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Nochmals: Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?
ОглавлениеDie äußeren Daten dieses arbeitsintensiven Lebens sind rasch aufgezählt. Geboren am 23. Februar 1939 in der geschichtsträchtigen Stadt Wien, studierte Kaltenbrunner dort nach der Matura Jura, Philosophie und Staatswissenschaften. Bereits in dieser frühen Zeit befasste er sich intensiv mit Geschichtsschreibung und Literatur, mit der Antike und mit klassischen Autoren. Den ersten geisteswissenschaftlichen Essay schrieb er achtzehnjährig.
1962 übersiedelte Kaltenbrunner in die Bundesrepublik und wohnte zunächst in München. Als Lektor betreute er verschiedene wissenschaftliche Verlage und fungierte 1968 als Cheflektor des Rombach-Verlages, den er konservativ auszurichten versuchte. Er vertrat einen aufgeklärten, wertorientierten, aber kritischen Konservatismus und die Idee eines „nichtkatastrophischen Wandels“. Mit zwei großen Anthologien machte der junge Publizist auf sich aufmerksam: „Hegel und die Folgen“ (1970) und „Rekonstruktion des Konservatismus“ (1972). „Konservatismus international“ erschien 1973 und „Der schwierige Konservatismus“ 1975.
Von 1974 bis 1988 gab Kaltenbrunner bei Herder die Taschenbuchreihe „Herderbücherei INITIATIVE“ heraus. Die 75 Bände mit unkonventionellen und markanten Interpretationen verschiedenster Zeitprobleme sorgten für bundesweite Diskussionen. Der Editor verstand es, ausgezeichnete Mitarbeiter zu verpflichten, und konnte so – wenigstens zeitweilig – ein Gegengewicht zu dem neomarxistisch geprägten Gedankengut des Suhrkamp-Verlages aufbauen. Die „INITIATIVE“ wurde bald eine publizistische Institution. Geplant war ein enger Freundeskreis der Leser, eine Art Vernetzung. Die „Frankfurter Zeitung“ schrieb 1980 „… Die INITIATIVE – und das macht ihre Besonderheit wie ihre Bedeutung aus – ist ganz wesentlich das Werk eines Menschen, eines einzelgängerischen Essayisten und Schriftstellers, der diese Reihe (nach seinen eigenen Worten) als ‚eine Art Privatuniversität‘ auffasst.“
Kaltenbrunners Bemühungen, die großen religiösen Traditionen, den kulturellen Reichtum Europas, dessen weltgeschichtliche Einmaligkeit, essayistisch in vielfältigen Facetten und Spiegelungen zu verdeutlichen, wurden 1986 mit dem Konrad-Adenauer-Preis für Literatur ausgezeichnet. Caspar Freiherr von Schrenck-Notzing resümierte damals in seiner Laudatio: „Man sieht …, dass der Verfasser zu den porträtierten Dichtern, Philosophen, Wissenschaftlern ein höchst persönliches Verhältnis hat. Wenn, laut Kaltenbrunner, das Leben eines Individuums nicht ausreicht, um die zum Leben notwendigen Einsichten und Haltungen selbst zu erwerben, dann erschließen seine Interpretationen des europäischen Selbstbewusstseins zweier Jahrtausende die geistigen Voraussetzungen für eine politisch notwendige Europäisierung Europas.“
Weitere von Kaltenbrunner herausgegebene Schriften dieser Jahre sind: „Franz von Baader. Sätze aus der erotischen Philosophie und andere Schriften“ (1966), „August Maria Knoll. Zins und Gnade. Studien zur Soziologie der christlichen Existenz“ (1967), „Hugo Ball. Zur Kritik der deutschen Intelligenz“ (1970).
Vielfach präsent war der Autor in den Feuilletons der Mainstream-Medien („FAZ“, „Welt“, „Zeit“, „Christ und Welt“, „Rheinischer Merkur“). Er schrieb für die „Zeitbühne“ sowie die „Epoche“ und trat als Gast im Rundfunk auf. Bei dem führenden Theoriemagazin der rechtskonservativen Bildungseliten „Criticón“ galt er als geschätzter Mitarbeiter. Die Zeitschrift, benannt nach einem Roman des spanischen Jesuiten Baltasar Gracián (1601–1658), war als „Gegenorgan“ zur 68er-Bewegung angetreten. 1985 wurde Gerd-Klaus Kaltenbrunner dann als Erster mit dem Baltasar-Gracián-Kulturpreis ausgezeichnet. Im gleichen Jahr erhielt er den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industriellenvereinigung. 1985 veröffentlichte er mit „Wege der Weltbewahrung“ sieben konservative Gedankengänge, welche das Ethos neuer Selbstbeherrschung und Besinnung auf unverändert gültige Überlieferungen beschwören. Als provokant wurde das schmale Bändchen „Elite. Erziehung für den Ernstfall“ (Asendorf 1984) empfunden. Seine scharfe Analyse und die Kampfansage an die Übermacht der Unfähigen fasst Kaltenbrunner in den ersten Sätzen zusammen: „Es ist ein Zeichen für den pseudodemokratischen Kretinismus, der in so hohem Maße zu der geistespolitischen Verwahrlosung der Bundesrepublik Deutschland beiträgt, dass schon die bloße Erwähnung des Wortes ‚Elite‘ bei den meisten Zeitgenossen, insbesondere aber den einflussreichen Vertretern der ‚progressiven‘ Intelligenzija Assoziationen wie ‚Privilegien‘, ‚Abbau des Sozialstaates‘, ‚Arroganz‘, ‚soziale Reaktion‘ oder schlechthin ‚Faschismus‘ auslöst. So wie ‚Vaterland‘, ‚Heimat‘, ‚Volk‘, ‚Nation‘ oder ‚Reich‘ gilt auch ‚Elite‘ weithin als ein antiquierter, ja sogar anrüchiger Begriff, der vielfach einer systematischen Ächtung und Verfemung unterliegt.“ Dieser nonkonformistische Standpunkt zielt auf eine Abschaffung des Kultes der Mittelmäßigkeit. Gesprächsweise äußerte sich Kaltenbrunner: „… die Weltgeschichte wird nun einmal nicht von Kaufleuten, Händlern und Kommerzienräten bewegt, sondern von Kämpfern, von Soldaten, von Partisanen, kurz: von glaubensstarken und zum Martyrium bereiten Eliten.“ Mit Vilfredo Pareto betrachtet er nur die Funktionseliten als wertfrei.
Zwischen 1981 und 1992 nahm das Europawerk des Schriftstellers sichtbare Form an. Sechs monumentale Bände erschienen: die Trilogien „Europa. Seine geistigen Quellen in Porträts aus zwei Jahrtausenden“ (1981, 1983, 1985) und „Vom Geist Europas“ (1987, 1989, 1992). Kaltenbrunner schreibt: „Europa. Dieses Inbild ‚okzidentalischen‘ Wesens begleitet mich zeit meines zum Denken erwachten Lebens: die Vision eines Hauses mit vielen Wohnungen, eines Domes mit vielen Kapellen, eines Lebensraumes oder einer ‚oika‘ mit vielen Gebieten, Nischen und Höhenstufen. Es ist dies ein anderes Europa als der halb euphorisch begrüßte, halb fatalistisch hingenommene Binnenmarkt gleichen Namens.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3, Geleitwort)
Rastlos forschend, reflektierend, von ungeheurer Belesenheit und Anverwandlungsgabe deckt Kaltenbrunner Traditionszusammenhänge auf, entführt den Leser in verschwiegene spirituelle und historische Landschaften und erforscht behutsam die Quellen europäischen Denkens und Handelns. Dieser homme de lettres ist nach altem Verständnis einer, der in Sprache zu denken und zu fühlen, zu forschen und zu erkennen, zu ahnen und zu träumen weiß. Er vermag es, unnachahmlich elegant die unterschiedlichsten Figuren der europäischen Geistesgeschichte zu verlebendigen. Es gebührt dem Ares-Verlag große Anerkennung, dass die wichtigsten Essays dieses Opus magnum anlässlich des 80. Geburtstages des so früh Verstorbenen in einer Neuausgabe vorgestellt werden.
Ein genialer Schriftsteller bedarf wohl letztendlich eines kongenialen Publikums, einer gebildeten Leserschaft, die mit Freude, Intelligenz und Humor geistreiche Aperçus zu genießen versteht, die resonanzfähig ist und mitzuschwingen vermag, die anspruchsvolle, ja hochfliegende Gedankengänge dankbar begleitet. Kurzum: Er bedarf der vom Aussterben bedrohten Spezies freier, sich in fremde Visionen hineinimaginierenden Geister, die – um ein modisches Wort zu benutzen – genug Fach- und Sachkompetenz besitzen, um entsprechende Texte verstehen und würdigen zu können. Allerdings, wer spricht, wer schreibt, stiftet auch Missverständnisse. Wenn ein Autor diese alte Wahrheit erlebt hat, so betritt er allmählich die Zone des Schweigens. Es ist viel gerätselt worden über das Verstummen Kaltenbrunners, die zunehmend intensiver werdende vergeistige Abstinenz des Gegenwartsverweigerers.
Seit 1990 wandte sich der fast eremitisch im Schwarzwaldstädtchen Kandern lebende „Traditionalist“ Themen zu, die man als konservative Mystik bezeichnen könnte. Die großen religiösen Ströme, die mythischen und philosophischen Lebensäußerungen aller Völker, die zwar – wie der Philosoph Leopold Ziegler schreibt – in tiefere Schichten absinken können, aber keineswegs unrettbar verloren gehen: All dies beschäftigte Kaltenbrunner. Der transzendente, spirituelle Bereich, der in stillen Augenblicken mystischer Erfahrung im Sinne der „integralen Tradition“ unzerstörbare, übergeschichtliche Botschaften aufleuchten lässt, führte ihn immer tiefer zum geheimnisvollen Urgrund des Universums.
Vor diesem Hintergrund sind auch seine letzten Schriften zu verstehen: „Die Seherin von Dülmen und ihr Dichter-Chronist“ (1992), „Tacui. Johannes von Nepomuk – Brückenheiliger und Märtyrer des Beichtgeheimnisses“ (1993) und „Geliebte Philomena. Kleiner Liebesbrief an eine wiedergefundene Heilige“ (1995), vor allem aber die umfangreichen Bände „Johannes ist sein Name. Priesterkönig, Gralshüter, Traumgestalt“ (1993) und „Dionysius vom Areopag. Das Unergründliche, die Engel und das Eine“ (1996). Dem Mysteriencharakter des Christentums, dessen geschichtlicher Botschaft sowie der heilenden Macht des Sakralen war Kaltenbrunner bis zum Ende seines Lebens verpflichtet. Er sah in der Kirche die große Ästhetin und Mystagogin. Sein Plan, ein Werk über den Priesterkönig Melchisedek aus Salem und über die Großmutter Christi, die Heilige Anna, zu verfassen, konnte nicht mehr verwirklicht werden. Vermutlich hätte er die von dem französischen Metaphysiker René Guénon (1886–1951) vertretene mystische Idee eines übersinnlichen Zentrums, das die Welt regiert und innerlich verbindet, in den geplanten Werken wertend berücksichtigt. Gerd-Klaus Kaltenbrunner verstarb unerwartet am 12. April 2011.
„Der Wissende redet nicht.
Der Redende weiß nicht.“
(Laotse: TAO-TE-KING, Spruch 56)
Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Wer war Gerd-Klaus Kaltenbrunner?
„Alles, was man von mir wissen muss, steht in meinen Büchern“, wiederholte der stets auf Distanz bedachte, jeder Indiskretion abholde und unangemessener Neugierde mit einer gewissen Schroffheit begegnende Schriftsteller, immer wieder. Und doch: Wer ihn kennenlernen durfte, war bezaubert von seiner Einfachheit, Vornehmheit und sprichwörtlichen Grandezza. Ein Intellektueller, der konkurrenzlos den ideellen und symbolischen Reichtum des Abendlandes überschaute. Bezüglich der Qualitätsmerkmale eines Essayisten schreibt er: „… sein Temperament, seine Sensibilität, seine Menschlichkeit ist mindestens so bedeutend wie der von ihm behandelte Gegenstand. … Für den Essayisten gibt es ein Zwiegespräch mit den Toten. Die meisten, im Grunde sogar alle meiner Essays verdanken sich diesem Dialog. In manchem dieser Versuche scheint es mir gelungen zu sein, die eine oder andere Gestalt der europäischen Geistesgeschichte auch für andere – für den mitwirkenden, den sympathetischen Leser – vernehmlich zu machen“. (Dankesrede bei der Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises)
So werden wir versuchen, in den hier vorgestellten Texten Zeitkritisches und bekenntnishaft Biografisches aufzuspüren. Wir wissen heute, dass Europa in all seinem Reichtum, seiner Größe, durch ein falsches Verständnis seiner selbst gefährdet ist. Dies stellt auch die sogenannte Pariser Erklärung aus dem Jahre 2017 fest, die allerdings einem naiven Vernunftvertrauen huldigt und die Komplexität der Probleme des christlichen Abendlandes nicht durchschaut. Nochmals sei hier der große „Gegendenker“ Leopold Ziegler genannt. Seine 1995 neu aufgelegte Schrift „Der europäische Geist“ (erstveröffentlicht 1929) stigmatisiert das Fatum Europas: nämlich die Verwissenschaftlichung des Geistes wie des Lebens, den Verlust des Göttlichen und die damit einhergehende Säkularisierung. Sensible Zeitgenossen dachten ähnlich. Zu nennen wären u. a. Fritz Usinger („Gesänge für Europa“) und Friedrich Franz von Unruh. Letzterer schreibt: „Die Macht aber, die von alters her bestellt ist, den menschlichen Standort zu festigen, die Religion, ist der veränderten Situation nicht gewachsen. Sowohl Christentum wie Islam sind einem Weltbild verhaftet, das die Erde als Mitte des Alls und den Menschen als Sinn und Krönung der Schöpfung versteht. … Durch die alten verhärteten Dogmen hindurchzustoßen und ein tieferes Gottbegreifen und tiefere Ehrfurcht zu lehren, ist der Kirche verwehrt, sie verlöre die Basis“. („Die Macht der Dichtung“) Wir können aus diesen Überlegungen folgern, dass heute das Scheitern des Christentums nicht gegen dieses spricht, sondern einen Mangel seelischer Kultur offenbart. Ziegler warnt davor, die Wiederverchristlichung Europas als eine Wiederverkirchlichung aufzufassen. „Dieses von Neuem entstehende Heilige Reich wird nicht mehr kirchlich überwölbt sein, sondern im Sinne einer überkirchlichen Wiederverchristlichung Leib gewinnen.“ (Bemerkungen zur Neuausgabe von „Der europäische Geist“)
Drei Traditionsströme begründen, mannigfach vermischt, die unverwechselbare Eigenart Europas: griechisches Denken, römischer Realismus und Tatsachensinn sowie das christliche Erbe, welches den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen, der Freiheit, der Brüderlichkeit, der geistbegabten Personalität, der Erlösungsbedürftigkeit und der erbarmenden Liebe vertritt. Kaltenbrunner postuliert, dass eine übergreifende europäische Völkerordnung ganz im Sinne Johann Gottfried Herders symphonisch orchestriert sein müsste. Den kulturgeografischen Bogen spannt er von Portugal bis Russland, von Sizilien bis Polen, vom Baltikum bis Rumänien.
Zu den Stiftern europäischer Geistigkeit gehören zweifellos Pythagoras – Kosmosoph der sogenannten „Achsenzeit“ (Karl Jaspers), Ordensgründer, Zyklen-Theoretiker, Künder der Musik der Sphären – und Hesiod, der weissagende Seher, der die Götter belauschte. Die dialogische Wahrheitssuche des Sokrates erscheint in platonischem Gewand, in einem Todesverständnis, welches als Freilegung des ideenhaften Prinzips in uns, somit als lebensbildende Philosophie gelten darf. Der universelle platonische Geist blitzt auf, seine Freude am Denken und die staunenswerte Feinfühligkeit für das Wunderbare.
„Sooft uns Platon lächelt, wird es aufgeräumter, heller und freundlicher in Europa“, schreibt Kaltenbrunner und verweist darauf, dass dem unschuldig verurteilten Christen Boethius die Trost spendende Philosophie im platonischen Gewand erscheint, mit dem gebieterischen Aufruf, das Höchste zu wagen. Als besonderes Qualitätsmerkmal des vielstimmigen Gesprächs in diesen Essays tritt die innere Verbindung zwischen Personen, Zeiten und Landschaften in Erscheinung. Stifters „Sanftes Gesetz“ wird im „Trost der Philosophie“ des eingekerkerten Römers vorweggenommen und das kosmo-theologische Gebet in der Mitte der „Consolatio“ enthält – so Kaltenbrunner – den Grundriss von Dantes Weltbild und seiner „Göttlichen Komödie. In dem Aufsatz über die Indoeuropäer erfahren wir, dass es Spuren einer kollektiven Erinnerung an eine Heimat in nördlichen Gebirgen gibt, und das baltische Lettland entzückt als verschwiegener Raum hoher Poesie.
Den Reigen großer Dichtergestalten eröffnen Vergil, der Schöpfer der „Bucolia“, „Georgica“ und „Aeneis“, der stille Sänger des Augusteischen Friedens und des „ewigen Italiens“, sowie Ovid – Urheber des Weltgedichtes der „Metamorphosen“ –, verbannt zu den barbarischen Geten ans Schwarze Meer. An den Pontos Euxinos der Alten grenzt das Dreiecksland Georgien. Um 1200 lebte dort Schota Rustaweli, Dichter, Astronom und Finanzminister der Königin Thamar. In dem Hohelied der Liebe „Der Recke im Tigerfell“, welches 2013 zum Weltdokumentenerbe erklärt wurde, huldigt er seiner ruhmreichen Königin, besingt den Sieg des Lichtes über die Finsternis, des Mutes über die Verzweiflung. Ein ganz anderer Weltroman entsteht in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in dem vom Dreißigjährigen Krieg verheerten Deutschland: „Der abenteuerliche Simplicissimus“ des sich hinter einer Vielzahl von Decknamen verbergenden Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Kaltenbrunner bescheinigt diesem monströsen Werk eine wahrhafte „Simplicität“, eine gottkindliche Einfalt, die in barocker Bilderträchtigkeit und Wortmacht zur Sprache kommt. Eigenwillig und souverän beurteilt der ungemein belesene Essayist Gestalten wie Novalis, den er einen „konservativen Revolutionär“ nennt, oder Justinus Kerner, Arzt, Dichter und Geisterseher, Gesprächspartner von Görres und Franz von Baader. Das Werk des 1936 in Salamanca verstorbenen Dichter-Philosophen Miguel de Unamuno, des großen Gegenspielers Ortega y Gassets, bleibt für den Schriftsteller im Schwarzwald ein Desiderat: „die verlegerische Wiederentdeckung ist mein Wunschtraum“. Den „prince des poètes français“, Pierre de Ronsard, feiert er als „griechischsten“ der Franzosen. Transsilvanien (Siebenbürgen) ist die Heimat des Rumänen Lucian Blaga, des tragischen Dichters in tragischer Zeit. Er wird als Visionär hellsichtiger Ekstasen gerühmt. Der tschechische Dichter Otokar Brezina, der eigentlich Václav Ignác Jebavý hieß, der den Gedanken der Brüderlichkeit aller Menschen in einer Art planetarischer Geschwisterlichkeit vertritt, bezaubert mit seinem hymnischen Werk, seiner kühnen Metaphorik und freien Rhythmik.
Aus mehreren Gründen ist der Essay über Edward Gibbon von besonderer Bedeutung. Amüsante autobiografische Einschübe entführen den Leser in die von lateinischer Kultur und römischem Flair durchwobene Kindheit Kaltenbrunners: „Wenigstens zur Hälfte habe ich mich von Kindesbeinen an für einen Römer gehalten“. Die fast mit Händen zu greifende Präsenz üppigen römischen Erbes findet der Autor gewissermaßen vor der Haustüre. Er schürft aber weit tiefer, denn er entwickelt facettenreich den Gedanken des „Ewigen Roms“. Wien als Sitz der Habsburger bewahrte die Reichstradition und setzt in einer „translatio imperii“ den Gedanken des Heiligen Römischen Reiches fort. Eine Art Mutation zum „imperium spiritualis“, möglicherweise konvergierend mit dem Reich des Heiligen Geistes, welches der Seher Abt Joachim von Fiore weissagte: All das wird in verschlungenen und vielfach sich ergänzenden und überschneidenden Gedankenverbindungen expliziert. So kommt denn auch die Idee des Kronenwächters (Achim von Arnim) zur Sprache: „Die wahren Kronenwächter sind keine ränkespinnende Kamarilla und auch keine politische Sekte, sondern all jene, die im stillen (und vielfach mißverstanden) all das zu erhalten und zu fördern trachten, was uns nach allen Katastrophen noch geblieben ist, die einzige Bastion gegen Selbstentfremdung und Würdelosigkeit: unsere Sprache, die tätige Erinnerung an die Höhepunkte unserer Kultur, die person-und nationstiftende Aneignung des in mehr als einem Jahrtausend angesammelten geistigen Erbguts, auf daß unter einem günstigeren Stern darauf wieder einmal etwas Ordentliches nachwachsen könne.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 3)
Edward Gibbon, Experte für den Fall und Untergang Roms, der unreligiöse Skeptiker, welcher das Christentum als einen das Römische Reich infizierenden Bazillus betrachtete, wird als Althistoriker gewürdigt. Man kann diesem universalen Geist die Bewunderung nicht versagen, auch wenn man seinen Thesen nicht zustimmt.
Was wäre Europa ohne den Raum des Numinosen? Die kultische Verehrung des sagenumwobenen Tyaneers Apollonius beschäftigt den Ideenhistoriker Kaltenbrunner ebenso wie die hohe Theologie des Heiligen Augustinus. Der Nordafrikaner aus Tagaste, größter Lehrer der ungeteilten Christenheit, begründet mit seinen berühmten Bekenntnissen („Confessiones“) und dem Gottesstaat („De civitate Dei“) die Geistesgeschichte des Abendlandes. Das Geheimnis der Zeit, Demut und Hochmut, die Entfremdung des zur Pilgerschaft verurteilten Menschen, all das verbindet der Kirchenvater in einer genialen Schau.
Eine spirituelle Landschaft, deren Glanz und mystische Tiefe vor allem durch Erika Lorenz Neubelebung erfuhr, breitet Kaltenbrunner, der Gesprächspartner der Romanistin, vor uns aus: die hispanische Welt. Gestalten wie Teresa von Ávila und Juan von Ávila, Francisco de Osuna und Ignatius von Loyola kennzeichnet er als außergewöhnliche „Erfahrungsmenschen“. Der Troubadour Gottes, Ramon Llull aus Mallorca, seit seiner Bekehrung den Dialog zwischen Islam und Christentum seeleneifrig und wortmächtig betreibend, endet als Märtyrer. Er wird um 1316 von fanatischen Moslems gesteinigt. „Mit dieser Undurchdringlichkeit und Irreduzibilität der großen Offenbarungsreligionen müssen wir uns abfinden, sei’s als Mystiker, sei’s als Skeptiker oder auch beides zugleich. Die religiöse Vielfalt der Welt gehört zu jenen geistigen Beständen, mit denen wir zu leben, in denen wir uns einzurichten haben.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1) Die iberoamerikanische Literatur hat einen dem Geiste nach durch und durch alteuropäischen Vertreter, den Kolumbianer Nicolás Gómez Dávila, Selbstdenker und Antimodernist, Meister hispanischer Prosa. Hier sei wenigstens einer seiner juwelengleichen Aphorismen zitiert: „Der Kampf gegen die moderne Welt muss in Einsamkeit geführt werden. Wo zwei sind, ist Verrat.“
Man hat immer wieder hervorgehoben, dass es für den Polyhistor aus Kandern kaum ein Tabuthema gab. Mit Verve und Sachkenntnis erforschte und analysierte er literarische, religiöse und politische Zusammenhänge. Von der denkwürdigsten Liebesgeschichte des Mittelalters, der Leidenschaft der schönen Heloise und ihres Lehrers Abaelard, weiß er ebenso geistreich zu berichten wie über die Heilige Katharina von Siena (1347–1380). Die Färberstochter, die, wenngleich Analphabetin, flammende Briefe an Fürsten, Kardinäle und Päpste richtet, tritt auf als eine geniale, wortgewaltige Züchtigerin und Prophetin. Ihre Blutmystik ist leibbezogen und sinnenhaft. Sie ist der energetische Impuls ihres männlich kühnen Handelns.
Unerschöpflich leuchtet die Mystik von Meister Eckhart (1260–1328) durch die Jahrhunderte. Seine Lehre von der Gelassenheit und der Entsagung des wesentlich gewordenen Menschen, die Bereitschaft, „Gott um Gottes willen zu lassen“, und der Gedanke vom „Seelenfünklein“, mit dem der Mensch alle Kreatur überragt und teilhat an der göttlichen Natur, all dies trug ihm letztendlich den Vorwurf der Häresie ein. Seine Verurteilung hat er nicht mehr erlebt. Wohl aber wirken seine Gedanken exemplarisch auf die Nachwelt. Im 19. Jahrhundert wird Franz von Baader Meister Eckhart neu entdecken, und in der Kette der Denker, die sich über Cusanus und Paracelsus bis Schopenhauer erstreckt, kommt dem Görlitzer Schuster Jakob Böhme (1575–1624), dem philosophus teutonicus, besondere Bedeutung zu. Kaltenbrunner urteilt: „Wer … wenigstens in gewissen Stunden ein Organ für das hat, worum es Meister Eckhart geht, wird zumindest gelegentlich nach den Schriften des Meisters selbst greifen wollen. Auch heute noch, mehr als sechshundert Jahre nach seinem Tode, wirkt Eckhart wesentlich durch seine Sprachgewalt. Sie ist imstande, selbst Menschen, die sich keiner Kirche oder Konfession verbunden fühlen, unmittelbar anzusprechen. Blitzartig vermittelt sie eine Ahnung davon, daß es eine Wirklichkeit gibt, im Vergleich zu der alles, was uns sonst noch so real zu sein scheint, wie wesenlos und nichtig wirkt.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1)
Einer der bemerkenswertesten Menschen, die der Archipel Gulag für immer verschlang, war der Naturwissenschaftler und Techniker, Anthropologe, Kosmologe, Professor und orthodoxe Geistliche Pavel (Paul) Florenskij, geboren am 9. Januar 1882 in Jewlach; am 25. November 1937 zum Tode verurteilt durch ein stalinistisches Sondergericht des Volkskommissariats des Inneren (NKWD). Vermutlich wurde das Urteil am 8. Dezember 1937 in Leningrad vollstreckt. Dieser russische Leonardo da Vinci, ein überragender Geist von durchdringender Religiosität, verfasste selbst unter den erniedrigendsten Umständen tiefsinnige Werke. Kaltenbrunner nennt „Die Säule und Grundfeste der Wahrheit“ (1914) eine „Summa theologiae“. In kühnen Gedankengängen werden in einer Art theo-kosmogonischer Synthese sophianische Zusammenhänge erörtert. In dem 1996 auch auf Deutsch erschienenen Werk „Die Ikonostase“ macht der russische Denker den Leser mit einer Form des Christentums vertraut, dessen kultische Mitte nicht das Wort ist, sondern das Bild.
Das heimliche Europa des Geistes ist, wie sein unermüdlicher Interpret, der Visionär Kaltenbrunner, nachweist, unendlich größer als die heutige Welt. „Geist ist ein Universum für sich, einerseits dem Kosmos als kleines flackerndes Flämmchen innewohnend, anderseits aber das ganze Weltall samt seinen unvorstellbaren Lichtjahren umfassend. Das meint ja auch Pascal mit seinen denkwürdigen Worten: ‚Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht im Raum habe ich meine Würde zu suchen, sondern im Denken‘ (Pensées 347 f).“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2) Uneingeschränkte Bewunderung galt demnach den „Geistesriesen“, Männern wie Görres oder von Baader.
Der Rheinfranke Joseph Görres (1776–1848), ein „vielbewegter und vieles bewegender“ Kopf, als junger Mann begeisterter deutscher Jakobiner, delegiert nach Paris (1799/1800) zur Vorbereitung der Übergabe der linksrheinischen Gebiete an Frankreich, Herausgeber des später verbotenen „Roten Blattes“, erlebt sein Damaskus, als er im Nachbarland den Ausbruch der Despotie feststellen muss. „Görres ist wohl der einzige deutsche Denker, der am Modell der Französischen Revolution zu einer Analyse revolutionärer Prozesse überhaupt vorgestoßen ist, die sich mit den Werken Edmund Burkes, Alexis de Tocquevilles und Georges Sorels vergleichen läßt.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2) Ernüchtert und scharfsinnig beginnt er, der vorläufig mit der Kirche gebrochen hatte, über die Wiedergeburt des deutschen Volkes zu spekulieren. Er entwickelt eine eigene Philosophie, Ideen hinsichtlich des Lebens, des Organismus, der Geschlechtlichkeit und Zeugung wie auch der Geburt. Neuplatonische, paracelsische und theosophische Elemente bilden ein eigenwilliges Ganzes. Görres lehrt in Heidelberg, später in München, gibt den „Rheinischen Merkur“ (für Napoleon die „fünfte feindliche Großmacht“) heraus. Er schart Männer wie Joseph von Eichendorff (1788–1857), Anton Friedrich Thibaut (1772–1840), Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) um sich und gründet die Keimzelle der jüngeren Romantik. Klar erkennt er den Verfall des Christentums. Seine Ansicht, dass auf Katholizismus und Protestantismus eine Art „drittes Christentum“, eine ecclesia spiritualis auf der Grundlage eines naturmystischen Lebensgefühls folgt, ist eine hochgemute und hoffnungsvolle Vision. Dieser wortgewaltige Feuergeist wird zum nationalen Sprachrohr der Deutschen gegen die Napoleonische Herrschaft und muss schließlich ins Straßburger Exil flüchten, wo 1821 die hochbedeutsame Schrift „Europa und die Revolution“ erscheint. 1824 kehrt er mit seiner Familie zurück zum Katholizismus und wird dessen glühender Verteidiger. Schließlich verfasst er 1837 im Kölner Kirchenstreit die Kampfschrift „Athanasius“. Seine lebenslangen mythologischen Studien finden ihren Niederschlag in dem Riesenwerk „Die christliche Mystik“, welches beinahe auf den Index verbannt worden wäre. Kaltenbrunner bescheinigt Joseph Görres, „ein Mensch mit doppelter Natur“ zu sein, der die Dämonie in der Geschichte, das finstere Reich des Abgrundes, klar erkennt. In gewisser Weise fühlt er sich ihm geistesverwandt, wie folgende Worte bezeugen:
„Görres war eine in hohem Grade rezeptive Natur. Es hat kaum eine geistige Bewegung vor ihm, keine gleichzeitige gegeben, die er nicht auf sich hätte wirken lassen. Er, der nie an einer Universität studiert hatte, war selber eine ganze Universität. Begabt mit einem nichts auslassenden Gedächtnis, hat er sich zu allem, sei es Politik, Philosophie, Mythologie, Medizin, Geschichte, Literatur, Orientalistik und Kirche, einen eigenen persönlich geprägten Reim gemacht. …
Görres wirkte nicht als Fachmann, sondern als Entdecker, Anreger, Liebhaber. Er lebte und dachte gewissermaßen essayistisch. Er war und blieb auf geniale Weise Autodidakt und Dilettant.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Franz von Baader (1765–1841) pflegte eine Katholizität, die wenig mit der römischen Kirche gemeinsam hatte und vielfach antipapistische Kritik einschloss. Er, der ein enger Freund von Johann Michael Sailer war, empfand sich als „Böhme redivivus“. Leopold Ziegler schreibt in dem Vorwort zu seinem zweibändigen Werk „Menschwerdung“, dass Baader gläubiger Katholik, treu anhänglich den kirchlichen Lehrbegriffen, und zugleich der berufenste Adept Böhmes war, tief eingeweiht in echte Alchemie und echte Mystik. Baader überschritt bedenkenlos konfessionelle Grenzen. Seine ökumenischen Bestrebungen umfassten auch die Orthodoxie. Im Geiste religiöser Weltverantwortung verstand er sich als Vermittler zwischen Ost und West. Hineingestellt fühlte er sich in eine Urtradition, die bereits im Paradies beginnt. Kaltenbrunner resümiert: „Die vorsokratische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Elementenlehre ist für Baader ebenso wenig abgetan wie die hebräische Esoterik mit ihren Aufschlüssen über die Chochma (Sophia), die Sephirot und den Adam Kadmon, dessen Androgynität nicht Hermaphroditentum bedeutet, sondern ganzheitlich heile, geheiligt aufgehobene, keineswegs aber vernichtete oder verworfene Geschlechtlichkeit.“ („Franz von Baader. Erotische Philosophie“) Eine sehr differenzierte und facettenreiche Darstellung des Lebens und Wirkens dieses der theozentrischen Heiligung der Natur, der Esoterik der Erde und der Ökosophie verpflichteten Denkers bietet sein Bewunderer. Nicht zuletzt ortet er bei Baader jene Geisteshaltung, die gegen die Weisheitsvergessenheit, den intellektuellen Sündenfall des ursprünglich mit der göttlichen Sophia versehenen Menschen ankämpft. So sieht er eine mystisch-theosophische Sukzession, einen spirituellen Strom abseits der Amtskirche. Begeistert berichtete Kaltenbrunner von der Begegnung mit den Baader´schen Schriften um 1960 in München. „Ich habe mich damals durch intensive Lektüre in einem solchen Ausmaß in seine Welt hineinversetzt, daß ich eine Zeitlang ganz in ihr lebte, auch die alltäglichsten Dinge und Begebenheiten mit seinen Augen, im Widerschein seiner Erleuchtungen wahrnahm“.
1988 erhielt Gerd-Klaus Kaltenbrunner den „Wolfgang Amadeus Mozart-Preis für Kulturelle Publizistik“ der Goethe-Stiftung Basel. Er, der sich mit zunehmendem Alter immer häufiger die Frage nach der Berechtigung seiner Texte stellte und gesprächsweise betonte, dass ein Autor für jedes Wort, welches er veröffentlicht, verantwortlich sei, wurde vor allem auch hinsichtlich seiner facettenreichen Darstellungen immer kritischer. Es war ihm bewusst, dass er selbst in offenkundigen Einseitigkeiten, ja in Irrtümern, verborgene Wahrheitskeime entdeckt hatte. Ein historischer Gerechtigkeitssinn veranlasste ihn zu ausgewogenen, oft auch unorthodoxen Urteilen. Stets betonte er, dass nur derjenige, welcher der Dahingeschiedenen gedenkt, seine eigene Geschichte gewinne. Der Text zur Preisverleihung würdigt seine Haltung: „Gegen alle modisch vergänglichen Denkweisen bekennt er sich in seinen Werken zu einem Traditionalismus, der das Verhältnis der Bewahrung und Wandel als einen schöpferischen, dialektischen Prozess versteht. Hoffnung für Gegenwart und Zukunft einer Welt, der die Selbstzerstörung droht, setzt er in einen Fortschritt, der sich auf dem Grunde gültiger Überlieferung entfaltet.“
Dem heimlichen Europa des Geistes sind drei Gestalten verpflichtet, deren konservative Wahrheiten zeitübergreifend wirken.
Der Ire Edmund Burke (1729–1797) verfasst 1790, also zu einer Zeit, in der die Französische Revolution von fast allen tonangebenden Europäern frenetisch begrüßt wurde, seine „Reflections“ („Betrachtungen über die Französische Revolution“). Dieses Buch gilt auch heute noch als Bibel der Konservativen. Hellsichtig arbeitet der Autor die immer wiederkehrenden Grundzüge extremer Umwälzungen heraus. Er prognostiziert illusionslos eine blutige Schreckensherrschaft, Chaos, Terror und die entfesselte Liberalisierung, die in gnadenlose Tyrannei umschlägt. Das Grundmuster aller späteren Revolutionen ist bei ihm vorgezeichnet: die „philosophische Revolution“, die allen politischen Systemveränderungen vorausgeht, und die „akademische Windstille“, die künftige Grausamkeiten legitimiert. Seine Grundsätze konservativer Staatsklugheit sind auch heute noch unvermindert aktuell. Kaltenbrunner zitiert jenen Brief, den Burke an ein Mitglied der Pariser Nationalversammlung schrieb. Es heißt dort: „But what is liberty without wisdom, and without virtue? – Die Menschen eignen sich zur bürgerlichen Freiheit in genauem Verhältnis zu ihrem Willen, ihrem eigenen Appetit moralische Fesseln anzulegen; im Verhältnis, wie sie lieber auf den Rat der Urteilsfähigen und Rechtschaffenen als auf die Schmeicheleien von Lumpen hören; im Verhältnis, wie ihre Liebe zur Gerechtigkeit ihre Habsucht übertrifft. … Es liegt im ewigen Lauf der Dinge beschlossen, dass Menschen von ungezügeltem Charakter nicht frei sein können.“ (zitiert nach „Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Der italienische Soziologe und Rechtsintellektuelle Vilfredo Pareto (1848–1923) wird primär mit seinem Hauptwerk „Trattato di sociologia generale“ („Allgemeine Soziologie“) gewürdigt. Es umfasst vier Bände mit insgesamt 2612 Paragraphen und legt Paretos gesamte Theorie dar (I. Band: Handlungstheorie; II. Band: Theorie der Residuen, der emotionalen Grundlage menschlichen Verhaltens; III. Band: Theorie der Derivationen, der pseudo-logischen Erklärungen des auf den Residuen basierenden Verhaltens; IV. Band: Fragen der Gesellschaftsform, des gesellschaftlichen Gleichgewichtes und der Eliten). Kaltenbrunner betont die Eigenart der Klassentheorie Paretos: „Vorauszuschicken ist, daß der italienische Soziologe den Begriff Elite völlig wertfrei, ohne moralische Nebentöne, definiert. Elite besagt bloß, daß sowohl in der Gesamtgesellschaft als auch in jedem ihrer Untersysteme einige wenige eine Macht über ihresgleichen besitzen, die in keiner Proportion zu ihrer Zahl … steht. Eine Minorität fällt Entscheidungen, die alle betreffen. An dieser Tatsache könne eine parlamentarische Demokratie ebenso wenig ändern wie ein Sozialismus mit noch so menschlichem Antlitz. Es verwundert nicht, daß eine solche Lehre … wenig beliebt ist.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1) Der Uomo universale aus Kandern nennt Pareto einen „gnadenlosen Analytiker“, den man ruchlos des Zynismus, Amoralismus, Elitismus und vor allem Faschismus bezichtigte. Sein Werk sei ein unausschöpfbares Arsenal menschlicher Selbsterkenntnis.
Othmar Spann (1878–1950) begründete einen Universalismus (universalistisch-idealistische Gesellschaftslehre), der sich gegen Rationalismus, Liberalismus, Materialismus und Marxismus richtete, und forderte eine Neuordnung von Staat und Gesellschaft auf berufsständischer Grundlage (Ständestaat). Er war Polaritätsdenker. Sein Begriff „Gezweiung“ kennzeichnet die alles Leben durchdringende Polarität. Ferner gilt er als Begründer der Ganzheitsphilosophie. Kaltenbrunner beklagt, dass Othmar Spann von liberalen Flachköpfen und sozialistischen Schreihälsen als Faschist betrachtet werde. Er gibt der Hoffnung Ausdruck, dieser untypische Vertreter der österreichischen Intelligenz im 20. Jahrhundert „könnte … jene metaphysische Glut wieder anfachen, die wohl in jedem Menschen steckt, doch unter der Asche alltäglicher Selbstverständlichkeiten, angelernter Vorurteile und konventionellen Geredes nur zu oft zu verlöschen droht.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 1)
Mit eiserner Disziplin hat Kaltenbrunner persönlich in seinem verschwiegenen Haus im Ölmättle in Kandern jenes bescheidene, zurückgezogene und naturnahe Leben geführt, welches ihm gewissermaßen als Sandkorn im größenwahnsinnig arbeitenden Getriebe der globalen Ökokatastrophe erschien. Immer wieder verweist er daher auch auf faszinierende Denker wie zum Beispiel Emil M. Cioran (1911–1995). Wenngleich er dessen nihilistisches Gedankengut keineswegs teilt, so bestätigt er ihm, ein furioser Kritiker des Fortschrittsglaubens zu sein. Lange bevor das Gerede vom Untergang der Erde en vogue war, geißelte der Rumäne in schmalen Bänden („Lehre vom Zerfall“, „Syllogismen der Bitterkeit“, „Dasein als Versuchung“, „Der Absturz in die Zeit“) den Utopismus seiner Zeitgenossen. Gesprächsweise hat sich Cioran äußerst lobend über Kaltenbrunners essayistisches Werk geäußert.
Europäische Menschen, in denen der abendländische Geist lebendig ist, die über eine seelische Bindung an das Heilige Deutsche Reich verfügen, ortet Kaltenbrunner sensibel in Gestalten wie dem Philosophen und Bibelübersetzer Franz Rosenzweig (1886–1929) und dem ungekrönten König der Münchner Bohème, dem Dichter des George-Kreises Karl Wolfskehl (1869–1948). Letzteren nennt er einen erzdeutschen Juden und erzjüdischen Deutschen. Er zitiert in diesem Zusammenhang Fritz Usinger, der in München als junger Student dem faszinierenden, weit älteren Poeten begegnete und nach dessen Tod im australischen Exil schrieb: „Ich finde es unendlich traurig, daß man dieses herrlichen Mannes in Deutschland so gar nicht gedenkt. Da liegt so ein Mann, der Deutschland über alles geliebt hat, in einem einsamen Grab am anderen Ende der Welt. Welche Liebesqualen muß er ausgestanden haben und mit welchem Gefühl der völligen Verlassenheit muß er gestorben sein! Er hat das gewaltigste Gedicht der deutschen Emigration geschrieben, den ‚Sang an die Deutschen‘. Aber das ist alles so gut wie nicht da, der Mann sowohl, als auch seine Gedichte.“ (zitiert nach: „Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Immer wieder hob man hervor, dass Kaltenbrunners kultivierte Sprachschöpfungen einen Lesegenuss par excellence darstellen. Selbstverständlich wurde auch das Gegenteil behauptet: nerviges Namedropping, eigenwillige Diktion. Wie der Essayist selbst immer wieder bekundete, werden große Geister oft von allen Seiten kritisiert. Die Kunst, Sprache so zu gebrauchen, dass neue Aspekte der Wirklichkeit aufscheinen, wird zweifellos in geistigen Debatten geschult. Denkkraft und daraus resultierende geschliffene Formulierung entwickeln sich im vertrauten Umgang mit Philosophie, Psychologie und Literatur. So blitzt in dem Essay über den hellsichtigen, von faustischem Streben beseelten Naturforscher Emanuel Swedenborg (1688–1772) im Gewand des Absichtslosen, ja drollig Verspielten feinster Humor auf. Der makabren, wenngleich sich ernsthaft gebärdenden, durch den Arzt Franz Joseph Gall begründeten Wissenschaft der Phrenologie (Schädelkunde) fiel letztlich Swedenborgs Haupt zum Opfer, um nach unbeschreiblichen Irrungen und Wirrungen schließlich am 6. März 1978 bei Sotheby’s versteigert zu werden. Die kopfjägerische Sammelleidenschaft persifliert Kaltenbrunner: „Vermögende Liebhaber trachteten nicht nur nach verblichenen prominenten Häuptern, sondern verhandelten vorsorglich auch schon mit lebenden Köpfen, um sich deren postmortalen Besitz zu sichern. Empfindsame Schöngeister wurden zunehmend kopfscheu, da sie nicht einmal in geselligen Kränzchen oder intimen Zusammenkünften damit rechnen konnten, vor der Zudringlichkeit sich wissenschaftlich tarnender Skalpjäger gefeit zu sein. … Ob der hellseherische Schwede, der in so vielen okkulten Dingen bewandert war, auch diese Odyssee seines zum Auktionsobjekt herabgewürdigten Schädels vorausgewußt hat? Wenn er aber, so wie es für ihn bis zuletzt feststand, jetzt erdentrückt bei den Cherubim und Seraphim weilt, mit ihnen Gottgeheimnis und Welträtsel spitzfindig erörternd, dann wird er wohl wegen des Schicksals seines irdischen Schädels nicht den himmlischen Kopf verlieren, sondern dafür nur ein ätherisches Lächeln übrig haben.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Zeit und Ewigkeit, Politik und Metapolitik, Staatsformen und Mystik: All dies war dem gelehrten Publizisten und geistigen Abenteurer Kaltenbrunner Allgegenwart. Er übte sich in einer Art mentaler Fechtkunst, die dann wohl auch eine Vielzahl von Namen elegant mit dem scharfgeschliffenen Florett der Sprache berührte. Einerseits verband er mit Namensnennungen eine Art Hommage gegenüber Lebenden und Verstorbenen, andererseits pflegte er einen gewissen gedanklichen Radius damit zu umschreiben. Immer wieder erstaunen seine lebendigen Synthesen, die Zeiträume und unterschiedliche Gestalten wertend umfassen, aber auch Ambivalenzen von Denkern und deren Lebenswerk berücksichtigen. So schlägt er den Bogen bis zu Schellings Identitätsphilosophie und Alfred North Whiteheads Metaphysik.
Diese streiflichtartigen Überlegungen schließen bewusst mit dem Hinweis auf den kurzen, hochkarätigen Essay über den „Homer der Insekten“ Jean-Henri Fabre (1823–1915), Autor der unerschöpflichen „Souvenirs entomologiques“. Dieser begnadete Naturbeobachter und Entomologe (Kaltenbrunner nennt ihn einen eigenbrötlerischen Kauz und eine Figur à la Spitzweg) erforschte mit akribischer Neugier die instinkthaften Lebensgewohnheiten der Insekten. Vom „dämonischen Liebesleben der männermordenden Mantis“ bis zu den keineswegs immer feinen kulinarischen Genüssen der Marienkäfer reichen seine Forschungen. Man stelle sich diesen vom „Geheimnis des Organischen“ ergriffenen Chronisten der Insektenwelt, den kein Geringerer als Adolf Portmann mit dem visionären Höllenmaler Hieronymus Bosch vergleicht und ihm eine analoge Genialität auf naturwissenschaftlichem Gebiet bescheinigt, leibhaftig vor. Gleicht er in seinem Forscherdrang nicht dem entflammten temperamentvollen Idealisten im Ölmättle zu Kandern?
Mit einem uralten Text von Paracelsus (1493–1541) wollen wir unsere Einführung beschließen. Theophrastus Bombast von Hohenheim, ein beispiellos elementenkundiger Mann, gleicht in seiner ärztlichen Theosophie der fernen und doch unmittelbar geistesverwandten Naturforscherin Hildegard und ihrer theosophisch untermauerten Medizin. Der Begriff der viriditas, der Grünheit, spielt bei der Äbtissin eine zentrale Rolle. Und lichtes, sprossendes Grün fand sich als bestimmende Farbe in Kaltenbrunners Haus, in seinem Umfeld. „Vielleicht grünet, was ietzt hierfür keimet, mit der Zeit.“
Sinngemäß schreibt Hildegard in ihrer Lehre von den Welt-Elementen, dass das ganze Weltgefüge im Dienste des Lichtes stehe. Die Erde als Mitte zwischen den übrigen Elementen sei von diesen in ihrer Mitte gehalten und verbunden, zu ihrer Erhaltung beständig gespeist von Grünkraft (viriditas) und Zeugungskraft (fortitudo).
So schließt sich denn der Kreis. Gärtner kennen das beseligende Gefühl, wenn endlich das Saatkorn, welches der dunklen Erde anvertraut wurde, keimt. Nadelspitz durchstößt das neue Leben die harte Kruste. Es mehren sich die Anzeichen, dass jene Goldkörner, welche kundige Leser im Schrifttum des so früh verstorbenen Wahleremiten aufspüren, keimen und grünen werden. Der blühende Lebensraum, gepaart mit dem geistdurchwehten Flair eines büchergefüllten Hauses, erfüllte die letzten Lebenstage des Zeitdiagnostikers Kaltenbrunner. Auf seinen Nachruhm angesprochen hätte er wohl mit Paracelsus geantwortet:
„Selig werden die Leut sein / zu den selbigen Zeiten / denen der Verstand geoffenbart wird werden: Denn alle Herzen der Menschen / was sie auch hervorgebracht haben / wird offenbar / als stünd’s einem jeglichen an seiner Stirn. Auf die selbige Zeit befehl ich auch das Urteil meiner Schriften / dass nichts verhalten bleibe / wie dann geschehen werde. Denn Gott setzt das Licht offenbar / das ist / ein jeglicher wird sehen / wie es geleuchtet hat.“ („Liber de nymphis, sylphis, pygmaeis et salamandris et de caeteris spiritibus“)
Magdalena S. Gmehling