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Wahrnehmen ist ein Naturgesetz
Wahrnehmen ist etwas, das uns allen als Menschen in die Wiege gelegt wurde. Die Natur hat uns alle mit dieser wunderbaren Fähigkeit ausgestattet. Ich muss es nicht lernen, es ist einfach da. Es funktioniert prächtig, und ich muss mich dabei nicht einmal anstrengen. Wenn alle notwendigen Bedingungen zusammenkommen, kann ich gar nicht anders als sehen, hören, riechen, schmecken und tasten. Wahrnehmen ist meine Grundausstattung als Mensch. Ich könnte auch sagen: Wahrnehmen ist meine Natur und dieses Wahrnehmen folgt den Naturgesetzen. Das ist ein bisschen so wie bei der Schwerkraft. Wenn ich auf der Erde stehe und einen Stein in meiner Hand loslasse, dann bleibt dem Stein nichts anderes übrig, als nach unten zu fallen. Und so ist es auch beim Wahrnehmen. Wenn Licht da ist, meine Augen in Ordnung sind, ich nach vorne schaue und mit meinen Gedanken nicht ganz woanders bin, kann ich gar nicht anders: Sehen passiert einfach. Der Freund, der auf mich zukommt, erscheint in meinem Erleben. Vielleicht nicht sofort, aber spätestens, wenn ich ihn sagen höre: Hallo, schön dich zu treffen.
Wahrnehmen ist ein blitzschneller Prozess. Wenn ich meine Augen öffne, dann ist, schneller als ein Wimpernschlag, das vollständige Bild da: Raum, Menschen, Häuser, Autos und Bäume mit klaren Konturen und prächtigen Farben. Es gibt keine Wahl. Ich muss wahrnehmen, ob ich will oder nicht. Begleitet von einem Feuerwerk von elektrischen Impulsen in den Nervenzellen des Gehirns erlebe ich all diese Formen und Farben und den Raum, in dem Häuser und Menschen und Autos und Bäume zu sehen sind. Das funktioniert so im Alltag, im Kino und auch im Traum. Besonders kreativ scheint mir dabei das Traumerleben zu sein, wo mir sowohl wunderschöne Menschen als auch schreckliche Monster begegnen können.
Kreativ und blitzschnell. Eine Wahrnehmung folgt der nächsten: Formen, Farben, Töne, Gerüche, ein Gedanke, eine Gedankenkette, ein kurzer Ärger, ein Schmerz im rechten Knie… Insbesondere bei Gedankenketten habe ich manchmal das Gefühl, dass die Gedanken wie ein gewaltiger Wasserfall herunter rauschen. Es gibt aber auch Zeiten, wo ich meine Gedanken und Wahrnehmungen eher wie einen ruhigen, breiten Strom erlebe oder manchmal noch langsamer. Vor einiger Zeit stieß ich beim Abräumen des Frühstückstisches aus Versehen gegen meine Teekanne. Sie kam ins Kippen und fiel dann über die Tischkante. Ich erschrakund dann sah ich es: Die Teekanne fiel plötzlich in Zeitlupe, und fiel und fiel und fiel… Und dann sah ich meinen Fuß, wie er sich auch wie in Zeitlupe nach vorne bewegte. Dann das glückliche Zusammentreffen: Der Fuß war da, bevor die Kanne auf dem Boden aufschlug. Die Kanne landete wie in Zeitlupe sanft auf meinem Fuß und rollte von dort auf den Fußboden und blieb heil. Dann schaltete meine Wahrnehmung wieder von Zeitlupe auf Normalzeit.
Egal ob schnell oder langsam, eine Wahrnehmung folgt der nächsten, ein Gedanke dem nächsten und dazwischen, bunt eingestreut, Gefühle und Emotionen. Aufgereiht wie an einer Perlenkette erlebe ich diese nicht enden wollende Prozession. Zweifelsohne ist diese Kette von Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen da, und jede einzelne Wahrnehmung, jeder einzelne Gedanke und jedes einzelne Gefühl wird in dieser Form nur von mir so erlebt. Kein anderes Lebewesen im ganzen Universum erlebt in diesem Augenblick exakt genau dasselbe, was ich gerade erlebe. Die Umgebung vor meinem Fenster wird so in dieser Form von niemandem gerade genau so gesehen. Wenn ich jetzt an Bratkartoffeln zum Mittagessen denke, dann wird dieser Gedanke in diesem Augenblick auch nur von mir so gedacht. Alle meine Wahrnehmungen, meine Gedanken und Gefühle werden in ihrer einmaligen Form immer nur von einem Einzigen, nämlich von mir, so erlebt.
Was aber meint von mir? Wahrnehmen, Denken und Fühlen passiert offensichtlich, aber was kann man über einen Wahrnehmenden, Denkenden und Fühlenden sagen? Vor einiger Zeit ist ein Buch von David Precht erschienen mit dem Titel: Wer bin ich - und wenn ja, wie viele? Diese Frage könnte Grundlage sein für eine philosophische Debatte, aber ich möchte sie hier als Einladung verstehen zu einer Bestandsaufnahme meines Alltags. Anstatt zu fragen, wer ich bin, lieber zu schauen, was ich bin, z.B. was heute alles in meinem Erleben aufgetaucht ist? Wenn ich all diese mehr oder weniger interessanten Erlebnisse anschaue und versuche etwas Gemeinsames in all der Vielfalt zu finden, dann kann ich zu einer sehr einfachen Aussage kommen: Mein Tag war gefüllt mit Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen. Sonst noch was, irgendetwas, was nicht Wahrnehmung, Gedanke oder Gefühl war? Ich denke nein, nur Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle. Diese einfache, fast banale Tatsache lässt sich auch so formulieren: Ich denke, fühle und nehme wahr - und das bin ich. Und da es immer viele Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle sind, kann ich auch sagen: Ich bin Viele.
Eine gute Analogie für diese Sichtweise ist ein Fluss. Das strömende Wasser im Fluss ist von Moment zu Moment ein anderes, neues Wasser. Diesem Strömen von immer neuem Wasser hat jemand einen Namen gegeben, in Hamburg z.B. den Namen Elbe. Das Wort Elbe ist hier wie ein Etikett, das man für diesen Prozess von immer neuem, vorbei strömenden Wasser vergeben hat. Und dieses Etikett ist ausgesprochen praktisch. Wenn man jedes Mal, wenn neues Wasser vorbei strömt, auch einen neuen Namen vergeben würde, würden einem sehr schnell die Namen ausgehen. Und so gesehen ist es auch sehr praktisch, dass ich, obwohl ich mich seit meiner Geburt doch beträchtlich verändert habe, mein Etikett behalten habe, meinen Namen Gerd Köhler. Aber meistens wird aus dem praktischen Etikett schnell ein solides Ding. Wenn ich z.B. ein Schiff auf der Elbe sehe, dann taucht das Schiff als Bild in meiner Wahrnehmung auf. Und während sich das Schiff fortbewegt, verändert sich dieses Bild kontinuierlich in meinem Erleben. Wenn ich das vergesse, wird der lebendige Prozess des Wahrnehmens, der von Augenblick zu Augenblick neue Bilder vom Schiff hervorbringt, zum soliden Ding Schiff und ich zum Wahrnehmenden von dem Ding Schiff. Das ist das Erleben von Ich bin Einer und die Welt da draußen ist getrennt von mir.
Ich kann die gleiche Situation mit Elbe und Schiff aber auch als Ich bin Viele erleben, als einen ständigen Strom vom Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühlen: Ich sitze an der Elbe und schaue aufs Wasser. Ein kleiner Wasserwirbel taucht direkt vor mir auf. Das Wasser kreist immer schneller, beruhigt sich dann wieder etwas, um erneut schneller zu drehen. Ein kleines Holzstückchen fließt im trägen Wasserstrom heran, schwimmt direkt auf den Wasserwirbel zu, wird schneller, treibt wie von unsichtbaren Fäden gezogen direkt auf das drehende Auge des Wasserwirbels zu, zitternd, als habe es Angst, gleich in die Tiefe gerissen zu werden. Aber es kann seinem Schicksal nicht entkommen. Noch ein schneller Dreher und es verschwindet im Schlund des Wirbels. Ich bin neugierig, ob es vielleicht wieder auftaucht, und hebe meinen Blick ein wenig, um das Holzstückchen vielleicht wieder zu entdecken. Und da sehe ich plötzlich dieses wunderbare Spiel des Lichts: Wie Tausende und Abertausende von Diamanten glitzert es auf dem Wasser. Die kleinen Kämme der Wellen senden sprühende Funken aus, die von kleinen Lichtexplosionen zu stammen scheinen. Und dann taucht der gewaltige Bug des Schiffs in meinem Erleben auf. Majestätisch und stolz teilt der Bug des Schiffes das Wasser in zwei schimmernde Bugwellen. Für einen kurzen Moment bin ich fast überwältigt von dem Anblick. So majestätisch, so berührend, so persönlich. Und wenn mir kurz darauf der Gedanke kommt, dass ich der Einzige im ganzen Universum bin, der diesen Bug und diese Bugwelle gerade jetzt so gesehen hat, dann wird mir klar, dass dieses Zusammentreffen von Bug, Bugwelle und mir sehr intim war. Wenn ich so eng und intim mit meinen Wahrnehmungen und Gefühlen bin, kann ich auch sagen: Ich bin diese Wahrnehmungen und Gefühle. Und da es viele waren, eine nicht enden wollende, vorbeiziehende Kette von Wahrnehmungen und Gefühlen, kann ich auch sagen: Ich bin Viele.
Ich kann den Unterschied zwischen der Sichtweise Ich bin Einer und der Sichtweise Ich bin Viele erleben. Ich kann meine Welt flach und platt erleben, wenn ich denke: Ich bin hier und die Elbe und das Schiff sind da draußen und getrennt von mir. Und so erlebe ich meine Welt fast immer. Ich kann meine Welt aber auch lebendig und frisch erleben. Da die vielen einzelnen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle immer im erlebten Augenblick frisch entstehen, kann ich diese Frische und Lebendigkeit auch spüren. Es macht mich neugierig, weil ich wissen will, was im nächsten Augenblick auftaucht, und so kann ich auch waches Interesse erleben. Auf diese Weise wahrzunehmen, berührt mein Herz, ich empfinde Wertschätzung und Dankbarkeit. Und dann ist da manchmal noch diese Traurigkeit, die keinen Grund zu haben scheint. Ich habe geschaut und geschaut und geschaut… und dann habe ich gesehen - auch ein bisschen mit dem Herzen.