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Ich sehe was, was du nicht siehst

Wie beim Hören braucht es auch bei den anderen Wahrnehmungen bestimmte Bedingungen. Beim Sehen brauche ich z.B. Licht, meine Augen müssen in Ordnung sein und die Sehnerven müssen die Signale in die richtigen Hirnareale weiterleiten. Ähnlich wie beim Hören muss also auch beim Sehen eine Vielzahl von Bedingungen zusammentreffen, damit ich etwas sehe. Nicht zuletzt muss ich zum Sehen die Augen aufmachen. Dann kann ich z.B. meinen Freund sehen, der mir am Tisch gegenüber sitzt. Wenn ich dann meinen Blick ein wenig entspanne, sehe ich aber nicht nur meinen Freund, sondern gleichzeitig mit meinem Freund auch den Tisch, an dem wir sitzen und die Gläser auf dem Tisch. Ich sehe die Wand des Wohnzimmers hinter meinem Freund und das Bild an der Wand, das vom Kopf meines Freundes halb verdeckt ist. Wenn ich jetzt meinen Freund bitten würde zu sagen, was er sieht, dann könnte er vielleicht sagen: Ich sehe dich vor mir sitzen, den Tisch mit den Gläsern und hinter dir die Wand des Zimmers. Das hört sich so ähnlich an wie meine Darstellung, ist aber in wichtigen Punkten doch anders. Ich sehe meinen Freund vor mir sitzen, sehe sein Gesicht. Er sieht sein Gesicht nicht, aber dafür meines und die Wand hinter mir, die ich nicht sehe. Wir sind zwar im selben Raum, aber jeder sieht eine andere Welt. Ich kann sogar noch weiter gehen und sagen, dass ich der Einzige bin, der jetzt dieses Panorama so sieht. Niemand im ganzen Universum sieht es so, wie ich es gerade sehe. Und das trifft nicht nur auf diese Situation zu. Alles was ich sehe, ist in dieser Form nur für mich zu sehen, exklusiv nur für mich, also ganz einzigartig. Ich sehe was, was du nicht siehst... haben wir als Kinder gern gespielt. Und diese Aussage stimmt tatsächlich. Niemand kann genau das sehen, was ein anderer gerade sieht.

Und dann gibt es da noch eine Tatsache, über die wir uns häufig nicht im Klaren sind. Wenn ich z.B. sage, dass ich gerade meinen Freund sehe, dann ist das nur die halbe Wahrheit. Wie ich eben schon erwähnt habe, sehe ich zusammen mit meinem Freund auch die Wand und das halb verdeckte Bild an der Wand, den Stuhl, auf dem er sitzt. Ich kann meinen Freund gar nicht ohne die Wand und ohne den Stuhl sehen. Und wenn ich dann meinen Blick ein wenig weiter wandern lasse, dann kann ich feststellen, dass kein Ding in meiner Welt allein zu sehen ist. Wenn ich den Stuhl anschaue, auf dem mein Freund sitzt, dann sehe ich gleichzeitig auch den Teppich, auf dem der Stuhl steht. Ich kann das Gesicht meines Freundes nicht sehen, ohne auch seinen Hals zu sehen, seine Hand nicht ohne seinen Arm. In meiner gesehenen Welt hängt alles mit allem zusammen. Ich kann nicht ein einziges Teil meiner gesehenen Welt allein sehen. Und wenn ich nun die Augen schließe, ist diese ganze gesehene Welt verschwunden. Und wenn ich dann die Augen wieder öffne, ist sie auf einen Schlag wieder da. Die Welt ist sozusagen gerade in diesem Augenblick in meiner Wahrnehmung frisch aufgetaucht. Ist das nicht phantastisch? Und ich habe mich dafür nicht einmal anstrengen müssen. Ich muss nur die Augen öffnen und diese ganze farbenprächtige Welt springt heraus wie das Kaninchen aus dem Hut des Magiers.

Wenn Steine sprechen - neu denken, frisch wahrnehmen

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