. Schon im Flughafengebäude künden große Bildtafeln von den Schönheiten des Landes. Endlose Hügellandschaften, terrassenförmig angelegte Felder, ein Sonnenuntergang am Kivusee, freilebende Gorillas in den Ausläufern der Virunga-Kette, jener Reihe von fünf Vulkanen, die die Grenze zu Uganda und zum Kongo bilden.

Über eine mäßig befahrene zweispurige Straße geht es Richtung Stadtzentrum. An ihren Rändern stehen Werbetafeln der einheimischen Kaffee- und Teeindustrie, auf anderen versprechen Telefonnetzbetreiber landesweit einen lückenlosen Empfang oder kündigt eine internationale Hotelgruppe die baldige Eröffnung eines Kongresszentrums an. Vorbei an dem Parlamentsgebäude, das nunmehr das Übergangsparlament beherbergt und noch deutlich sichtbare Spuren eines Granatenbeschusses zeigt, und vorbei an einer Reihe von Geschäften, kleineren Dienstleistungsunternehmen und Büros, die das Kigali Business Center ausmachen, kommt der Kleinbus nach Kiovu, einem zentral gelegenen Stadtteil, der von der Einfallstraße in zwei Hälften getrennt wird. Rechts, in Kiovu des pauvres, lebten die Armen, links, in Kiovu des riches, die Reichen und Diplomaten, erklärt mir der Beifahrer auf Französisch. Er ist es auch, der den Bus gezielt zum Hôtel des Mille Collines dirigiert. Am französischen Kulturzentrum vom Kreisverkehr rechts ab, einer ansteigenden Straße folgend, erscheint es nach gut 200 Metern auf der rechten Seite. Das Hotel, das zum Symbol der Hoffnung inmitten des Völkermords geworden ist. Während ringsumher die Menschen zu Zehntausenden getötet wurden, war es Zufluchtstätte für mehr als eintausend Tutsi, die dort dank der UN-Präsenz, vor allem aber dank des Verhandlungsgeschicks des Hotelgeschäftsführers, einem Hutu mit guten Verbindungen zu den politischen und militärischen Drahtziehern des Völkermordes, alle überlebten.

Viel hat sich seitdem augenscheinlich nicht im Hotel verändert. Der Pool, der damals die Flüchtlinge mit Wasser versorgte, ist noch vorhanden, wenn auch die Farbe an vielen Stellen abblättert und der Beton Risse hat. Auch die große Akazie, unter der, so heißt es, einige Völkermordopfer begraben sein sollen, steht noch im Garten. Die Zimmer wirken zwar, als müssten sie bald renoviert werden, aber zusammen mit dem Restaurant in der vierten Etage, das einen Panorama-Blick auf die Hügel von Kigali bietet, vermitteln sie durchaus noch eine Vorstellung von vergangenen Zeiten, als das Mille Collines das erste Hotel Ruandas war.

An der Rezeption kümmert sich Zozo, der Kleine, wie der Beifahrer aus dem Kleinbus in Anspielung auf seine geringe Körpergröße genannt wird, um Gepäck und Anmeldung. Er besorgt auch den Geldwechsel und den Fahrer, der mich am nächsten Morgen nach Ntarama und Nyamata bringen soll, zwei Gedenkstätten des Völkermords, die von Touristen gewöhnlich aufgesucht würden, wie mir Zozo versichert. Beide liegen etwa eine Fahrstunde von Kigali entfernt in südlicher Richtung, und beide lassen ein beklemmend-anschauliches Bild entstehen von dem, was sich hinter dem Wort »Völkermord« verbirgt. Übertroffen auf der Skala des Schreckens werden sie nur noch durch das, was ich wenige Tage später in der Gedenkstätte Murambi, knapp 100 Kilometer weiter westlich, sehen und, vielleicht noch schlimmer, riechen sollte.

Etwa 5000 Menschen wurden laut Informationstafel auf dem Gelände der Kirche von Ntarama und in der Kirche selbst getötet, 45 000 sollen es an und in der Kirche von Nyamata gewesen sein. Die vermeintlich sicheren Refugien waren zur tödlichen Falle geworden, dort wie an vielen anderen Orten in Ruanda. In Ntarama sieht das Kircheninnere aus, als habe das Morden erst vor Kurzem stattgefunden. Der Boden im Gang und zwischen den Bänken ist bedeckt von einer makabren Mischung aus menschlichen Knochen, Kleidungsresten, Töpfen und Tellern und halbzerrissenen Gebetbüchern oder religiösen Heften. Handtaschen und aufgerissene Koffer, aus denen die Habseligkeiten der in Panik geflüchteten Tutsi quellen, liegen umher. Auch ein populärwissenschaftliches Lexikon gehört offensichtlich zu den Schätzen, die gerettet werden sollten, ebenso wie ein Buch, das just an der Stelle aufgeschlagen ist, wo ein weißes und ein schwarzes Mädchen schwesterliche Eintracht demonstrieren. Jetzt wirkt es nur noch wie ein naiver und völlig deplazierter Appell zur Überwindung rassischer Vorbehalte. Gebeine und Totenschädel, die an den Wänden und in den Ecken aufgehäuft wurden, warten darauf, in Säcke gefüllt und dann, nach einer Zwischenlagerung in einem Nebenraum, in dem bereits etliche Säcke stehen, zur Reinigung gebracht zu werden. Zuständig dafür sind eine Frau und ein Mann, beide, wie sie sagen, Überlebende des Massakers vom 15. April 1994. Schon seit Jahren arbeiten sie auf dem Kirchengelände, am Anfang, um Beweise zu sichern, jetzt, um die Erinnerung wachzuhalten. Sie sitzen vor zwei mit einer Lauge gefüllten Eimern, in die sie die Schädel und Knochen eintauchen, um sie danach mit einer Bürste zu bearbeiten. Eintauchen, abschrubben, eintauchen, abschrubben, der Ablauf sitzt, als handele es sich um Karotten. Die gereinigten Schädel und Knochen werden in einer Art Schuppen aus Holz mit vielen, die Luftzirkulation sichernden Spalten in den Wänden gelagert oder, genauer gesagt, ausgestellt. Auf zwei zirka fünfzehn Meter langen und bis zu zwei Meter breiten Tischen sind zunächst die Totenschädel aneinandergereiht, nebeneinander und hintereinander. Dann folgen die Knochen. Oberschenkelknochen sind es zumeist. Dicht an dicht liegen sie, manchmal auch mehrere übereinander. Ein Kondolenzbuch lädt dazu ein, Wünsche, Gedanken, Hoffnungen zu äußern. Die Betroffenheit der Besucher ist mit den Händen zu greifen. Immer wieder der Appell »never again«. »Manchmal haben wir den Eindruck«, sagt die Frau, und der Mann nickt zustimmend, »als kämen die Menschen zu uns aus einer anderen Welt«.

Die Kirche in Nyamata ist um einiges größer als die Kirche von Ntarama. Auf den ersten Blick sieht sie längst nicht so beschädigt aus wie die Kirche von Ntarama, wo Löcher in die Wände geschlagen wurden, damit die Mörder eindringen konnten. Im Innern jedoch sind die Spuren der Mordaktion unübersehbar. Rund um den Altar ist der Betonboden dunkel gefärbt, auch das Altartuch hat eine rostbraune Färbung. Ein wahrer Blutsee muss in der Kirche gestanden haben. Eine Ahnung von dem, was hier geschehen ist, geben auch die vielen kleinen Lichtsäulen in der Kirche. Es ist das Sonnenlicht, das durch Löcher strahlt, die von Handgranatensplittern ins Wellblechdach geschlagen wurden. Um das Töten zu beschleunigen, hatten die Täter Handgranaten in die Menge geworfen. Ausgeklügeltere Methoden des Tötens zeigen Instrumente, die in einem Nebenraum ausgestellt sind. Angespitzte Stöcke, die in Körperöffnungen gestoßen wurden, zählen da augenscheinlich noch zu den eher herkömmlichen Varianten.

Ansonsten ist bei der Präsentation des Verbrechens der Unterschied zwischen 5000 Toten und 50 000 Toten nicht groß. Schädel und Knochen sind zu Hunderten und Tausenden ausgestellt. Einschnitte in den Knochen, Risse und Löcher in den Schädeldecken geben eine Ahnung davon, wie der dazugehörende Mensch gestorben sein muss. Bekanntere Persönlichkeiten sind vor der Kirche beigesetzt. Dort befindet sich auch das Grab von Tonia Locatelli, einer italienischen Entwicklungshelferin, die schon im März 1992 bei dem Versuch, ein Massaker an den Tutsi von Nyamata zu verhindern, getötet wurde und heute als das erste weiße Opfer des Völkermords gilt.

Wenige Tage später dann Murambi. Nichts weist auf das hin, was hier zu sehen sein wird. Wie die Karikatur eines Hausmeisters bei einer Schulinspektion läuft ein Mann eilfertig von Tür zu Tür eines ehemaligen Schulgebäudes. Er stößt eine Tür auf, verharrt kurz und eilt, ohne das Ankommen des Besuchers abzuwarten, weiter zur nächsten Tür. Wer den ersten Raum mit ohnehin schon dunkler Vorahnung betritt, bleibt abrupt stehen. Nicht menschliche Totenschädel oder Gebeine erwarten ihn, sondern mumifizierte Leichen, die auf Brettergestellen abgelegt wurden. Etwa fünfzig pro Klassenraum. Eng nebeneinander die Erwachsenen, auf gleicher Länge übereinander die Kinder. Kleinkinder oder Babys liegen, so scheint es, bei ihren Müttern oder Vätern, da die Körper in ihrer Lage wie zueinandergehörig wirken. Einige haben noch Reste ihrer Kopfbehaarung, andere zeigen Spuren tödlicher Verletzungen, in der Regel am Kopf, der das bevorzugte Ziel von Hieb- und Schlagwaffen gewesen sein muss. Am 23. April 1994 habe das Morden in Murambi begonnen, sagt Emmanuel Murangira am Ende des Gangs, als ich zu ihm aufschließe, noch halb betäubt vom Geruch der vielen mumifizierten Leichen. Zur besseren Konservierung wurden sie mit einer kalkartigen Substanz bestreut, was ihnen nicht nur ein gespenstisches Aussehen gibt. Auch die Luft in den stickigen, von außen mit Plastikplanen abgedunkelten Klassenräumen ist ekelerregend schlecht. Es ist beinahe so, als würde sie in jede Pore eindringen und mit jedem Atemzug intensiver und gegenständlicher schmecken. »Ich bin hier für meine Frau und meine fünf Kinder«, fährt Emmanuel Murangira fort. »Nach einem tagelangen Martyrium – die Belagerer hatten die Wasserleitung zur Schule unterbrochen und keine Nahrungsmittel mehr hineingelassen –, wurden sie hier umgebracht. Zusammen mit 50 000 anderen.« Er selbst hat wie durch ein Wunder überlebt. Eine Kugel verletzte ihn an der Stirn. Für die Mörder war er wegen der Wunde, deren Spuren heute noch deutlich zu sehen sind, so sicher tot, dass nicht noch einmal geschossen oder zugeschlagen werden musste. »Vielleicht liegen meine Frau und Kinder auch auf den Gestellen. Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich aber liegen sie noch in einem der Massengräber da oben«, meint Emmanuel Murangira und zeigt zum Eingang des Schulgeländes. »Ich jedenfalls gehe hier nicht mehr weg. Ich weiß, was hier geschehen ist und werde darüber reden.« Und wieder erzählt er von den Tausenden Tutsi-Flüchtlingen im Schulkomplex. Davon, dass die Behörden nur vier Polizisten zu deren Schutz abstellen wollten, von ihrer Verzweiflung und von dem Furor, mit dem die Hutu-Mörder von nah und fern sich an das Morden gemacht hätten. Sie seien jetzt (»aber noch längst nicht alle«) in Sichtweite im Gefängnis auf dem gegenüberliegenden Hügel, sie seien es auch gewesen, die die Leichen, die in den Klassenräumen zu sehen seien, hätten exhumieren müssen. »So werden sie immer an ihre Taten erinnert«, schließt Emmanuel Murangira in einem Anflug bitterer Zufriedenheit.

Erinnern. Erinnerung. Worte, die in Ruanda in vielen Gesprächen fallen und an vielen Orten visualisiert werden. Nicht nur in größeren Städten oder an den Hauptschauplätzen des Völkermords, auch in kleineren Dörfern und an den vielen kleinen Plätzen, wo Menschen umgebracht wurden. Ein kurzer Halt nur an einem der Kreuze oder Gedenksteine, an einer handbeschriebenen Holztafel oder einer Steinplatte, die ein Massengrab abdeckt, und schon kommen eine Frau oder ein Mann herbeigelaufen und erklären, was dort 1994 geschehen ist, wie vieler Toter an dieser Stelle gedacht wird und wie wichtig diese Form der Erinnerung ist, als Mahnung an die vielen noch unentdeckten Täter und als Aufruf, künftig wachsam zu sein. Das steht zwar so oder so ähnlich oft auch auf den Tafeln an den Gedenkstätten, zusätzlich zu Kinyarwanda meist in Französisch oder Englisch, aber mündlich bekräftigt scheint es Information und Botschaft in besonderer Weise zu beglaubigen, ganz so, wie es das Selbstverständnis der landesweit größten Opferorganisation Ibuka (Erinnere dich!) einfordert. »Welch’ bessere Antwort auf den Schrecken der Verbrechen gibt es in der heutigen Welt, als unbeirrbar davon Zeugnis abzulegen«, lautet eine ihrer Handlungsempfehlungen, nachzulesen auf dem Eingangstor zu einem Gedenkort an der Straße von Kigali nach Nyamata und Ntarama.1

Die Erinnerung an den Völkermord und das Sprechen über die Massaker sind jedoch, das wird schnell klar, nicht auf die Vergegenwärtigung der Vergangenheit beschränkt. Es geht nicht nur um die Sammlung und Bewahrung von Informationen, um Manifestationen der Betroffenheit und guten Absicht, also um das Gedenken an sich, damit das, was allgemein als Lernen aus der Geschichte bezeichnet wird, überhaupt möglich wird. Die verschiedenen Formen der Erinnerung sind vielmehr auch und vor allem ein Vehikel, um die Täter des Völkermords strafrechtlich zur Verantwortung ziehen zu können. Immer zahlreicher werden die am Straßenrand aufgestellten Tafeln, die in großen Lettern von der Gacaca-Justiz künden. Selbst in entlegenen Regionen sind sie anzutreffen und fallen auch sofort auf, da sie ihre Botschaft auf mehreren Quadratmetern verkünden. Auf einem Hintergrund, der an den Völkermord und dessen Folgen erinnert – neben den Großaufnahmen einer Frau und eines Mannes, deren Gesichtsausdruck und Haltung tiefste Erschütterung und Verzweiflung zeigen, sind links ein brennendes Haus, vor dem ein mit einer Machete bewaffneter Mann steht, und rechts Szenen aus Gerichtsverhandlungen sowie zwei Frauen zu sehen, die bei der Feldarbeit sind und in einer Mischung aus Angst und Scham ihre Blicke auf etwas richten, das in der Nähe auf dem Boden liegen muss – ist zu lesen: »Gacaca-Gerichte«. Darunter: »Die Wahrheit heilt. Wenn wir gestehen, was wir getan haben, wenn wir sagen, was wir gesehen haben, wird das unsere Wunden schließen.«

Geplant ist, dass über eine landesweite Reaktivierung der traditionellen Gacaca-Justiz die justizielle Aufarbeitung des Völkermords beschleunigt werden soll. Es heißt, dass über 120 000 Völkermordverdächtige in den Gefängnissen Ruandas sitzen, unter größtenteils entsetzlichen Haftbedingungen. Die ordentliche Justiz des Landes ist überfordert. »Zwischen 1000 und 1500 Verfahren kann sie im Jahr durchführen«, erklärt mir Jean de Dieu Mucyo, der Justizminister, »und der Internationale Strafgerichtshof in Arusha befasst sich nur mit den Organisatoren des Völkermords, nicht mit den vielen anderen Tätern«, ergänzt er noch. Bis zum Herbst 2002 sollen in zwei Etappen gut 700 Gacaca-Gerichte geschaffen werden. Sind die Erfahrungen, die in den Pilotverfahren, die der Informationsbeschaffung und Sachverhaltsklärung dienen und noch nicht mit einem Urteil enden sollen, ermutigend, soll ihre Zahl so erhöht werden, dass es bis hinunter zur untersten Verwaltungseinheit, der Zelle, je ein Gericht gibt. Das wären dann über 10 000 Gacaca-Gerichte. »Wichtig ist«, so noch einmal Mucyo, »dass wir uns mit unserer traurigen Vergangenheit in einer Weise auseinandersetzen können, die zu unserer Kultur gehört, die den Menschen in Ruanda etwas sagt. Sonst wird es keine Versöhnung geben.«2

Einen ersten konkreten Eindruck von dem ruandischen Weg, an den Mucyo wohl gedacht haben muss, gewinne ich im November 2002, gut eine Woche, bevor nach der Wahl der Richterinnen und Richter die zweite, eigentliche Pilotphase der Gacaca-Justiz beginnt. In der Stadt Nyarutega im Süden des Landes findet eine so genannte »Présentation« statt. Das ist eine Art Gefangenenvorstellung, die das Ziel hat, möglichst früh unschuldige Häftlinge identifizieren und aus der Haft entlassen zu können. Ein Staatsanwalt liest vor, wessen ein Häftling beschuldigt wird, dieser äußert sich dazu und die lokale Bevölkerung, mit dem Geschehen in der Region zur Zeit des Völkermords gewöhnlich bestens vertraut, bestätigt, korrigiert oder verwirft die Beschuldigung. Hunderte, manchmal Tausende von Menschen nehmen daran teil, zuletzt, über mehrere Tage hinweg, im Stadion der in der Nähe gelegenen Provinzhauptstadt Butare, wo sage und schreibe 2700 Häftlinge »vorgestellt« wurden, von denen allerdings nur 32 ihre Freiheit erhielten.

In Nyarutega sind es gut 50 Gefangene, unter ihnen vier Frauen, die vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung von den Ladeflächen zweier Lastwagen steigen. Die meisten scheinen gut gelaunt, lachen, als sie von Familienmitgliedern und Freunden begrüßt werden. Wäre nicht die rosafarbene Kleidung, die sie als Völkermordhäftlinge kennzeichnet, könnte ein zufälliger Beobachter eher an eine folkloristische Feier oder an einen etwas bizarren Arbeitseinsatz denken als an eine justizielle Veranstaltung, auf der es leicht um Leben oder Tod gehen kann. Nachdem die Gefangenen Aufstellung genommen haben (für einige ältere wurde eine Bank bereitgestellt), beginnt die Veranstaltung. Zwei Gefangene führen Protokoll, drei weitere, auf deren Mützen Sûreté steht, sind für die Sicherheit verantwortlich, auch wenn nicht klar wird, für welche, schließlich sind auch bewaffnete Polizisten vor Ort.

Acht Häftlinge sollen heute zu Wort kommen, eine Frau wird nicht unter ihnen sein. Der Ablauf ist immer derselbe. Der Häftling tritt vor und nennt seinen Namen, der Staatsanwalt verliest die Beschuldigung, dann spricht wieder der Häftling. Wenn er geendet hat, kniet er nieder, beteuert, dass er die Wahrheit gesagt hat, bekreuzigt sich, steht wieder auf und geht zurück an seinen Platz.

Der erste Gefangene, ein Mann mittleren Alters, soll einen Mord begangen haben. Seine Unschuldsbeteuerungen werden von den Zuhörern zurückgewiesen, die dicht gedrängt auf dem Platz vor dem Gebäude der Gemeindeverwaltung stehen. Ein Gacaca-Gericht soll über die Anklage entscheiden. Der zweite Gefangene, der vortritt, wirkt noch sehr jung. Er soll eine Frau getötet haben, doch er behauptet, nicht er, sondern ein anderer habe die Tat begangen. Er nennt dessen Namen und auch den Namen einer Zeugin, die alles gesehen haben soll. Auch hier wird später ein Gacaca-Gericht entscheiden. Die nächsten drei Häftlinge sollen bald freigelassen werden, da sich die Anklagen als substanzlos erwiesen haben. Alle drei sind der Bevölkerung gut bekannt, ihre Unschuld kann durch eine Reihe von Zeugen bestätigt werden, und als der Staatsanwalt tatsächlich die baldige Freilassung ankündigt, wird dies mit Applaus quittiert. Die letzten drei Häftlinge, die an diesem Tag »vorgestellt« werden, müssen sich wieder vor Gacaca-Gerichten verantworten. Während in einem Fall nicht geklärt werden kann, wie der Tatvorwurf überhaupt lautet, stoßen in den beiden anderen Fällen die Unschuldsbehauptungen auf heftigen Protest. Es geht um mehrfachen Mord, auch an Kindern, da reicht der kleinste Einwand, um den Fall zur Klärung an die Gacaca-Justiz zu verweisen. Alle, die mutmaßlichen Täter eingeschlossen, scheinen große Hoffnungen in sie zu setzen.

Soweit zu Nyarutega. Zwei Tage später habe ich Gelegenheit, einen zweiten, noch genaueren und anschaulicheren Eindruck von der in Ruanda angestrebten Vergangenheitsaufarbeitung zu bekommen. Schauplatz ist diesmal ein Gefängnis am entgegengesetzten Ende des Landes, im Norden in der Provinz Byumba. 165 Frauen und 103 Männer sind dort inhaftiert, zusammen mit einer beträchtlichen, nicht genau bekannten Zahl von Kindern und Säuglingen.

Auf den ersten Blick entspricht das Gefängnis so gar nicht dem Klischee von einem afrikanischen Gefängnis, das, überfüllt, feucht, fensterlos und mit miserabler hygienischer Ausstattung, jedem internationalen Mindeststandard Hohn spricht. Die fünf, aus Backstein oder Adobe-Ziegel gemauerten Gebäude des Gefängnisses erinnern eher an eine weitaus weniger repressiv wirkende Anlage, eine Schule beispielsweise, und in der Tat stellt sich später heraus, dass das Gefängnis erst 1997 eingerichtet worden war, indem mehrere nah beieinander liegende Gebäude so umfunktioniert wurden, dass darin Menschen inhaftiert werden konnten. Der Bedarf an Haftraum war in Ruanda angesichts immer weiter steigender Häftlingszahlen groß, und es musste schnell Abhilfe geschaffen werden. Eine davon ist das Gefängnis in Nyankenke bei Byumba.

In der Mitte des Gefängnisareals, zwischen Küche und Latrine, steht ein etwas größeres Gebäude, das als Lagerraum benutzt wird. Häftlinge haben in der Nähe einen Generator aufgestellt, denn heute soll im Lagerraum ein Film gezeigt werden. Dafür wird Strom benötigt, den es ansonsten im Gefängnis nicht gibt. Internews-Rwanda, Ableger einer internationalen NGO, die die Unterstützung unabhängiger Medien zur Förderung von Demokratie auf ihre Fahnen geschrieben hat, möchte einen Film zeigen: über Gerichtsverfahren gegen Völkermörder, über Geständnisse und deren Wirkung auf den Versöhnungsprozess und über den Vorteil einer aktiven Teilnahme aller Betroffenen an der Aufklärung von Völkermordverbrechen.

Im Lagerraum verharrt schon ein Großteil der Gefangenen. Sie sitzen entweder auf Holzbänken oder auf dem Boden, streng nach Geschlecht getrennt. Die meisten Gefangenen sind in Zivilkleidung, nur einige wenige tragen die rosafarbene Gefängniskleidung, die von der Übergangsregierung eingeführt worden ist, weil, so wird gesagt, die alte schwarze Häftlingskleidung zu sehr für das Verbrechen, für das Dunkel-Bedrohliche gestanden und das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft symbolisiert habe. Die Farbe Rosa hingegen löse positive Gefühle aus, sie hebe die Besserungsfähigkeit ihrer Träger hervor und sei damit auch Ausblick auf die Zukunft des Landes.

Die Stimmung ist ernst, ruhig und wird beinahe feierlich, als ein Gefangener vortritt und ein Lied intoniert, in das alle anderen nach ein paar Takten einfallen. Es ist ein religiöses Lied, in dem viel von Gott, Hoffnung und Trost die Rede ist und vor allem davon, dass das Heil auch eigener Anstrengung bedarf. Das Bereuen eigener Sünden gehöre ganz besonders dazu, was allerdings erfordere, sie erst einmal als solche anzuerkennen. Ohne das Eingeständnis eigener Fehler, so schlimm sie auch gewesen sein mögen, sei kein Friede möglich. Und wer dies zu Lebzeiten nicht versuche, könne später auch nicht auf die Erlösung im Paradies hoffen.

Derart eingestimmt, hören die Gefangenen dann der Gefängnisleiterin zu, die in einer kurzen Ansprache darüber informiert, was in den nächsten zwei Stunden zu sehen und zu hören sein wird. Um die Vergangenheit soll es gehen, um Verbrechen, die den Namen Ruandas auf traurige Weise in der ganzen Welt bekannt gemacht hätten und die nun, so sei beschlossen worden, in einer Weise aufgearbeitet werden sollen, die neu sei, und zwar ebenfalls in der ganzen Welt. Mehr wolle sie dazu jetzt nicht sagen, sondern das denen überlassen, die speziell zu diesem Zweck heute gekommen seien. Damit geht sie über zur Begrüßung und Vorstellung der Mitarbeiter von Internews, des Vertreters des Justizministeriums sowie des Gacaca-Beauftragten der Provinz Byumba. Nach jeder Namensnennung klatschen die Gefangenen höflich und auch ich, der ich nach den Worten der Gefängnisleiterin von weit her gekommen bin, um Ruandas Umgang mit der Vergangenheit kennenzulernen, werde mit Applaus bedacht. Die kurze Ansprache schließt mit der Ermahnung, offen zu sein für das, was gleich komme, und keine Scheu zu haben, Fragen zu stellen.

Dann beginnt der Film. Zu sehen ist zunächst eine Bildersequenz mit Aufnahmen vom Völkermord. Machetenschwingende Männer auf dem Weg zu einem Mordeinsatz; Straßensperren, an denen einzelne Personen aus einer Gruppe von Menschen herausgegriffen und getötet werden; ein fußballfeldgroßer Platz übersät mit Leichen, Männer, Frauen und Kinder grässlich verstümmelt in der Sonne liegend, deren Licht das Rot des Blutes zur dominierenden Farbe macht. Dieses Bild, die Hunderten von Toten auf einem Platz, begleitet die Zuschauer den gesamten Film über. Jedes Mal eingeblendet, wenn ein neues Thema angesprochen oder ein altes wieder aufgegriffen wird. Und jedes Mal ist die Reaktion des Publikum die gleiche: ein Aufstöhnen geht durch die Reihen, einzelne Rufe der Entrüstung sind zu hören, Blicke werden gesenkt und Augen mit Händen verdeckt.

Am Ende des Rückblicks auf den Völkermord ertönt eine Stimme aus dem Off. Drei Gerichtsbarkeiten, erklärt sie, seien derzeit mit der Ahndung der Völkermordverbrechen befasst. Die Erste sei das internationale Tribunal in Arusha. Es urteile über die, die den Völkermord geplant und organisiert hätten, die ihre hohe Stellung in Staat und Gesellschaft für ihre verbrecherischen Ziele missbraucht hätten und daher als die Hauptverantwortlichen anzusehen seien.

Die nächste Einstellung zeigt dann den Verhandlungssaal in Arusha. Ein Mann, ein Weißer, sitzt auf der Anklagebank, den Kopf mit einer Mütze bedeckt, und antwortet auf Fragen, die das Gericht ihm stellt. Der Name des Mannes und die ihm später zugedachte Strafe – zwölf Jahre Gefängnis – sind kaum auf der Einblendung am unteren Bildrand gelesen, als die erste Antwort kommt: Er heiße Georges Ruggiu, sei belgischer und italienischer Staatsangehöriger und habe von Anfang Januar 1994 bis Mitte Juli desselben Jahres als Rundfunkjournalist für den ruandischen Radio- und Fernsehsender Radio-Télévision Libre des Mille Collines gearbeitet. Er habe in seinen Sendungen dazu aufgerufen, »Kakerlaken« (inyenzi) – Tutsi und ihre oppositionellen Hutu-Verbündeten – zu töten. »Sich an die Arbeit machen« habe er die von seinen Zuhörern geforderte Handlung genannt. Warum er nach seiner Festnahme 1997 jahrelang seine Unschuld beteuert, sich aber schließlich entschlossen habe, ein umfassendes Geständnis abzulegen, könne er nur so beantworten, dass er lange gebraucht habe, um sich über die Tragweite seines Verhaltens klar zu werden. »Ich habe erkannt«, so Ruggiu an das Gericht und mittels Kamera auch direkt an den Zuschauer gerichtet, »dass es eine direkte Verbindung zwischen dem, was ich gesagt habe, und dem Tod vieler Menschen gab. Ich sah es daher als meine moralische Pflicht an, mich schuldig zu bekennen.« Weil er geständig gewesen sei und die Wahrheit gesagt habe, sei er nur zu einer vergleichsweise milden Strafe verurteilt worden, ergänzt die Stimme aus dem Off.

Dann: das einen Übergang ankündigende Leichenfeld, das Aufstöhnen des Publikums, und ein anderer Angeklagter des Arusha-Gerichts wird eingeblendet, Athanase Seromba, ein Ruander. Er war, so erfahren wir, im April 1994 katholischer Geistlicher und Priester in der Gemeinde Nyange in der Provinz Kibuye. Dort soll er, wie das Gericht ihm anhand der Anklageschrift vorhält, verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich sein für den Tod von weit mehr als tausend Tutsi, die sich vor den feindseligen Hutu-Milizen in die Gemeindekirche geflüchtet hatten. Da die Milizen wegen der soliden Türen und des dicken Mauerwerks der Kirche nicht an die Flüchtlinge herankommen und deshalb, mehr zufällig, nur Einzelne töten konnten, habe Seromba, so erfahren wir weiter, einen Bulldozer bestellt, um die Kirche zu zerstören. Allein durch das einstürzende Dach seien schon sehr viele getötet worden, doch die Milzen hätten nun freie Bahn gehabt und die Überlebenden im Innern der Kirche mit Gewehren, Keulen und Macheten umgebracht. Nur wenige hätten, versteckt unter Leichenbergen, das Massaker überlebt.

Ob er sich schuldig bekenne, fragt ihn die Richterin. »Nicht schuldig«, lautet die spontane Antwort Serombas, und sie ist noch nicht ganz verklungen, da zeigt die Kamera Bilder von einer zerstörten Kirche, in die die Stimme eines Mannes hineinspricht, der beschreibt, wie er mit einem Bulldozer die Kirche zerstören und später die Leichen in eine Grube schieben musste. Als die Kamera den Mann ins Bild nimmt, ist ein Gefangener in rosafarbener Gefängniskleidung zu sehen, der, während er im Gefängnis von Kibuye spricht, von weiteren Gefangenen umgeben ist, die wie er wegen des Massakers in der Kirche von Nyange bereits verurteilt worden sind und jetzt übereinstimmend aussagen, dass es der Priester Athanase Seromba gewesen sei, der damals, im April 1994, darauf bestanden habe, einen Bulldozer einzusetzen. Auch ein Überlebender kommt zu Wort. »Ich habe den Priester Seromba gesehen, als die Kirche zerstört wurde«, sagt er, um sich nach kurzer Überlegung verwundert zu fragen: »Wie kann er behaupten, dass er unschuldig ist?«

Schnitt. Wieder das Leichenfeld, wieder das Aufstöhnen der Zuschauer. Dann der Gerichtssaal von Nyanza, einer ruandischen Stadt südlich von Kigali. Das Strafgericht verhandelt gegen fast ein Dutzend Angeklagte, allen werden Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Es ist der Moment der Urteilsverkündung. Die Angeklagten stehen vor der Richterbank, es sind Männer zwischen 30 und 60 Jahren. Direkt hinter ihnen sitzen dicht gedrängt die Zuhörer, die jedes Wort des Vorsitzenden Richters aufmerksam zu verfolgen scheinen. Fünfmal die Todesstrafe, Freiheitsstrafen von sechs Jahren bis lebenslänglich, dreimal Freispruch verkündet er, und außerdem haben die Verurteilten hohe Schadensersatzleistungen an die Opfer bzw. Überlebenden zu leisten. »Das Gericht hat alles in allem ein gutes Urteil gefällt«, meint ein Mann, als er nach der Verhandlung nach seiner Meinung gefragt wird. Und weiter: »Mehr konnten die Richter nicht machen, auch wenn noch viele Fragen offen bleiben.« Was für Fragen das sind, erklären andere. »Die Angeklagten haben nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich weiß, dass einer, der nur sechs Jahre bekommen hat, einen Mord begangen hat. Ich habe es selbst gesehen«, gibt jemand zu bedenken. Ein anderer wirft ein: »Gerechtigkeit? Nein, die gibt es hier nicht für uns Überlebende. Die Strafen sind viel zu niedrig. Was wirklich passiert ist, hat das Gericht nicht aufdecken können.« Eine Frau schließlich bringt das verbreitete Unbehagen auf den Punkt: »Wir hätten die Täter selbst befragen müssen. Dann hätten sie sich nicht, unterstützt von ihren Anwälten, herausreden können.«

Wahrheit, Gerechtigkeit, Strafe – drei Begriffe, die für ihre volle Bedeutung, auch und vor allem für den Versöhnungsprozess, offensichtlich eine andere Form der Justiz benötigen. Das ist die Folgerung, die sich allen Zuschauern geradezu aufzwingt. Welche Form der Justiz das sein könnte, daran lässt der Film keinen Zweifel. Es ist die Gacaca-Justiz. Damit nähert sich die Veranstaltung ihrer eigentlichen Botschaft. Getreu der verbreiteten pädagogischen Grundregel, die Adressaten einer Botschaft »dort abzuholen, wo sie stehen«, beginnt die nächste Filmsequenz mit Aufnahmen von Gefangenen, die wie die meisten Zuschauer im Lagerraum Zivilkleidung tragen. Wir hören wieder die Stimme aus dem Off, die nun von der Religion spricht, die beiden, Tätern wie Opfern, bei der Aufklärung der vergangenen Verbrechen hilft. Den Tätern, indem sie es ihnen zur Gewissenspflicht macht, die Völkermordtaten zu gestehen und die Opfer um Verzeihung zu bitten. Den Opfern, indem sie ihnen die Pflicht auferlegt, das Geständnis der Täter anzuhören und ihnen zu verzeihen. Danach kommt ein Gefangener ins Bild und erzählt: »Ja, ich war an schlimmen Dingen beteiligt. Ich gehörte zu einer Gruppe von ungefähr 30 Personen und ich erinnere mich, dass wir in einer Nacht 26 Menschen getötet haben. Darunter waren auch viele Kinder. Die Toten haben wir in Latrinen geworfen. Was ich getan habe, bereue ich. Ich bin mir sicher, Gott hat mir verziehen. Die Menschen werden mir auch verzeihen, da habe ich keine Zweifel.« Ein zweiter Gefangener ist zu sehen, und auch er berichtet: »Ich weiß nicht, wie viele Menschen ich getötet habe. Ich weiß aber, dass unter ihnen auch Kinder waren. Und ich weiß, dass ich nicht allein war. Von denen, die hier vor mir stehen und mir zuhören, waren auch einige dabei. Wenn sie sich nicht stellen und gestehen, werde ich ihre Namen sagen. Ja, das werde ich.«

So geht das noch mehrmals: Ein Gefangener tritt auf, sagt den Umstehenden, welche Verbrechen er begangen hat, versichert, dass er seine Taten bereut und auf Verzeihung hofft, und tritt ab. Der letzte Gefangene jedoch ist ausführlicher in der Darstellung seiner Taten, und dass das kein Zufall ist, sehen wir später, als die Opfer sich äußern. »Auch ich habe Böses getan«, beginnt er sein Geständnis. »Ich habe drei Kinder getötet, doch das habe ich nicht allein getan. Zwei andere waren noch mit dabei, nämlich … [er nennt die Namen]. Dann habe ich mich einer Gruppe angeschlossen. Mit der bin ich zu einem Haus gegangen. Alle, die in dem Haus waren, haben wir getötet. Das tut mir leid, und ich bitte die Angehörigen um Verzeihung.« Der Gefangene macht eine kleine Pause, sein Blick bleibt starr auf das ihm hingehaltene Mikrofon gerichtet, dann fährt er fort: »Ich bitte auch die alte Frau um Verzeihung, die vor der Tür eines anderen Hauses saß, in dem ich mehrere kleine Kinder getötet habe. Die alte Frau hat alles gesehen. Ich habe die Kinder mit der Machete getötet und im Hof in einem Erdloch vergraben. Andere waren da noch bei mir. Ich erinnere mich genau, dass … [er nennt einige Namen] mit dabei waren.« Nach diesen Worten macht die Kamera einen Schwenk auf das Gesicht einer älteren Frau. Mit unbewegter Miene sagt sie in Richtung des Gefangenen: »Du also warst es, der meine Enkelkinder getötet hat. Ja, ich erkenne dich. Verzeihen kann ich dir nicht, das ist Sache meiner Kinder, die überlebt haben. Denn deren Kinder hast du getötet. Was ich nur verzeihen könnte, ist der Tod meines Mannes. Er wurde umgebracht. Von wem, weiß ich nicht. Wenn der Mörder gestehen würde, wenn er aufrichtig bereuen würde, dann würde ich ihm, glaube ich, verzeihen.«

Zweimal noch treten Täter und ihre Opfer beziehungsweise deren Hinterbliebene auf und schildern entweder ihre Taten oder ihre Bereitschaft, Geständnissen zuzuhören und zu verzeihen. Passend dazu weist Justizminister Mucyo von der Leinwand herunter darauf hin, dass ein Geständnis das Gewissen erleichtere. Viele geständige Völkermörder hätten ihm gesagt, dass sie sich nach dem Geständnis besser gefühlt hätten. Sie seien ruhiger geworden, weil sie nicht länger mit der Angst vor einer Entdeckung leben müssten. Auch dürfe nicht vergessen werden, dass durch ein Geständnis die Überlebenden endlich erführen, wie ihre Angehörigen umgekommen und wo sie begraben worden seien. Wer gestehe, versichert Mucyo dem Gefängnispublikum, könne damit rechnen, dass sein Fall so schnell wie möglich vor einem Gacaca-Gericht verhandelt werde. Außerdem komme er in den Genuss einer Strafmilderung, die die normalerweise vorgesehene Strafe um bis zur Hälfte verkürzen könne. Damit nicht genug. Die verkürzte Freiheitsstrafe verbüße er wiederum nur zur Hälfte im Gefängnis. Die andere Hälfte leiste er in Form gemeinnütziger Arbeit ab, indem er Häuser oder Straßen baue oder, bei entsprechender Ausbildung, im Gesundheitswesen arbeite. Während dieser Zeit wohne er selbstverständlich bei seiner Familie.

So weit Mucyo in die Stille des Lagerraums hinein, in dem seit mittlerweile gut einer Stunde die Gefangenen den Film sehen, aufmerksam und sehr diszipliniert, nur durch die besagten Völkermordszenen zu kurzen Unmutsäußerungen oder Entrüstungsrufen hingerissen. Das ändert sich fast schlagartig, als die Vorführung sich ihrem Ende nähert. Anspannung und Konzentration weichen einer allgemeinen Empörung, die alle Gefangenen zu erfassen scheint. Am Ende kommt der Film noch einmal auf seinen Anfang zurück. Er zeigt Bilder von Arusha, von den Lebensbedingungen und der Behandlung der Angeklagten dort und lässt Gerichtsangestellte zu Wort kommen. So erklärt Amadou Dieng, der Kanzler des Gerichts, auf den Vorwurf, das Gericht kümmere sich nicht um die Sicherheit von Belastungszeugen, mehrere seien gar nach ihrer Rückkehr nach Ruanda umgebracht worden, lapidar, der Tod liege nicht in der Hand des Gerichts, jeder müsse mal sterben. Zwei Angeklagte sind zu sehen, wie sie offensichtlich gut gelaunt neben der Anklagebank stehen und zur Begrüßung ihre Verteidiger umarmen. Aufnahmen von Einrichtungen in Arusha wie der Gefängnisküche oder des Gymnastikraums gehen über zu Ausschnitten aus einem Interview mit Jean Paul Akayesu, der wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. »Ich habe hier zugenommen«, sagt ein erkennbar übergewichtiger Akayesu, »das Essen ist hier viel zu fett, ich habe jetzt eine Diät beantragt.«

Dann ist der Film aus. Jetzt können Fragen gestellt werden, ja es sollen, bitte schön, Fragen gestellt werden. Die ganze Angelegenheit, gibt die Gefängnisleiterin zu bedenken, sei zu wichtig, als dass sie einfach nur zur Kenntnis genommen werden könne. – Eine kurze Pause, dann melden sich die ersten Gefangenen. Die Fragen beziehen sich nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, auf Arusha und die dortigen Verfahren. Die Botschaft des Films, am Ende noch einmal zugespitzt, war klar genug. Außerdem ist der Kontrast zur eigenen Situation im Gefängnis so groß, dass Verständnisfragen überflüssig wirken. Wie sagte noch ein geständiger Völkermörder in seiner kurzen, vor einem ruandischen Gericht abgegebenen Erklärung unter dem Beifall der Gefangenen: »Wir sind manipuliert worden. Man hat uns benutzt, und diejenigen, die uns benutzt haben, sind heute schon wieder oben. Ihnen geht es gut, aber wir sind hier, in diesem Gefängnis.«

Die Fragen, die gestellt werden, beziehen sich hauptsächlich auf die gemeinnützige Arbeit und auf die Dauer der Gacaca-Verfahren. Ein Gefangener will wissen, wann die Unschuldigen freigelassen werden, ein anderer, wie die gemeinnützige Arbeit organisiert ist und ob auch bereits Verurteilte dazu herangezogen werden können. Schließlich fragt eine Frau – und während sie die Frage stellt, wird es so still, dass das Summen einer Fliege zu hören ist –, was denn mit den eigenen Toten sei, über die würde niemand reden. Sie selbst habe ihre ganze Familie im Krieg verloren. Jetzt sei sie im Gefängnis, völlig unschuldig, und die Mörder ihrer Familie liefen frei herum. »Ich möchte wissen«, sagt sie, »wer meine Familie umgebracht hat. Ich möchte, dass auch diese Leute bestraft werden.«

Der Erste, der auf Seiten der Staatsvertreter das Wort ergreift, ist der Gacaca-Beauftragte der Provinz. Das wichtigste Ziel von Gacaca sei es, herauszufinden, wer schuldig und wer unschuldig sei, erklärt er. Wenn alle sich beteiligten, könne das schnell gehen. Um die große Zahl von Häftlingen in den Gefängnissen zu verringern, unter denen, wie er wisse, auch viele Unschuldige seien, gebe es kein besseres Mittel als Gacaca, das müsse man einfach verstehen. Nach ihm skizziert der Vertreter des Justizministeriums noch einmal in groben Zügen das System der gemeinnützigen Arbeit, die Möglichkeit der Strafmilderung bei frühzeitigem Geständnis sowie die Art und Umstände der zu erledigenden gemeinnützigen Arbeiten. An die Gefangene gewandt, die im Namen ihrer eigenen Toten Gerechtigkeit gefordert hatte, fährt er fort: »In der Tat hat es während der Befreiung des Landes von dem völkermörderischen Regime Morde gegeben, die von Angehörigen der Befreiungsarmee begangen wurden. Das ist sehr bedauerlich, kann aber nicht im Entferntesten mit dem Völkermord gleichgesetzt werden. Wenn einzelnen Soldaten angesichts der Gräuel, die sie auf dem Vormarsch sehen mussten, die Nerven durchgegangen sind und sie die Täter oder vermeintlichen Täter getötet haben, ist das etwas völlig anderes als die kaltblütige Ermordung einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Natürlich werden auch die Täter dieser vereinzelten Vergeltungsaktionen zur Verantwortung gezogen werden, allerdings nicht vor Gacaca-Gerichten. Die sind nur für die Bestrafung der Völkermordtäter zuständig. Die anderen Täter – und ich sage noch einmal: es handelt sich nur um Ausnahmefälle –, werden, weil sie Soldaten der Befreiungsarmee waren, vor ein Militärgericht gestellt und, sofern schuldig, bestraft.«

In der zweiten Fragerunde fragt zunächst wieder eine Gefangene, und zwar in den ansteigenden Applaus ihrer Mitgefangenen hinein, ob diejenigen, die zu Unrecht inhaftiert worden seien, eine Entschädigung erhielten. Eine andere Gefangene weist darauf hin, dass viele alles verloren hätten. Ihr Eigentum sei beschlagnahmt worden, in ihren Häusern wohnten andere Menschen – wie solle da die Freiheit aussehen? Eine ältere Gefangene meint, sie sei jetzt schon acht Jahre im Gefängnis. Sie wolle nicht im Gefängnis sterben. Die Alten sollten als Erste freigelassen werden. Viele, auch sie selbst, seien grundlos ins Gefängnis geworfen worden, oft direkt aus den Flüchtlingslagern. Gacaca solle daher bald beginnen, es sei wirklich dringend. Diesen Wunsch äußert auch die nächste Gefangene, die sich zu Wort meldet. Nicht nur viele Alte, auch viele Kinder und Jugendliche seien noch in den Gefängnissen, ergänzt sie. Die aber bekämen dort keine schulische Ausbildung, sie säßen die Zeit nur ab, was für die Betroffenen wie für die Zukunft des Landes ein unerträglicher und gefährlicher Zustand sei.

Nun ist es der Vertreter des Justizministeriums, der als Erster antwortet. Die Einrichtung der Gacaca-Justiz sei ein schwieriges und daher langwieriges Unterfangen, sagt er. Er geht auf den Aufbau der Gerichte ein, auf die Rolle der Richter und die verschiedenen Verfahrensstufen. »Gerechtigkeit herzustellen ist nun mal nicht einfach. Auf allen Ebenen müssen viele aktiv werden, damit das Ziel erreicht werden kann. Willkür, zum Beispiel in Form von Beschlagnahmungen ohne rechtliche Grundlage, darf es dabei nicht geben. Die Gesetze gelten für alle, ausnahmslos.« Der Gacaca-Vertreter der Provinz wendet sich direkt an die älteren Gefangenen und antwortet auf ihre Fragen mit einer Gegenfrage. Ob sie denn wirklich glaubten, dass die alten und die jungen Gefangenen einfach so freigelassen werden könnten. »Du und du und du«, er zeigt auf zwei ältere und einen jüngeren Gefangenen, »ihr seid auch zu eurer eigenen Sicherheit hier. Viele Überlebende oder Angehörige von Opfern wollen sich rächen. Wenn wir euch freiließen, ohne dass eure Unschuld feststeht, wärt ihr in Gefahr, und das wollen wir vermeiden. Ich weiß, es ist schwierig, die eigene Unschuld zu beweisen, weil es oft keine Zeugen gibt. Aber wir werden für jeden Häftling eine Akte anlegen und so, systematisch, die Wahrheit herausbekommen.«

Mit diesen Worten endet nach etwa zwei Stunden die Veranstaltung. Die Gefangenen klatschen höflich, als die Gefängnisleiterin sich bei den Staatsvertretern für deren Kommen bedankt, und verlassen den Lagerraum. Die meisten schweigen, einige fragen sich leise murmelnd, wann die angekündigten Verfahren endlich anfangen. Den zwei Faltblättern, die draußen verteilt werden, eines über die Vorteile von Geständnissen, ein anderes, das mit Zeichnungen und szenischen Darstellungen versehen ist, über die verschiedenen Phasen eines Gacaca-Verfahrens, wird kaum Beachtung geschenkt. Gleichgültig werden sie entgegengenommen. Die Gefängnisleiterin bedankt sich bei mir für mein Interesse an der Aufarbeitung des Völkermords. Jederzeit könne ich wiederkommen, Erfahrungen aus Deutschland seien willkommen. Auf meine letzte Frage, wie viele Gefangene denn schon gestanden hätten, erwidert sie, dass bis jetzt noch kein Gefangener gestanden habe. »Ich verstehe das auch nicht, es können doch nicht alle unschuldig sein«, sagt sie noch.

Vermutlich hat die Gefängnisleiterin recht. Dass keine Gefangene, kein Gefangener eine Tat, die verbrecherisch sein kann, begangen haben soll, ist eher unwahrscheinlich. Doch wie können sie, oder zumindest eine nennenswerte Anzahl von ihnen, dazu bewegt werden, von den Taten zu sprechen, vielleicht sogar die eigene Tatbeteiligung einzugestehen? Was sollte, diesseits der Ebene unterschiedlichster individualpsychologischer Dispositionen, geschehen, damit auch aufseiten der Täter eine aktiv betriebene Vergangenheitsaufarbeitung möglich ist? Und, diesen Überlegungen vorangestellt und allgemeiner: Warum ist es überhaupt von Bedeutung, diesen Fragen am ruandischen Beispiel nachzugehen? Welches kann und sollte das Ziel einer von außen kommenden Beschäftigung mit dem Völkermord in Ruanda sein?

Ruanda

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