Читать книгу Spielball ferner Welten - Gerd Kramer - Страница 5

5. Kapitel

Оглавление

Es war mitten in der Nacht, als Brink anrief.

„Unser Objekt hat sich bewegt“, sagte er aufgeregt. „Ich habe eine Funktion in die App eingebaut, die mich weckt, wenn das passiert.“

„Wo ist es jetzt?“

„Außerhalb des Schrottplatzes, aber noch in der Nähe des Firmengeländes.“

„Ich komme sofort. Bis gleich.“ Fischer drückte das Gespräch weg und zog sich hastig an. Die Katze eilte aus dem Wohnzimmer herbei, vermutlich in der Hoffnung, dass es außerhalb der vereinbarten Zeiten etwas zu fressen gab. Doch sie hatte Pech. Fischer ignorierte ihr herzerweichendes Miauen und machte sich auf den Weg.

Brink wartete bereits am Eingangstor. Er stieg auf der Beifahrerseite ein.

„Ich bin gespannt, wo das Ding hin will. Hast du eine Taschenlampe dabei? Ich hab nicht daran gedacht, eine einzustecken“, sagte er.

„Im Kofferraum. Wir haben Vollmond, und es ist erstaunlich hell.“

„Bei Vollmond passieren die unheimlichsten Geschichten“, scherzte Brink. Aber seine Anspannung war ihm deutlich anzumerken.

Er hielt sein Smartphone in der Hand und dirigierte die Fahrt. „Da vorne müssen wir links abbiegen. Das Objekt ist nur noch fünfhundert Meter entfernt. Wenn wir nahe genug dran sind, sollten wir zu Fuß weitergehen.“

„Was will es in dieser gottverlassenen Gegend? Gibt es hier irgendetwas Besonderes?“

„Absolut nichts. Nur ödes Brachland.“

Sie bogen in einen Feldweg ein. Fischer stoppte den Wagen und schaltete den Motor ab. Dann stiegen sie aus. Fischer nahm die Taschenlampe aus dem Kofferraum. Die beiden Männer folgten der Spinne, die sich im Schritttempo fortbewegte, in einem Abstand von hundert Metern. Nach einer Viertelstunde änderte sie die Richtung und lief auf einen Hügel zu, der in der Ferne auftauchte.

„Da ist sie“, flüsterte Fischer plötzlich und richtete den Strahl der Taschenlampe auf die Spinne, die gerade hinter einem Grasbüschel verschwand. Warum er flüsterte, wusste er selbst nicht. Es gab keine Anzeichen dafür, dass der Roboter akustische Sensoren besaß.

„Das kann nicht sein. Unser Objekt muss weiter weg sein.“

„Da ist noch eine Spinne. Dort drüben! Und noch eine. Es sieht so aus, als hätten sich alle sechs Exemplare hier verabredet. Wir müssen verdammt vorsichtig sein, dass wir keiner zu nahe kommen.“ Fischer richtete den Lichtstrahl einige Meter voraus auf den Boden. Er ging nur noch langsam vorwärts. Auch Brink reduzierte sein Tempo und beobachtete argwöhnisch die Umgebung. Als sie den Hügel erreichten, zeigte das GPS-Signal an, dass sich das Zielobjekt nicht mehr bewegte.

Wenig später standen Brink und Fischer auf dem Hügel und blickten auf ein Szenario, das ihnen die Sprache verschlug. Tausende Spinnen hatten sich im Mondlicht zu einem kreisförmigen Gebilde formiert. Die einzelnen Elemente bewegten sich, als suchten sie ihre optimale Position. Gleichzeitig schien das Ganze einem koordinierten, übergeordneten Bewegungsmuster zu folgen. Zu den Rändern hin stapelten sich immer mehr übereinander und bildeten fast eine Halbkugel. Das Mondlicht spiegelte sich an den Spinnenkörpern und erzeugte konzentrische Ringe in Regenbogenfarben. Der Anblick war gespenstisch, faszinierend und schön zugleich.

„Was ist das? Was geht hier vor?“, stotterte Brink.

Fischer hatte als Erster die Fassung wiedererlangt. Er zückte sein Smartphone und filmte die Szene.

„Es sieht so aus, als verhielte sich die Ansammlung wie ein Schwarm.“

„Das sind Tausende Spinnen. Wo kommen die alle her? Ich verstehe das nicht. Die können sich doch nicht vermehrt haben.“

„Vielleicht …“

„Was?“

„Keine Ahnung.“

„Sag schon.“

„Ich weiß es doch auch nicht. Sie könnten sich reproduziert haben. Autoreplikation.“

„Du meinst, die bauen Ihresgleichen nach? Der Schrottplatz! Verdammt. Die holen sich das Material, das sie brauchen, vom Recyclingbetrieb.“ Brink schüttelte den Kopf.

„Ich schließe nichts mehr aus. Aber in so kurzer Zeit? Außerdem müsste man den Schwund bei der Firma doch bemerkt haben.“

„Dort werden Unmengen Schrott verarbeitet“, antwortete Brink. „Aber vermutlich hat man die Fraßspuren bereits entdeckt. Und was die Vermehrung betrifft, die Replikation – kennst du das Schachbrettproblem?“

„Die Sache mit den Reiskörnern. Ja, natürlich – du hast recht. Das Ganze entwickelt sich exponentiell. Von sechs Exemplaren ausgehend: 12, 24, 48, 96, 192, 384, 768. In nur sieben Schritten wären wir bei einer Population von summa summarum 1524.“

„1530.“

Fischer stutzte. „Äh – und ich hab gedacht, eure Generation könnte nicht mehr kopfrechnen.“

„Ich hab geblufft und damit gerechnet, dass du die ersten sechs vergisst.“

Fischer lachte. „Nicht schlecht.“

„Und du glaubst, dass alle Biester zusammen einen Schwarm bilden?“

„Im günstigsten Fall ja.“

„Mann, wovon sprichst du? Was heißt das: ‚im günstigsten Fall‘?“

„Ach nichts. Die Fantasie geht manchmal mit mir durch. Diese Versammlung da unten hat etwas zu bedeuten. Wir müssen herauskriegen, was es ist. Wir müssen ganz cool bleiben und das Treiben beobachten.“

Die beiden Männer standen stumm nebeneinander auf der Anhöhe und sahen auf die Spinnenformation herab. Es war noch immer Bewegung in der Anordnung. Das Ganze wurde begleitet von einem kaum hörbaren Rauschen und einem singenden, hochfrequenten Ton, der plötzlich verstummte. Auch die Bewegung erstarrte für einen Moment.

Ein scharfer Geräuschimpuls folgte. Sekunden später löste sich die Formation auf, und die ersten Mitglieder kamen auf Brink und Fischer zu.

„Weg hier!“, schrie dieser.

Obwohl sie auch im Schritttempo schneller waren als die Spinnenroboter, rannten sie Richtung Fahrzeug. Nach einigen hundert Metern verließ Fischer die Puste.

„Ich glaube, wir sind aus der Gefahrenzone“, japste er und verlangsamte seinen Lauf.

Als sie im Auto saßen und den Feldweg hinter sich ließen, ergriff Brink als Erster das Wort.

„Vermutlich werden sie sich jetzt wieder auf dem Recyclinghof satt fressen.“

„Sicher ist das nicht. Vielleicht haben sie die Population erreicht, die sie angestrebt haben.“

„Aber irgendwo müssen sie sich verstecken. Wenn die Riesenviecher in der Öffentlichkeit auftauchen, wird man Jagd auf sie machen.“

„Ich glaube nicht, dass sie das fürchten müssen. Du vergisst, dass sie sich verkleinern können. Dann sehen sie aus wie ganz normale Spinnen. Das ist eine perfekte Tarnung. Nur wenn sie eine Aktion planen, ist ihre wahre Größe gefragt.“

„Das klingt nicht gut. Wie kommt es eigentlich, dass ich ständig denke, dass du den Durchblick hast und ich hinterherhinke?“

„Reiner Bluff. Vielleicht hilft dabei auch das Image der Physiker. Manche Leute glauben, dass wir alle kleine Einsteins sind. Was natürlich Quatsch ist. Na ja fast. Da ist schon was dran.“ Fischer lachte.

„Nein im Ernst. Ich hab den Eindruck, dass du mehr weißt, als du zugibst.“

„Vielleicht hab ich aufgrund meines Alters mehr Erfahrung. Ich bin während meiner Arbeit oft an einem Punkt angelangt, an dem nur noch eine beträchtliche Portion Intuition weiterhalf.“

„Und was sagt deine Intuition? Was lief da vorhin ab?“

„Ich werde mir den Film nachher noch einmal genau ansehen. Aber ich hatte den Eindruck, als hätte sich der Schwarm ganz gezielt ausgerichtet. Kannst du dir vorstellen, was für eine Energie auf einem Haufen versammelt war? Denk an den Stromschlag, den du erhalten hast, und multipliziere das mit tausend, wobei es meiner Ansicht nach wesentlich mehr Einheiten waren.“

„Die Energie wäre nur für kurze Zeit abrufbar“, warf Brink ein.

„Ja. Aber man könnte damit einen gigantischen Puls erzeugen. Zum Beispiel einen Laserpuls.“

„Worauf willst du hinaus?“

Fischer lenkte seinen Daimler auf den Firmenparkplatz und schaltete den Motor aus. „Auf gar nichts. Ich fantasiere nur ein wenig.“

„Egal. Mach weiter.“

„Der Schwarm könnte einen Laserstrahl ausgesendet haben.“

Brink lachte. „Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“

„Wie gesagt. Ich fantasiere nur. Oder nenne es Brainstorming. Lassen wir das.“

„Nein, nein. Sorry. Deine Gedankengänge sind faszinierend.“

Die beiden Männer saßen immer noch im Auto, und keiner kam auf die Idee auszusteigen.

„Einen einzelnen Puls kurzer Dauer hätten wir nicht sehen können.“

„Klar.“

„Der Puls hätte genügend Energie, um einen fremden Stern zu erreichen.“

„Wow! Glaubst du wirklich …“

„Nein. Nicht wirklich. Nur theoretisch denkbar wäre es.“

„Jetzt spinne ich einmal weiter“, sagte Brink. „Die Kreaturen unterhalten sich auf diese Art oder über Radiowellen oder wie auch immer mit Bewohnern eines fremden Planeten.“

„Eine Unterhaltung wird kaum aufkommen können. Der nächste Stern, außer der Sonne, versteht sich, liegt über vier Lichtjahre von uns entfernt. Unsere Spinnen müssten fast neun Jahre auf eine Antwort warten. Außerdem bezweifle ich, dass Proxima Centauri oder einer der anderen beiden Sterne des Alpha-Centauri-Systems einen bewohnbaren Planeten besitzt. Und mit einem kurzen Impuls ließen sich sowieso keine großen Datenmengen übertragen. Aber der Spinnenschwarm könnte ganz einfach ein Signal senden, das heißen soll: ‚Hier läuft alles nach Plan‘.“

„Gut. Spielen wir das Spiel weiter. Könnten wir herausfinden, wo der Planet liegt?“

„Eine schwierige Frage. Ich bin leider kein Astrophysiker oder Kosmologe. In jedem Fall dürfte der Planet nicht weiter als zwanzig Lichtjahre weg sein. Selbst der scharf gebündelte Laserstrahl weitet sich über die Entfernung aus. Irgendwann kommen einfach nicht mehr genug Photonen ans Ziel.“

„Wenn wir aus der Form des Schwarms die Richtung ableiten könnten, hätten wir den Winkel. Dann dürfte es kein Problem sein, den Planeten zu finden.“

„Zumindest den Zentralstern der Außerirdischen. Aber genug der Spekulation, bevor wir vollends in Science-Fiction abgleiten. Wir sollten uns an Fakten halten.“

„Die Überlegungen haben aber Spaß gemacht.“ Brink lachte und stieg aus.

Fischer ließ das Fenster hinuntergleiten. „Ich fahre jetzt nach Hause. In den nächsten Tagen werde ich noch einmal einen Versuch unternehmen, die Behörden auf die Gefahr hinzuweisen, allerdings ohne Aliens zu erwähnen. Ich rufe dich an.“

„Und ich werde Nadja informieren.“

„Äh. Lass mich das machen“, sagte Fischer.

„Du?“

„Ich hab es ihr versprochen.“

„Na dann.“

*

Fischer rief Nadja Linddorf an und schilderte ihr die Ereignisse der Nacht. Sie hörte zu, ohne ihn zu unterbrechen.

„Wieso hat mein Bruder mich nicht angerufen?“

Auf diese Frage war Fischer nicht gefasst.

„Ja. Äh“, stotterte er. „Ich wollte dich informieren, weil – na, weil ich dich sowieso sprechen wollte.“

„So?“

„Ja. Als Biologin.“

„Ich verstehe nicht.“

„Ich meine, die Spinnen sind zwar keine Tiere, aber vielleicht ist ihr Verhalten den Lebewesen nachgebildet. Können sie zum Beispiel ein typisches Schwarmverhalten zeigen? So wie Fische oder Vögel?“ Die Frage war Fischer spontan eingefallen. Er stellte sie, obwohl er die Antwort kannte.

„Nein. Allerdings sind größere Ansammlungen von Spinnen beobachtet worden. In einem indischen Dorf hat sich eine Invasion großer, giftiger Tiere ereignet. Dabei hat es sogar zwei Tote gegeben. Aber ein echtes Schwarmverhalten wurde auch dort nicht festgestellt.“

„Hm.“

„Worauf willst du hinaus?“

„Wie unser Erlebnis zeigte, scheint sich unsere künstliche Spezies in gewisser Weise zu organisieren. Aber vermutlich haben die Spinnen nur die Form und die Fortbewegungsart der echten Artgenossen angenommen und nicht ihr Verhalten. Was hältst du davon, wenn wir das einmal in Ruhe besprechen? Bei einem Glas Wein, in einem Restaurant.“

Nadja lachte, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sein Manöver durchschaut hatte. Umso mehr freute er sich, dass sie zustimmte. Sie verabredeten sich für den kommenden Samstagabend.

Spielball ferner Welten

Подняться наверх