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2.1 Zwischen Verheißung und Zumutung – Aspekte einer widersprüchlichen justiziellen Herausforderung

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Ende 2002 hätte es in Ruanda wohl nur sehr wenige gegeben, die vom Internationalen Strafgerichtshof in Arusha eine effektive Hilfe für die innere Entwicklung des Landes erwartet hätten. Die meisten hätten ohne zu zögern dem abfälligen Pauschalurteil von Célestin G. zugestimmt. Dass die offizielle Politik des Landes dem Gerichtshof mit unverhohlener Ablehnung begegnete, hatten schon der Besuch im Gefängnis von Nyankenke und der dort vorgeführte Film gezeigt. Das vergleichsweise komfortable Leben der Angeklagten im Gefängnis des Gerichtshofs und dessen Desinteresse für die Opfer der Verbrechen, die er ahnden soll – beides mehrfach plakativ herausgestellt –, legitimierten im Nachhinein, so die Botschaft des Films, die ruandische Gegenstimme bei der Entscheidung des Sicherheitsrats über die Einsetzung des Gerichts.

»Arusha«, wie der Internationale Gerichtshof in Ruanda oft in verächtlicher Kürze genannt wurde, war keine Einrichtung, an die sich Hoffnungen knüpften. Sogar zu behaupten, dass der Gerichtshof schon in den ersten Jahren seines Bestehens von den Ruandern, ob Hutu oder Tutsi, nicht nur als Enttäuschung, sondern als Zumutung empfunden wurde und die politische Führung in ihm entweder eine souveränitätsfeindliche Bevormundung oder eine arrogante Einmischung in die inneren Angelegenheiten Ruandas sah, wäre sicherlich keine Übertreibung.84 Als das Gegenstück zum Gericht wurde Gacaca präsentiert, die ruandische, der Tradition verhaftete Antwort auf die angeblich seelenlose internationale Justiz, die nicht mehr als nur das Hintergrundszenario für ein einzigartiges Versöhnungsunternehmen darstelle und hauptsächlich dazu geeignet sei, den Völkermord in der außerruandischen Welt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Diese skeptische bis rundweg ablehnende Reaktion auf die Tätigkeit des Gerichts kann als bruchlose Fortsetzung der Kritik an seiner Einsetzung gelesen werden. Nicht nur auf das Jahr 1994, sondern auf die gesamte Kriegsdauer, also vom 1. Oktober 1990 bis zum 4. Juli 1994, müsse sich die zeitliche Kompetenz des Gerichts erstrecken, hatte seinerzeit Manzi Bakuramutsa, der Vertreter Ruandas im UN-Sicherheitsrat, gefordert. Schon zu Beginn des Krieges habe es Massaker an der Tutsi-Bevölkerung gegeben. 8000 Tutsi seien Anfang Oktober 1990 willkürlich inhaftiert, Hunderte von ihnen umgebracht worden. Immer wieder sei es danach zu Massenmorden an Tutsi gekommen, die in einzelnen Fällen 300, einmal sogar mehr als 400 Opfer gefordert hätten. Die »Endlösung nach ruandischer Art« sei der internationalen Gemeinschaft nicht verborgen geblieben, viele Diplomaten und internationale Organisationen seien im Land gewesen. Ein Gericht aber, das die Vorgeschichte des Völkermords ausblende und die vorherigen »Experimente« in Form einer ganzen Reihe von Massakern nicht zur Kenntnis nehme, sei für Ruanda völlig nutzlos. Es werde die Kultur der Straflosigkeit nicht beenden und in keiner Weise zur Versöhnung beitragen.85 Auf derselben Linie des Desinteresses liege die Konzeption des Gerichts als bloßes Anhängsel des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien, hatte der ruandische Delegierte noch hinzugefügt. Es seien nur zwei Strafkammern mit je drei Richtern vorgesehen, die fünfköpfige Berufungskammer müsse sich das Gericht mit dem Jugoslawien-Tribunal teilen, und das gelte auch für den Leiter der Anklagebehörde. Dessen Aufgabenbereich werde einfach nur um Ruanda erweitert.86 Und schließlich: Abgesehen davon, dass das Gericht nicht in Ruanda, dem Schauplatz der Verbrechen, seinen Sitz haben, und es nicht einmal mit ruandischen Richtern, die sich in der Geschichte und Kultur des Landes auskennen, besetzt werden solle, sei es ein Affront für die Opfer, dass das Gericht nicht die Todesstrafe verhängen dürfe. Nach ruandischem Strafrecht sei für Mord die Todesstrafe vorgesehen, doch das internationale Gericht könne als Höchststrafe lediglich eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängen. Planer und Organisatoren des Völkermords bekämen also eine geringere Strafe als die kleinen Täter, die sich vor ruandischen Gerichten zu verantworten hätten. Das würde dem Grundgedanken der Versöhnung in Ruanda zuwiderlaufen.87

Die Kritik des ruandischen Delegierten blieb bekanntlich ohne Wirkung. Folglich stimmte Ruanda gegen das Gericht, das in zeitlicher Hinsicht nur für das Jahr des Völkermords, vom 1. Januar 1994 bis zum 31. Dezember 1994, zuständig sein sollte, das im Ausland, im tansanischen Arusha tagte, das keine ruandischen Richter hatte und das die Todesstrafe nicht verhängen durfte. »Seit 30 Jahren«, erklärte in diesem Zusammenhang der Delegierte Neuseelands im UN-Sicherheitsrat, »bemüht sich die UNO um die Abschaffung der Todesstrafe, und es wäre ein großer Rückschritt, würden wir sie jetzt in das Gerichtsstatut aufnehmen.«88 Die einzige Konzession, die die UNO Ruanda machte, sollte die Schaffung einer eigenen Anklagebehörde sein. Das geschah jedoch erst gut neun Jahre später, im September 2003, und unter Umständen, die die Verflechtung von Recht und Politik schlaglichtartig demonstrierten. Bis dahin gab es ein internationales Gericht, das sich mit großer Sympathie mit Ruanda beschäftigte, von diesem aber mit äußerstem Argwohn beobachtet wurde.

Korruption, Vetternwirtschaft, Inkompetenz und Missmanagement lauteten die Vorwürfe, die regelmäßig auf ruandischer Seite zu hören waren, wenn das Gespräch auf das Arusha-Tribunal kam. Gänzlich unbegründet waren sie keineswegs, wie UN-Berichte konstatieren mussten.89 Als die Gerichtsverhandlungen 1997 begannen, kamen vor allem dann, wenn es um den Anklagepunkt der Vergewaltigung ging, noch Vorwürfe hinzu, die den Richtern mangelnde Sensibilität und fehlendes Aufklärungsinteresse unterstellten.90

Das erste Urteil des Gerichts, zugleich das erste Urteil eines internationalen Gerichts wegen Völkermords überhaupt, wurde allerdings in Ruanda mit beinahe grimmiger Befriedigung aufgenommen.91 Endlich hatte das Gericht am 2. September 1998 das festgestellt, was in Ruanda jede und jeder wusste: dass es einen Völkermord gegeben hat, dass zu den zahlreichen Abscheulichkeiten, die ihn möglich gemacht hatten, das Verbrechen der Vergewaltigung gehörte und dass der Völkermord auch hochrangige Täter hatte wie Jean-Paul Akayesu, den ehemaligen Bürgermeister von Taba, einer Gemeinde zirka 50 Kilometer südwestlich von Kigali.92 Die gewundenen dogmatischen Überlegungen, die das Gericht anstellte und die erstmals auf einen konkreten, lebenswirklichen Zusammenhang übertragen wurden – sind die Tutsi, die mit den Hutu eine Kultur teilen, eine nationale, ethnische oder rassische Gruppe; wie ist das subjektive Merkmal der Zerstörungsabsicht zu verstehen und nachzuweisen? –,93 quittierte man in Ruanda im Gestus des »wir wissen genau, wer wen warum umgebracht hat« mit ausgeprägter Indifferenz. Entscheidend war allein die Verurteilung Akayesus zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Völkermordverbrechen.

Zwei Tage später, am 4. September 1998, folgte bereits das zweite Urteil. Jean Kambanda, der Premierminister zur Zeit des Völkermords, hatte sich in allen Anklagepunkten schuldig bekannt.94 Damit war innerhalb kurzer Zeit und nun von allerhöchster, »kompetenter« Stelle erneut vor der Weltöffentlichkeit bestätigt worden, dass in Ruanda ein Völkermord stattgefunden hatte und dass dieser möglichst vollständig durchgeführt werden sollte.

Ohne ein Minimum an Kooperationsbereitschaft, das war allen Beteiligten von Anfang an klar,95 würde das Gericht nicht arbeiten können. Und da Kooperation eine Tätigkeit voraussetzt, war sie aus ruandischer Sicht immer dann gut und förderungswürdig, wenn das Gericht tätig war, das heißt Urteile verhängte, die den Horror des Völkermords und das Leiden der Opfer aller Welt deutlich vor Augen führten. Mehrfach schon hatte Ruanda wegen schleppender Gerichtstätigkeit oder vom Gericht nicht monierter, zynischer Zeuginnenbefragung damit gedroht, nicht mehr mit dem Tribunal in Arusha zusammenzuarbeiten. Zuletzt Ende 1999, als die Berufungskammer des Gerichts beschlossen hatte, die Anklage gegen Jean-Bosco Barayagwiza zurückzuweisen und seine umgehende Haftentlassung anzuordnen. Er war über 300 Tage in Haft gehalten worden, ohne den Grund für seine Inhaftierung erfahren zu haben, was nach Meinung der Kammer einen eklatanten Verstoß gegen die aus dem Habeas-Corpus-Grundsatz resultierenden Verfahrensgarantien zugunsten des Beschuldigten darstellte.96 Der Beschluss war jedoch von der Kammer wenige Monate später wieder aufgehoben worden, weil, so die Begründung, neue Tatsachen aufgetaucht seien, die den Verstoß gegen den Habeas-Corpus-Grundsatz als längst nicht so gravierend erscheinen ließen und die Haftentlassung daher nicht zu rechtfertigen vermochten. Ruanda, das von der Schuld Barayagwizas überzeugt war,97 hatte sich offensichtlich durchgesetzt. Obwohl die Kammer dem Beschuldigten in ihrer korrigierenden Entscheidung für den Fall seiner Verurteilung noch eine Strafmilderung versprochen hatte,98 liegt der Eindruck nahe, dass eine ernsthafte Belastung des Verhältnisses zu Ruanda unbedingt vermieden werden sollte. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, was zu jener Zeit zunehmend in den Fokus der Anklagebehörde geriet und mit dem Namen ihrer Leiterin, Carla Del Ponte, zu verbinden ist. Denn während ihre Amtsvorgänger bis September 1999, der Südafrikaner Richard Goldstone und die Kanadierin Louise Arbour, ihr Mandat so verstanden hatten, dass es sich ausschließlich auf Verbrechen extremistischer Hutu, begangen an Tutsi und oppositionellen Hutu, bezieht, verstand es die Schweizerin Del Ponte als einen in alle Richtungen gehenden Ermittlungsauftrag. Das schloss Verbrechen der FPR, die diese mutmaßlich bei der Eroberung des Landes 1994 begangen hatte – Zahlenangaben bewegen sich zwischen 25 000 und 45 000 Getöteten, Zeugenaussagen zufolge liegen sie noch bedeutend höher99 – mit ein. »Für mich ist ein Opfer ein Opfer«, bemerkte Del Ponte dazu. »Jedes Verbrechen, das in meine Zuständigkeit fällt, ist ein Verbrechen, unabhängig von der Identität, der Ethnie oder den politischen Vorstellungen der Täter. Die Justiz gehorcht keinem politischen Opportunismus.«100

In den Ohren ruandischer Regierungsvertreter klang das, 2002 als Selbstverständlichkeit formuliert, wie eine Kampfansage und fügte sich nahtlos ein in die Empörung über neuerliche Opfer- und Zeuginnenbefragungen, die in einer entwürdigenden Weise vorgenommen worden waren.101 »Jedes Verbrechen, das Angehörige der RPA [= APR, G. H.] begangen hatten, wurde untersucht und geahndet«, erklärte kategorisch der ruandische Übergangspräsident Paul Kagame und fügte an die Adresse der internationalen Gemeinschaft und des Ruanda-Tribunals hinzu: »Sie wissen das ganz genau. Wir haben nicht so agiert wie die Kräfte, die den Völkermord verübt haben. Von der damaligen Regierung bestrafte niemand diejenigen, die die Verbrechen begingen, im Gegenteil, es war so, als ob sie für ihre Verbrechen noch belohnt worden wären. Wie kann es da der Strafgerichtshof in Arusha wagen, die RPA, die den Völkermord beendet hat, auf dieselbe Stufe zu stellen wie die génocidaires, die wirklichen Täter des Völkermords. Wir wehren uns gegen diese Art des Denkens.« Und direkt auf das Tribunal bezogen sagte er noch, einen alten Vorwurf wiederholend: »Man muss doch nur die Mittel, die dem Gericht zur Verfügung gestellt werden, mit den Ergebnissen vergleichen. Dutzende Millionen US-Dollar werden ausgegeben, und doch dauern die Prozesse so lang und sind einige Fälle schon so lange anhängig.«102

Nach ruandischem Verständnis war jede Kritik an »Arusha« zugleich ein Grund mehr für die Reaktivierung von Gacaca. In der Summe wurde Gacaca damit zu einer Verheißung von Versöhnung und Frieden gegen einen institutionalisierten Missstand, der als Zumutung empfunden werden musste. »Er hat nicht die geringste moralische Autorität«, fasste Kagme die ruandische Position zusammen, als er auf die Kritik am internationalen Gerichtshof angesprochen wurde.103 Die Moral, das Recht der Entscheidung, liegt auf unserer Seite, bedeutete das. Aber konnte die Gacaca-Gerichtsbarkeit, Kernpunkt dieser Entscheidung und Gegenmodell, die in sie gesetzten Erwartungen überhaupt erfüllen? War sie nach ihrem ursprünglichen Inhalt und später hinzugefügtem Konzept das geeignete Instrument, um über alle Beschwörungsformeln hinaus Annäherung und inneren Frieden in Ruanda zu ermöglichen?

So weit wie die Quellen aus präkolonialer Zeit Auskunft geben, war Gacaca eine Einrichtung, die der einvernehmlichen Streitschlichtung diente. Sie gehorchte keinen festen Regeln, unterstand keiner zeitlichen Vorgabe und kannte weder ein individualisiertes Verständnis von Täterschaft noch eine klare Unterscheidung zwischen Verfahrensbeteiligten, Zeugen und Zuhörerschaft. Sie war eine partizipative Justiz, die unter dem Vorsitz eines Inyangamugayo und in einem Prozess von Rede und Gegenrede einen Konflikt so zu lösen versuchte, dass der Frieden innerhalb der Gruppe – gewöhnlich eine Großfamilie oder ein Clan – wieder hergestellt war. Das war möglich, weil die Autorität von Gacaca auf der Einsicht in die Notwendigkeit einer intakten Gemeinschaft gründete. Ubuntu wurde diese wechselseitige Abhängigkeit zwischen dem Einzelnen und der Gemeinschaft genannt, ihre Beachtung genoss unbedingten Vorrang vor einer Bestrafung. Das bezog sich auch auf schwerwiegendere Verbrechen, wenngleich Gacaca meist bei kleineren Delikten wie Beleidigung oder Körperverletzung oder bei Streitigkeiten über Grundstücks-, Erb- und sonstige Vertragsfragen Anwendung fand. Bei Mord oder vergleichbaren Straftaten (dazu zählte auch Diebstahl) hatten der Verletzte beziehungsweise dessen Gemeinschaft zunächst das Recht der Rache (nur an den männlichen Mitgliedern der Gemeinschaft des Rechtsverletzers), es sei denn, der König (Mwami) machte sein Recht geltend, ein Urteil zu fällen, oder er verwies den Fall an ein Gacaca-Gericht, das daraufhin eigenständig und unabhängig tätig wurde. Statt der Leistung von Schadenersatz oder von tätiger Wiedergutmachung, die mit dem gemeinschaftlichen Trinken eines Krugs Bananenbier besiegelt wurde, konnte dann – und bei einem Tötungsdelikt war das die angestrebte Ideallösung – eine Heirat zwischen den betroffenen Gemeinschaften arrangiert werden. Kinder aus dieser Verbindung galten als »Ersatz« für die Getöteten.104

In der Kolonialzeit verlor Gacaca erheblich an Bedeutung. Mit der Durchsetzung des kolonialen Gewaltmonopols erhielten staatliche Gerichte, die in ihren Instanzen der Herrschaftsstruktur des Landes nachgebildet waren, die Zuständigkeit für die Ahndung von Gewaltkriminalität und größere zivilrechtliche Angelegenheiten. An die Stelle des restaurativen, auf sozialen Ausgleich bedachten Elements, trat das retributive, das auf Vergeltung und die abschreckende Wirkung der Strafe setzte. Die informelle Gacaca-Justiz befasste sich nur noch mit dem, was vor allem in ländlichen Gebieten – und das waren die bei weitem größten Teile Ruandas – an kleineren sozialen Konflikten aufbrach, wie in der Vergangenheit mit vornehmlich restaurativer Zielsetzung.105 Die Verfassung von November 1962, die sich das zum 1. Juli desselben Jahres unabhängig gewordene Ruanda gegeben hatte, versuchte den Rechtsdualismus zwischen staatlichem und traditionellem informellen Recht zu beenden, indem Letzteres »kodifiziert und mit den Prinzipien der Verfassung in Einklang gebracht wird«.106 Dennoch blieb Gacaca nachweislich bis in die 1980er Jahre hinein eine verbreitete Praxis der Streitschlichtung.107

Doch heißt das auch, dass sich der Gacaca-Gedanke einfach auf die Ahndung von Völkermordtaten übertragen lässt, auf Taten also, die im postkolonialen Ruanda zwar nicht unter dem Signum »Völkermord«, aber als immerhin strafbewehrte Taten wie Mord, Vergewaltigung oder Körperverletzung im ruandischen Strafgesetzbuch firmierten?108 Denn diesen Taten und ihren Rechtsfolgen liegt die im Strafrecht typische Gerechtigkeitsannahme zugrunde,109 dass Strafe in erster Linie und in Abhängigkeit von der bestehenden Rechtskultur durch ihr Verhältnis zum Tatgewicht bestimmt und am Maß der individuellen Schuld festgemacht wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf den Täter, das Opfer tritt nur zur Bestimmung der Tat und ihrer Auswirkungen in Erscheinung. Diese Aufspaltung in das Handeln einer Täterpartei und das Leiden einer Opferpartei ist der informellen Justiz wie Gacaca jedoch fremd. Ihr geht es darum, dass alle Beteiligten den eigenen Anteil am Konflikt erkennen und Verantwortung für einen Teil der Lösung übernehmen. Recht ist, was allen recht ist, und nicht das, was sich an den Normen eines kodifizierten Rechtssystems ausrichten muss, das abstrakt Gleiches gleich behandelt und durch eine höhere Instanz hinterfragt werden kann.110

Wie wir bereits gesehen haben, ist Gacaca auch in der aktualisierten Form eine Gerichtsbarkeit, die sich auf die Weisheit der Inyangamugayo stützt, jetzt allerdings ergänzt um weibliche Mitglieder. Die lokale Bevölkerung ist anwesend (wiederum sind erstmals Frauen zugelassen), die den Part des Anklägers oder Verteidigers übernimmt. Und zuletzt sind auch die Urteile, die das Gacaca-Gericht fällen kann und soll, solche, die zuallererst auf die Wiederherstellung des Friedens innerhalb der von der Tat betroffenen Gemeinschaft abzielen. Wie schon bei der früheren Form von Gacaca ist dazu eine gewisse Kooperation zwischen Tätern und Opfern notwendig, das heißt: Täter sollen ihre Taten gestehen, das begangene Unrecht anerkennen und um Verzeihung bitten; Opfer sollen Verzeihung gewähren. Je nach Kooperationswilligkeit erhält der Täter dafür eine Strafmilderung, während das Opfer eine Entschädigung durch die gemeinnützige Arbeit (travaux d’intérêt général/TIG) erhalten kann, die der einsichtige kooperationsbereite Täter außerhalb des Gefängnisses erbringt.

Der alte Gacaca-Gedanke ist somit unschwer in dem neuen zu erkennen. Allerdings gibt es auch Unterschiede. Das Verfahren ist nunmehr formalisiert, Regeln sind aufgestellt worden für den Verfahrensablauf, für den Aufbau und die Strafkompetenz der Gerichte und für die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsmitteln.111 Doch der größte Unterschied ist, dass die eigentliche Zuständigkeit der Gacaca-Gerichte jetzt eine ist, die es vormals nur in Ausnahmesituationen gegeben hat. Jetzt geht es fast ausschließlich um Verbrechen, die nach internationalen Abkommen als besonders strafwürdig gelten und im ruandischen Strafgesetzbuch zu den schlimmsten gehören. Die individuell zurechenbare Strafe ist innerhalb eines bestimmten Rahmens vorgegeben und nicht mehr rituell ersetzbar, und statt früherer Unabhängigkeit des Gacaca-Gerichts übt der Staat nun durch seine oberste Justizbehörde die Fachaufsicht über die gesamte Gacaca-Justiz aus.112

Wollte man diese Verbindung von altem traditionellen Recht in Ruanda mit modernen Verbrechenskategorien und ihren Zurechnungsmodalitäten in einen Satz fassen, so könnte man sagen: Ein Völkermord und die ihn begleitenden Verbrechen werden, unter dem wachsamen Auge des Staates und unter Rückgriff auf kulturelle Prägungen, in einer kollektiven justiziellen Anstrengung mit dem Ziel aufgearbeitet, über Strafe beziehungsweise Verzicht auf Strafe das Fundament eines erträglichen Zusammenlebens von Tätern und Opfern herzustellen.

Wir haben auch bereits gesehen, dass es skeptische Stimmen zur Perspektive einer solchen Verbindung gab. Einer im Herbst 2002 veröffentlichten Umfrage zufolge war es sogar die Mehrheit der landesweit über 1600 befragten Ruander, die nicht wusste wie Gacaca, trotz ihrer in unzähligen Veranstaltungen, in Zeitungen und im Radio propagierten neuen Inhalte und Ziele, den Herausforderungen gerecht werden will. Dass die Verfahren beschleunigt werden und die lokalen Gemeinschaften eine größere Mitwirkung haben sollen, war den meisten jedoch bekannt und traf auf Zustimmung. Aber nur 7,3 Prozent der Befragten waren der Meinung, Gacaca würde in besonderer Weise zur Versöhnung beitragen.113 Sind also die Zustimmungsbekundungen zu Gacaca, ob nüchtern oder euphorisch vorgebracht,114 nicht auch Beschwörungsformeln, deren autosuggestive Kraft Unsicherheit und Angst verdrängen soll? Dafür spricht ein weiteres Ergebnis der Umfrage. Über 90 Prozent der Befragten hatten die Anfänge des Völkermords in Ruanda erlebt, 36,1 Prozent von ihnen hatten durch den Völkermord Familienangehörige verloren, bei weiteren 23,4 Prozent waren der Verlust auf Massaker zurückzuführen (massacre im Original) und von 37,7 Prozent der Befragten saßen Familienmitglieder wegen mutmaßlicher Völkermordverbrechen im Gefängnis.115 Nimmt man die Umfrage als repräsentativ an (was sie nach dem Willen ihrer konzeptionellen Planer sein sollte),116 war deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung Ruandas in ihrem engsten familiären Umfeld unmittelbarer Gewalterfahrung ausgesetzt gewesen, mehr als ein Drittel, zum Teil damit identisch,117 musste sich täglich aus der Täterperspektive zu den begangenen Verbrechen in Beziehung setzen. Ein Land in einer »kollektiven sozialen Grenzsituation« nannte dies Simon Gasibirege, ein in Ruanda bekannter Sozialpsychologe und Autor einer Studie über die Ergebnisse dieser Befragung.118

Allerdings ist hier noch eine andere Deutung möglich. Im Befund stimmt sie mit Gasibireges überein, in der Erklärung indes unterscheidet sie sich ganz erheblich. Nicht das Unbehagen oder die Angst vor einer erneuten intensiven Auseinandersetzung mit vergangenem Leid und Abgründen menschlichen Verhaltens sind danach der Grund für die tiefer liegende Skepsis der Ruander, es ist im Gegenteil die Befürchtung, dass Verbrechen, die im Umfeld des Völkermords begangen worden sind, verschwiegen und tabuisiert werden könnten. Massaker (massacres) ist der Schlüsselbegriff. Er kann Gewalttaten von Hutu an Hutu bedeuten, die aus Sicht der Täter der landesverräterischen Sympathie mit der FPR verdächtig waren und darum getötet wurden, jedoch wegen der Definition der in der Völkermordkonvention geschützten Gruppen119 nicht als Völkermordopfer galten. Er kann aber auch Gewalttaten von FPR-Kämpfern an Hutu bedeuten, begangen im Verlauf des Bürgerkriegs oder aus Rache für den Völkermord bei der Eroberung des Landes und anschließenden Festigung der Macht. Um genau diese letztgenannten Gewalttaten geht es, wenn, wie beispielsweise im Gefängnis von Nyankenke, Hutu den gewaltsamen Tod von Familienangehörigen beklagen oder wenn in Interviews gefordert wird, die Verbrechen beider Seiten zum Verfahrensgegenstand zu machen, da andernfalls Gacaca keine versöhnende Kraft haben werde.120 Es ist gewiss auch kein Zufall, dass mit der Konkretisierung der Gacaca-Gesetzgebung wieder alte Anschuldigungen zirkulieren, die sich auf die Ermordung Unschuldiger durch die FPR beziehen, allen voran von Priestern und Bischöfen, die sich für verfolgte Tutsi eingesetzt haben.121 Das mögen Einzelstimmen gewesen sein, ihre Wirkung in einer Bevölkerung, die tief gespalten war und deren demografisch mit Abstand größter Teil in einer Mischung aus Fremdzuschreibung und entsprechend skandalisierender Eigenwahrnehmung kollektiv als Völkermordtäter galt, ist hingegen groß. Die offizielle Verheißung einer versöhnenden Justiz stieß so auf eine Gefühlslage, die mit ihren unterschiedlichen Erwartungen sowohl Enttäuschung als auch, wie schon hinsichtlich der internationalen Justiz, die Erfahrung von Rechtsanwendung als Akt der Zumutung erzeugen konnte.

Dass jede Seite, der Staat eingeschlossen, ihre Sicht für begründet und für die letztlich einzig richtige hielt, sollte sich bald zeigen. Die Vergangenheit und die aus ihr jeweils zu lesende Erinnerung waren eben sehr präsent.

Ruanda

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