Читать книгу Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеDas Kind zeigte früh ein freundliches, fügsames Wesen und lernte ungewöhnlich schnell erwachsene Wörter. Schon mit zwei Jahren sagte sie Dinge wie „dementsprechend“ und „vorübergehend“. Ihr Vater fand das sehr witzig und brachte ihr bei, „Amor vincit omnia“ zu sagen. Die Liebe überwindet alles, übersetzte er. Augusta war dunkel und braunäugig wie ihr Vater, sie war mollig und hatte Apfelbäckchen, und schon bald trottete sie hinter ihm her über die Felder, sammelte in ihrer kleinen Schürze Steine und legte sie aufeinander, damit sie weggefahren werden konnten. Sie sangen dabei gern „Des Nordens Berge mit den blauen Gletschern, der Urzeit dunkle Minne“ und andere Lieder zum Preis der Landschaft und Dessen, Der sie erschaffen hatte. Mit anderthalb Jahren bekam sie ein Brüderchen, das nach Großvater und Urgroßvater mütterlicherseits Hans Peter getauft wurde. Zwei Jahre später stellte sich ein weiterer Bruder ein. Der erhielt den Namen Frederik Trampe, nach dem Amtmann in Trondheim, den der Vater auf diese Weise ehren wollte. Die Halbschwester Tina wuchs bei ihrer Tante in Trondheim auf.
Im Dorf gab es viele Kinder, auf dem Nachbarhof wohnten vier Vettern und Kusinen, zu Hause jedoch war Augustas liebster Spielkamerad ein zahmer Wolf, den der Vater einem armen Knaben abgekauft hatte. Der war im Frühjahr mit vier Wolfsjungen, die er im Gebirge gefangen hatte, zum Gericht gekommen. Er hoffte auf eine Prämie. Die gab es zwar nicht, aber der Lensmann kaufte zwei kleine Wölfe, ein Männchen und ein Weibchen, Gerichtsreferendar Richter und Kapitän Knudsen nahmen die beiden anderen.
Der Wolf folgte Augusta überallhin, sie schliefen zusammen und redeten miteinander. Hektor hieß das Tier, und wenn der Lensmann ausritt, lief Hektor wie ein Hund hinterher. Die kleine Wölfin war gestorben, sie hatte die verdünnte Milch nicht vertragen. Das hatte der Vater Augusta erzählt, denn Hektor war älter als sie. Die Mutter wollte keinen Wolf im Haus haben und schlug immer wieder vor, ihn zu einem Pelz zu verarbeiten. Aber auf dem Ohr war der Vater taub.
Auch Hühner zu haben machte Spaß. Sie verstanden nicht so viele Wörter wie Hektor, aber sie redeten ja untereinander. Wenige im Dorf hatten Hühner, sie fanden es seltsam, sich solches Getier zuzulegen. Aber der Vater wollte Neues ausprobieren. Besucher bekamen Eier geschenkt, die Augusta suchen mußte. Sie kannte die Verstecke der Hühner.
Die Hühner liefen frei auf dem Hof umher und drängten sich um Augusta, wenn sie ihnen einen Leckerbissen mitbrachte. Und wenn das nicht der Fall war, begrüßten die Hühner sie trotzdem mit ihrem Gluck-Gluck. Dann scharrten sie im Boden, hin und her, hin und her, immer an derselben Stelle, und in dem so entstandenen Loch hielten sie dann Ausschau nach kleinem Viehzeug. Der Hahn hieß Napoleon.
Eines Tages saß Augusta auf der Scheunentreppe und fütterte die Hühner. Die Magd Guri hatte ihr Brotkrumen zugesteckt, als die Mutter auf den Dachboden gegangen war. Als sie den Hühnern die Krümel hinwarf, hörte sie ein Pferd. Der Vater kam auf dem Hengst Raugubben angeritten, Hektor lief hinterher, sie hatten im Årkelsee Forellen geangelt. Augusta sprang vor Freude auf, sie war immer glücklich, wenn der Vater auftauchte, nachdem er unendlich lange fortgewesen war. In diesem Moment schoß Hektor wie ein Pfeil in die Hühnerschar und schnappte sich Napoleon. Die Hühner jagten nach allen Seiten auseinander, es schneite Federn, der Boden war ganz weiß, der Vater stürzte herbei und brüllte Hektor wütend an: „Loslassen, loslassen!“
Hektor mit dem Hahn in der Schnauze sah ihn an und wollte wegrennen, aber der Vater packte ihn und entrang ihm das Tier. Napoleon war nicht mehr zu retten. Er schleppte sich mit gebrochenem Flügel davon und versteckte sich hinter einem Busch. Der Vater zog ihn hervor und ging mit ihm zum Hackklotz.
Augusta weinte, die Mutter und das Gesinde kamen aus dem Haus gelaufen, um die Ursache des Spektakels zu erfahren. Der Vater hob das Töchterchen hoch und drückte es an sich. Dann erzählte er, daß sie beim Årkelsee auf eine Herde Schafe gestoßen waren. Hektor war hinter den Schafen hergerannt. Als der Vater ihn rief, kam er brav zurück. „Aber sicher steckte ihm der Jagdeifer noch in den Knochen – und dann hat er den Hahn gesehen“, sagte der Vater.
Augusta beruhigte sich ein wenig, während ihr Vater das alles erzählte. Sie betrachtete die vielen Federn, die auf dem Hof lagen. Plötzlich merkte sie, daß die Hühner verschwunden waren. Alle machten sich auf die Suche, und damit waren sie für den Rest des Tages beschäftigt. Sie lockten und schmeichelten, und nach und nach entdeckten sie die Tiere in Ecken und Winkeln, draußen und drinnen, hinter Holzstapeln, unter Büschen, in hohlen Baumstämmen, jedes Huhn hatte der Öffnung den Schwanz zugekehrt und war zum Scharren bereit. „Und da redet man verächtlich von Hühnergehirnen“, meinte die Mutter. Die nächsten Tage legten sie keine Eier. Ihnen fehlte Napoleon. Aber als ein neuer Hahn auf den Hof geholt wurde, legten sie bald wieder. Und Hektor versuchte nie, Napoleon II. etwas zu tun. Augusta sagte ihm jeden Tag, daß er beim ersten Versuch zu Pelz gemacht werden würde. Sie war sicher, daß er das verstand.
Der Lensmannshof lag östlich des alten Königsweges und des Flusses Driva, Reisende sahen sofort, daß hier genug Platz zum Einkehren war. Das Wohnhaus war ein langer, mit Brettern verschalter Holzbau mit drei Schornsteinen, er schaute nach Westen, kehrte dem Dorf die Breit- und Süden und Norden die Längsseiten zu. Hinter der Südwand lugte eine der beiden Scheunen hervor, davor stand ein hohes, schmales Seitengebäude, das als Gästehaus und Altenteil diente. Dicht beim Zaun schließlich befand sich ein halbfertiges Gerichtshaus. Es sollte in einem anderen Stil errichtet werden als die anderen Gebäude, der sogenannte Empire-Stil hatte Norwegen erreicht, alle vier Wände sollten gleich lang sein, dreieckige, flache Dachpartien sollten zu einer kleinen Pyramide aufeinandertreffen. Im Süden lagen die Ställe, hinter dem Haupthaus nach Osten hin gab es Feuerstube, Sauna und einen kleinen Schuppen. Hier schienen die Schieferblöcke aus dem Boden zu wachsen, von hier wanderten sie zum Haus und wurden zu Treppenstufen und Dächern oder zu Bänken und Tischen am Südhang, wo man im Sommer sitzen konnte. Dort befanden sich eine Balancierstange, eine Wippe und ein Sandkasten mit Eimerchen. Zwischen dem Lensmannshof und dem von Even floß der Mjøabach, es gab eine Mauer und ein Birkenwäldchen.
Als Augusta ungefähr vier war, fuhren ein Breit- und ein Langschlitten mit einem Aufbau, der aussah wie ein kleines Haus, durch die Wälder von Oppdal auf den Mjøenhof zu. Es war kurz vor Ostern, die Schneebedingungen waren ideal. Der Pastor von Kvikne war zu seiner neuen Pfarrstelle im Romsdal unterwegs. Er wollte auf dem Lensmannshof Rast machen, denn dort hatte er Verwandte.
Augusta sah die Schlitten, lange bevor sie den Hof erreicht hatten. Jetzt bogen sie unten bei der Posthalterei vom Königsweg ab und fuhren zu ihnen herauf. Schwarze Mähnen tanzten über den Rücken der beiden Pferde. Der Pastor und seine Frau saßen vorn, sie konnte ihre Gesichter noch nicht erkennen. aber wo waren die Kinder? „Haben die ihre Kinder nicht mitgebracht, Mutter?“ fragte sie. Sie hatte gehört, daß drei Kinder kommen würden, und am Vorabend bis zum Einschlafen daran gedacht. Jetzt war sie schrecklich enttäuscht, obwohl sie dieses Wort noch gar nicht kannte. „Die sind bestimmt in dem Häuschen, damit sie nicht frieren“, antwortete die Mutter, die mit Frederik Trampe auf dem Arm neben ihr stand. Augusta trug ein neues Kleid, ihre Zöpfe waren frisch geflochten, der zweijährige Hans Peter lief ebenfalls in neuen Kleidern herum. Vorn auf der Treppe stand der Lensmann in Uniform mit blankgeputzten Messingknöpfen und hohen gelben Stiefeln.
Schließlich zogen die Pferde prustend die Schlitten auf den Hof, doch ehe irgendwer etwas sagen konnte, kam aus dem Aufbau auf dem Langschlitten ein Junge zum Vorschein, sprang in die Luft und landete vor den Füßen der Lensmannsfamilie. „Nein, nein, Junge!“ rief sein Vater und drehte sich auf dem Schlittensitz um. „Was habe ich dir beigebracht?“ Der Junge sah alle der Reihe nach an und streckte dann der Magd Guri seine Hand hin.
„Guten Tag. Ich heiße Bjørnstjerne Bjørnson“, sagte er und verbeugte sich so tief, daß sein Kopf den Schnee berührte. Augusta lachte. Sofort drehte er sich zu ihr um, wurde rot, blickte unsicher zu seinem Vater, dann ging er zu ihr, gab ihr die Hand und verbeugte sich noch einmal bis in den Schnee.
Jetzt lachten alle Erwachsenen. Augusta war erschrocken über dieses plötzliche Lachen. Was war denn so komisch? Sie musterte den Jungen mit ernster Miene. Aber der hatte sich schon wieder umgedreht. Seine Eltern, die beiden kleinen Schwestern Mathilde und Anine und das Kindermädchen stiegen vom Schlitten, alle tauschten Begrüßungen aus, beluden sich mit Gepäck, liefen im Haus ein und aus, vergaßen, worüber sie gelacht hatten, lachten über andere Dinge, das meiste davon verstand Augusta nicht, denn das meiste, was Erwachsene sagten, war nun mal unbegreiflich.
Während der ganzen Zeit mußte Augusta immer wieder die Haare des Jungen anstarren. Sie umstanden seinen Kopf wie Sonnenstrahlen – sie waren feuerrot. Sicher hieß er deshalb Bjørnstjerne, nach dem Sternbild Großer Bär. Sie hatte noch nie einen Menschen mit solcher Haarfarbe gesehen. Er schien zur Hälfte aus Haaren zu bestehen. Jetzt rannte er zwischen den Erwachsenen, die Koffer und Taschen ins Haus trugen, hin und her, und als er zum vierten Mal im Haus verschwand, beschloß Augusta, verschwunden zu sein, wenn er wieder herauskam. Sie jagte um die Hausecke, von wo aus ein Weg zum Vorratshaus freigeschaufelt war. Doch er kam gerade aus dem Haus und sah noch ihren Rockzipfel, ehe sie um die Ecke biegen konnte. Er lief hinter ihr her.
Pastor und Lensmann saßen inzwischen mit einem Glas Punsch im großen Zimmer, während die Damen und Mägde sich um die Schlafzimmer kümmerten. Die Pastorin brauchte Ruhe, sie war mit ihrem vierten Kind hochschwanger. „Ja, Kühe werden nicht die Landstraße entlanggeschleppt, wenn sie kalben sollen, aber für uns Frauenzimmer gelten offenbar andere Regeln“, sagte die Lensmannsfrau. Frau Bjørnson lachte und meinte, Helene solle sich keine Sorgen machen, der Junge würde nicht vor Ende des nächsten Monats auf die Welt kommen, ja, sie spüre, daß es diesmal ein Junge sein würde. Helene seufzte erleichtert. Das Wochenbett würde ihnen also erspart bleiben. „Wie schön für dich, daß du zu Hause niederkommen kannst“, sagte sie nur. „Ja. Weißt du, ich freue mich ja so! Ein Haus am Wasser! Kannst du dir das vorstellen? Ach, das Meer hat mir ja so gefehlt!“ Sie legte sich ins Bett und lobte die bestickte Bettdecke, das wunderschöne Blumendekor mit Girlanden an Türblättern und Gesimsen, den blauen Himmel über dem Bett und die Bilder an den Wänden. Ihr entging nichts. „Und seit dem letzten Mal bist du richtig fein und dick geworden“, rutschte ihr heraus.
Die Männer unterhielten sich derweil über die erbärmliche Kartoffelernte. Im vergangenen Sommer waren die Kartoffeln dreimal im Boden erfroren. Vielerorts herrschte Not. Es hatte viele strenge Winter hintereinander gegeben. In einem Jahr hatte es so heftig geschneit, daß der Schnee noch im Juni mannshoch gelegen hatte, erzählte der Lensmann. Die Bauernfamilien auf den Höfen waren zum Schneeräumen verpflichtet, aber in diesem Jahr hatten sie sich geweigert. Diese Pflicht gelte nur im Winter, behaupteten sie.
„Ja, das ist typisch für die Leute hier“, sagte der Pastor und erzählte, daß er in Kvikne einige anstrengende Jahre verbracht hatte. Eines Tages hatte er den stärksten Mann aus dem Dorf die Treppe hinunterwerfen müssen. Der Mann hatte behauptet, der Pastor sorge nicht dafür, daß die Gemeinde in der Furcht des Herrn lebe. Also mußte der Pastor ihm zeigen, wer der Stärkere war. Und der Dorfriese verlor kein Wort mehr über die Furcht des Herrn. „Das Pfarrbüro liegt nämlich im ersten Stock“, erklärte Bjørnson.
„Aber ich streite mich wirklich nicht gern“, fügte er hinzu und sah dem Lensmann munter in die Augen. „Das Leben ist doch selber schon ein Streit!“ „Ja“, antwortete der Lensmann mit weicher Stimme und schlug die Augen nieder. „Das Leben ist... Kampf und Streit.“
Der Lensmann verlor sich in Gedanken, und Bjørnson verbreitete sich über die Dampflokomotive. Wie er zu diesem Thema übergegangen war, blieb unklar. Er sprach von der gewaltigen Entwicklung in England. „Diese kleine Insel wird noch den ganzen Erdball unterwerfen. Man muß sie bewundern. Denen gelingt wirklich alles. Sie haben Napoleons Heer mit Uniformen versorgt. Stell dir das vor! Sie haben an den Kleidern ihrer Feinde verdient. Sie sind schlau. Und bald werden sie die halbe Welt mit Eisenbahnlinien versorgen.“
Der Lensmann nickte und paffte seine Meerschaumpfeife, während Bjørnsons Worte sich überschlugen. „Ja, in England können sie Eisenbahnlinien bauen, da gibt es ja nur Wiesen und kleine Hügel, aber es wäre bestimmt ein Kampf, eine Bahnlinie durch das Drivatal zu bauen. Ich werde das nicht mehr erleben“, sagte der Lensmann.
Als der Pastor das Wort „Kampf“ nicht aufgriff, sondern sich über die kommunale Selbstverwaltung äußerte, wußte der Lensmann, daß dies ein sprunghaftes Gespräch war, ohne roten Faden, und gastfreundlich sprang er zwischen den tausend Dinge, über die man reden konnte, mit umher.
Bjørnstjerne jagte hinter Augusta her zum Vorratshaus. „Warum rennst du denn so?“ rief er. „Warum rennst du so?“ gab sie zurück. „Du bist so dunkel!“ rief er. „Du bist so hell“, sagte sie. Und dann hatte er sie eingeholt und wollte sie fangen.
Er warf sich im Schnee über sie und packte ihre Ärmchen mit festem Griff, der ein bißchen wehtat. Sie versuchte, sich loszureißen. Er ließ ein wenig locker, aber nicht ganz. „Da, wo ich herkomme, gibt es Wölfe“, sagte er. „Hier auch“, sagte sie. „Wirklich? Wo? Zeig sie mir!“ – „Wir haben einen in der Küche“, sagte sie. Jetzt ließ er sie endlich los. Und schaute ihr in die Augen. „In der Küche? Ihr habt einen Wolf in der Küche?“ – „Ja“, sagte sie.
Der Junge stürzte zum Haus und in die Küche, aber die war leer, und er rannte ins Wohnzimmer weiter und schrie dabei: „Der Wolf! Der Wolf! Onkel Mjøen – hast du den Wolf gesehen?“ Doch ehe Mjøen antworten konnte, hatte der Pastor den Jungen am Ohr gepackt. Der Wicht stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Druck zu erleichtern. „Was soll der Unfug? Willst du den Leuten Angst einjagen?“ Augusta, die hinterhergerannt war, starrte ihn und den Jungen an. Faßte sich ans Ohr, als ob es dem Jungen dann weniger wehtäte. Der Vater ließ ihn los. Sofort machte Bjørnstjerne sich wieder über den Lensmann her.
„Stimmt das? Hast du einen Wolf? Wo steckt der?“
„Doch, doch“, war die Antwort. „Sicher habe ich einen Wolf. Kommt, dann zeige ich ihn euch.“ Peder Bjørnson machte große Augen. „Hast du wirklich einen Wolf?“
Alle gingen in den Schuppen, wo Hektor ein Nickerchen machte, und sahen ihn sich an. Er sprang auf und kam schwanzwedelnd auf den Hausvater zu. Der Lensmann streichelte ihn, und Hektor fiepte, leckte ihm die Hand und sprang an ihm hoch.
Als alle nach dem Essen im großen Zimmer saßen, erzählte der Lensmann, wie er an den Wolf gekommen war und wie brav der sich immer verhalten hatte – abgesehen von dem Mal, als er sich den Hahn geschnappt hatte. „Wölfe sind freundliche Tiere“, sagte er. „Ganz anders, als man meinen möchte, wenn man sie im Wald heulen hört. Hektor liebt uns fast noch mehr, als wir uns selber lieben, denn wir sind sein Rudel, und niemand darf uns etwas tun.“ Alle murmelten verwundert und anerkennend vor sich hin. „Wartet nur“, sagte seine Frau. „Der liebt uns so sehr, daß er uns noch alle auffrißt.“ – „Das kann nicht sein“, erwiderte ihr Mann. „Aber der Hahn ist zu Suppe geworden, den haben wir gegessen.“ Da hörten sie ein Schluchzen. Augusta hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte. „Sie ist immer so traurig, wenn wir erwähnen, daß Napoleon zu Suppe geworden ist“, erklärte der Lensmann. Bjørnstjerne lief zu Augusta, nahm ihre Hände und sagte: „Nicht weinen, Kindchen.“
Wieder lachten die Erwachsenen.
Am nächsten Morgen, noch ehe die anderen aufgestanden waren, liefen die beiden ins halbfertige Gerichtshaus. Sie sprangen von Balken zu Balken, und wieder wollte er sie fangen. Ihr war noch nie ein so ruheloser Junge begegnet. Er redete die ganze Zeit, während er herumtobte. Im neuen Dorf würde er eine neue Hose und einen Hut und einen Mantel bekommen. Sie kannte ein Versteck, von dem er nichts ahnte, und schwupp, war sie verschwunden. Er fand sie in einem Hohlraum zwischen Brettern, kroch zu ihr hinein und lachte. „Mir ist noch nie eine wie du begegnet“, sagte er. Sie sah ihn an. Sie war doch nichts Besonderes? „Aber mir ist überhaupt noch nie ein Mädchen begegnet, da, wo ich herkomme, gab es keine“, fügte er hinzu. „Und auch keine Jungen. Da gab’s nur mich.“ – „Wie heißt du eigentlich richtig?“ – „Das habe ich doch gestern schon gesagt!“ – „Nein, du hast nur Bjørnstjerne gesagt.“ – „Ich heiße Bjørnstjerne“, erklärte er. „Ich bin am 8. Dezember unter dem Sternbild Großer Bär geboren. Aber ich heiße auch noch Martinius.“ – „Ach so“, sagte sie beruhigt. „Ich heiße Ingeborg Augusta. Nach meiner Großmutter auf Waslæggen und einer Prinzessin in einem Land, das Preußen heißt.“ – „Es gibt kein Land, das Preußen heißt“, sagte er. „Doch.“ – „Nein.“ – „Doch.“ – „Naja, vielleicht.“ – „Warum hast du einen Strich auf der Stirn?“ – „Das heißt nicht Strich, das heißt Narbe“, erklärte er stolz. Und dann erzählte er eine lange Geschichte von dem Pferd, das ihn mit dem Huf an der Stirn getroffen hatte, und er hatte so geblutet, daß er am Ende überall rot gewesen war. „Hast du deshalb rote Haare?“ fragte Augusta. Nein, die hatte er immer schon gehabt, meinte er, aber ein bißchen röter waren sie wohl doch geworden.
Gleich darauf hingen beide an einem Balken.
„Ich habe solche Angst vorm Sterben“, sagte er.
Augusta blickte ihn erschrocken an. Sie fühlte sich ganz seltsam und leer. Wie er so mit dem Kopf nach unten neben ihr hing, den Mund verkehrt herum, sah er plötzlich sehr krank aus. Der ganze helle Junge schien erloschen zu sein. „Mußt du sterben?“ fragte sie. „Ja“, sagte er. „Du nicht?“
Der Lensmann stand auf der Treppe und schaute über die verschneiten Felder. Es war am Palmsonntag, ganz früh morgens, er hatte sich auf diesen Besuch gefreut. Reisende aufzunehmen war eine der lichteren Seiten seines Berufs. Und dieses Ehepaar interessierte ihn, das – trotz ihrer heftigen Charaktere – eine so gute Ehe zu führen schien. Oder stritten sie sich im Verborgenen? Mit seiner Frau ließ sich kein Streit verbergen. Er hätte gern unter vier Augen mit Bjørnson darüber gesprochen. Aber man redete nicht über solche Dinge. Er wußte von Helene, daß Bjørnson verlobt gewesen war. Christiane Luise Ambrosia Wessel hatte sie geheißen. Das klang wie ein Gedicht. Sie war kurz nach der Verlobung gestorben. Er hätte den Pastor gern gefragt, was das für ein Gefühl war – eine tote Frau im Herzen zu tragen, wenn man mit einer anderen verheiratet war. War das schon Ehebruch?
Jon Mjøen schaute auf die Felder von Mjøagrenda und die nackten schwarzen Zweige des Birkenwäldchens am Bach und dachte an die vergangenen Jahre. Er dachte an Helene und warum er ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sollte er denn immer nur Trauer erleben, hatte er sich gefragt. Dann wollte er lieber zum Herrn eingehen. Aber es gab doch soviel Schönes zu sehen, und er hatte noch soviel zu tun. Er brauchte eine, die zäh und stark war. Eine, die hundert Jahre alt werden konnte. Das schreckliche Unglück auf Østråt hatte ihn auf seltsame Weise beeindruckt. So etwas passierte nicht, wenn Gott damit kein besonderes Ziel verband. Eine Frau, die rund um die Uhr die Todesschreie einer anderen anhören konnte – sie hatte Gott ihm zeigen wollen. Und deshalb hatte er ihr seinen Antrag gemacht.
Er kannte sie damals noch nicht gut, hatte sich aber immer über ihren Witz gefreut. Daß sie von scharfem Verstand war, machte das Leben weniger eintönig. Aber diesen scharfen Verstand benutzte sie auch, wenn sie sich stritten, und das war nicht so angenehm. Und sie stritten sich immer wieder, denn sie war ein schrecklich geiziges Frauenzimmer. Zuerst hatte ihm das gefallen, es war gut und christlich, sparsam zu sein. Aber als sie dem alten Kongsvold einen Viertelliter dünnes Bier und eine ranzige Speckschwarte vorgesetzt hatte, hatte er sie gescholten. „Wir können nicht alle durchfüttern, die du anschleppst“, sagte sie. „Jedenfalls nicht, wenn du selber so gierig zulangen willst“, antwortete er.
Das waren böse Worte. Und er hatte gedacht: Das darf nicht sein. Wir streiten uns. Es war wie ein Sündenfall. Dieser erste Ehekrach tat weh. Und er trug den Keim zu allen zukünftigen Streitigkeiten in sich. Das wußte er jetzt.
Das Seltsame war, daß sie nie mehr auf eine solche Weise zueinander gefunden hatten wie nach diesem Streit. Bei dieser Begegnung in der Dunkelheit wurde alles wieder gut. Hier knauserte sie an nichts und war wunderbar in ihrer Fleischeslust. Er murmelte eine Entschuldigung für seine bösen Worte. Sagte, es sei nicht so gemeint gewesen. Aber das stimmte nicht so ganz.
Nein, aus reinem Herzen würde er sie niemals lieben können. Vor ihrer Hochzeit hatten sie beschlossen, die kleine Jentine in Trondheim aufwachsen zu lassen, und er hatte es eigentlich begreiflich gefunden, daß Helene die Frucht seiner ersten Liebe nicht im Haus haben wollte. Aber im Grunde konnte er ihr diese Entscheidung nicht verzeihen.
Während er sich das alles überlegte, hörte er plötzlich, daß jemand im Gerichtshaus war. Eine entsetzliche Angst nahm ihm den Atem. Augusta! Er jagte über den Hof, und grauenhafte Vorstellungen durchfuhren ihn wie Blitze.
Dann stand er im Gerichtshaus und spürte nur noch gewaltige Erleichterung. Da hingen Augusta und Bjørnstjerne an ihren Balken und lachten. Wütend hob er seine Tochter hoch und schüttelte sie. „Habe ich dir nicht verboten, hier zu spielen?“ Bjørnstjerne sprang erschrocken auf den Boden und versuchte, sich zu verstecken. Jon Mjøen packte ihn. Doch dann sah er die Augen des Jungen und ließ los.
„Ich werde dich nicht schlagen“, sagte er. Seine Wut war schon wieder verraucht. Er erklärte den Kindern ruhig, wie gefährlich ihr Treiben gewesen war und daß sie für den Rest des Lebens Schaden hätten davontragen können. Sie gingen auf den Hof und warteten in der Aprilsonne. „Ist es scheußlich, Lensmann zu sein?“ fragte der Junge. „Nein, wie kommst du auf die Idee?“ – „Mußt du nicht die ganze Zeit böse sein, damit die Leute tun, was du willst?“ – „Ach, meistens tun sie das ohnehin“, antwortete Mjøen. „Und dann hast du ja noch den Pastor, der kann sie von der Kanzel ausschimpfen.“
Der Lensmann blickte verdutzt zu dem Jungen hinunter. Das ist ja vielleicht ein witziger kleiner Bursche, dachte er.
Nach der Kirche wurde der Tisch reich gedeckt – mit Bier und Wein und saftigem Hammelbraten. Nach dem Essen durften die Kinder in der Küche spielen, während die Erwachsenen in der Stube sitzen blieben und sich über die Familie unterhielten. Peder Bjørnson war der Bruder von Helenes Mutter. Er war der einzige Junge in der sechsköpfigen Geschwisterschar und der Jüngste. Sie gingen weit in der Zeit zurück, und Peder Bjørnson führte das große Wort.
Sie stammten vom Gut Schee am Randsfjord und konnten neun Generationen zurückrechnen, bis zum Stammvater Tarald auf Skei, der 1528 als Eigentümer genannt worden war. Sein Enkel, Erland Nilssohn, war 1620 erschlagen worden. Er hatte keine Kinder gehabt. Sein Bruder Knut übernahm das Gut. Der Mord wurde niemals aufgeklärt. Aber eines Nachts suchte Erland seinen Bruder Knut heim und wuchs aus den Bodenbrettern heraus. „Du hast meinen Hof gestohlen, du hast meinen Hof gestohlen. Knut! Knuu-huu-huut! Wo ist mein Hof?“ heulte Peder Bjørnson. „Seither hat er sicher keine friedliche Nacht mehr erlebt, mein Ururururgroßvater. Dein Urururururgroßvater“, sagte er zu Helene.
„Knut hatte im Dorf so große Macht, daß niemand zu behaupten wagte, er habe seinen Bruder umgebracht“, sagte Bjørnson. „Die Leiche hat er im Randsfjord versenkt, da liegt sie noch immer. Der Neid ist die größte Schwäche der Menschen. Und das älteste Thema der biblischen Geschichte.“
Nach Knut war der Hof immer wieder vom Vater auf den Sohn übergegangen. Peders Groß- und Helenes Urgroßvater, Peter Bjørnson Lomsdalen, war so groß und stark gewesen, daß er Bäume mit der Wurzel aus dem Boden reißen konnte. Die Groß- und Urgroßmutter, Mari Øystad, kam aus der Familie Bratten, die von Harald Schönhaar und Snefrid abstammten – einer von Haralds vielen Nebenfrauen neben Königin Gyda. „Ja, der war ein Hurenbock von Rang und Namen, Norwegens erster König“, warf Helene dazwischen. „Aber er kam ja aus der Ynglingesippe, die von den Göttern herstammte.“ – „Ja“, sagte ihr Onkel zufrieden. „Aber vielleicht findest du als Pastor es gar nicht so nett, von heidnischen Göttern abzustammen?“ fragte sie, in einer unklaren Mischung aus Spott und Scherz. „Wir stammen doch alle von Gott ab, auch wenn unser Glaube sich ändert“, antwortete Peder in einem Tonfall, als stehe er auf der Kanzel. „Ach, es gibt genug, die nicht von Gott herstammen, weder mütternoch väterlicherseits“, erwiderte sie.
So ging es weiter. Peder Bjørnson führte sie durch die Zeiten, und Helene begleitete seinen Bericht mit ihren kleinen Sticheleien. Der Lensmann und Frau Bjørnson steuerten interessierte Fragen bei, obwohl sie alles längst wußten. Ingeborg Augusta und Bjørnstjerne Martinius waren hereingekommen und durften unter der Bedingung zuhören, daß sie kein Wort sagten. Sie saßen kerzengerade da.
Aber nun näherte der Bericht sich den Anwesenden. In alten Zeiten können die Vorfahren gern gestohlen und gemordet, gehurt und betrogen haben, ohne daß die Nachkommen das zu verhehlen versuchen – nein, je mehr Geschichten dieser Art, um so besser –, aber je näher wir der eigenen Zeit rücken, um so braver werden die Leute. Jetzt waren sie bei dem berüchtigten Bjørn Schee angekommen – Peders Vater und Helenes Großvater.
Aber Peder Bjørnson verhielt sich eben nicht wie alle anderen. „Die Wahrheit muß ans Licht“, sagte er. Immer bei der Wahrheit bleiben. Und zum Schluß erzählte er, wie das großartige Gut Schee, das zwölf Pachtstellen unter sich gehabt und zweiundsechzig Menschen – achtzehn auf dem Gut und vierundvierzig in den Katen – ernährt hatte, als Peder und seine Schwester dort aufgewachsen waren, wie dieses Gut, mit der wunderbaren Aussicht über den Randsfjord, von seinem Vater heruntergewirtschaftet worden war, denn der hatte getrunken und gefeiert und sich herumgetrieben, immer hatte er Streit vom Zaun gebrochen, und als das gute Leben ihm im Jahr 1818 dann endlich den Hals brach, war der Hof bis unter den Giebel verschuldet. Er hatte seine Lüste nicht im Zaum gehalten und war in der Hölle gelandet, und da saß er sicher heute noch.
Bjørnson verstummte. Er hatte alles so lebendig geschildert. Ein Märchen, in dem am Ende alles schiefging. „Es hört sich bei dir an, als ob du einen Ruinenhaufen übernommen hättest“, sagte Helene.
„Wie meinst du das?“ fragte Peder.
„Wie ich das meine? Ich meine, daß du den Hof geerbt und Mutter und deine anderen Schwestern mit viertausend Speziestalern ausgezahlt hast. Dann hast du den Hof für viertausendfünfhundert verkauft. Das war ein guter Verdienst für ein einziges Jahr, Peder. Mehr als dein Pastorengehalt in Nesset. Das meine ich“, sagte Helene.
„Das war mein Recht!“ rief Peder. Er war aufgesprungen.
„Wenn du den Hof übernommen hättest, ja. Aber du bist für das Geld zum Studium nach Kristiania gegangen, während Mutter und meine Schwestern und ich von Tante Mikkelsens Gnade leben mußten.“
„Ich habe dir doch reichlich abgegeben, soviel ich weiß, Helene. Dir und deiner Mutter. Und du siehst durchaus wohlgenährt aus.“ Bjørnson beugte sich über den Tisch zu seiner Nichte, sein Gesicht war rot angelaufen, er ballte die Fäuste.
„Ja, aber das ist wahrlich nicht dein Verdienst!“
„Habe ich vielleicht nicht...“
„Aa!“ Elise Bjørnson stieß ein lautes Stöhnen aus. Alle schauten zu ihr hinüber. Sie rutschte auf dem Sofa hin und her, faßte sich an den Bauch. Helene beugte sich über sie. „Ich glaube, das waren die ersten Wehen“, sagte Elise.
Jetzt hatten es alle sehr eilig, rannten hin und her, halfen Frau Bjørnson ins Bett, ihre Unterhaltung löste sich ganz einfach auf. Die Kinder wurden hinausgeschickt, und Mjøen und Bjørnson gingen in den Stall.
Die Kinder krabbelten durch den trockenen Schnee in der Geröllhalde. Bjørnstjerne hatte rote Augen. „Weinst du?“ fragte Augusta. „Nein“, sagte er. „Doch, du weinst. Das sehe ich“, sagte sie. „Mein Vater war so wütend!“ sagte er. „Ja, aber meine Mutter auch“, sagte sie.
Augusta erklärte, daß sie im Sommer ihr ganzes Spielzeug herschaffen würden. Ihr Vater hatte kleine Schüsseln und Näpfe aus Holz geschnitzt, darin wollten sie ihr Essen aufbewahren. Und sie bekamen wirklich gut zu essen, sonntags jedenfalls, süße Fladen und Honigkuchen und frischgeseihte Milch, und sie würden die Erwachsenen zum Essen einladen und singen „Des Nordens Berge mit den blauen Gletschern, der Urzeit dunkle Minne“. Und dann müßte er sie wieder besuchen. „Das Lied können wir doch auch jetzt singen?“ meinte Bjørnstjerne.
Und nun setzten sie sich alle hin, die vier Evenkinder, die drei Bjørnsonkinder und Hansemann und Augusta – insgesamt neun Kinder im Alter zwischen zwei und dreizehn Jahren, und ihr Lied konnten alle Kinder auswendig, denn der Lensmann glaubte, es werde einmal „Norwegen, Vaterland der Reisen“ als Nationalhymne ablösen. Er fand es viel würdevoller, sowohl den Text als auch die Melodie. Jetzt erklang es in seiner himmelstrebenden Hochstimmung, gesungen von einem gemischten Kinderchor im Aprilschnee.
Des Nordens Berge mit den blauen Gletschern,
der Urzeit dunkle Minne,
über der Wolken hohem Dach ragt deine hohe Zinne,
in deiner reinen Ätherluft funkelt der Zeiten Blick,
an deinem Fuß im Blumenduft erwächst dir neues Glück.
Sie sangen die fünf Strophen in tiefem Ernst, und obwohl sie nur wenig vom Text verstanden, wußten sie immerhin, daß das Land grün war, die Zinne hoch, und daß sie eines Tages für ihr Land kämpfen und vielleicht sterben müßten. Und dann würde das Blut aus ihnen herausströmen.
Als der Lensmann abends mit seiner Frau im Bett lag, sagte er: „Ab und zu solltest du deine Zunge hüten.“ – „Ich brauche keinen Zungenhüter“, erwiderte sie, und sie habe wirklich keine Lust, zuzuhören, wie die Söhne des Landes sich rosenrote Geschichten aus den Fingern saugten. Und er als Mann und noch dazu als Lensmann sollte sich endlich für eine Änderung des Gesetzes engagieren, das Töchtern nur einen halben Erbteil zubilligte.
„Schon möglich, aber das Gesetz gilt seit den Zeiten Magnus Lagabøters“, sagte Jon. „Ja, der hat sich vermutlich auch auf Kosten seiner Schwestern bereichert“, meinte sie. „Aber du hättest seinen Zorn nicht so anstacheln dürfen.“ – „Wessen Zorn? Den von Magnus Lagabøter?“ Jon mußte lachen. „Nein, den von Bjørnson natürlich.“ – „Ich wüßte ja gern, wie man sich verhalten soll, um seinen Zorn nicht anzustacheln“, sagte sie. „‚Die Wahrheit!‘ sagt er. Aber die will er doch selber gar nicht hören!“ Wieder mußte Jon in die Dunkelheit hineinlächeln. „Nein, wer will das schon?“ seufzte er und streckte die Hand nach ihr aus. Er war müde, und sie war behaglich und warm. Und jetzt wollte er sie, trotz ihrer scharfen Zunge. Oder vielleicht wegen ihrer scharfen Zunge. „Aber den Hof hat er verkauft, weil er sich in eine verliebt hatte, die nur einen Pastor heiraten wollte, und danach hat sie ihn verlassen.“ – „Sie hat ihn verlassen? Ich dachte, sie sei gestorben!“ – „Nein, das war eine andere. Er hat sich doch bei jedem Vollmond verlobt.“ – „Jetzt übertreibst du aber ein bißchen.“ – „Ich übertreibe? Dann frag ihn doch selber!“
Damit endete das Gespräch und ging über in ein wortloses körperliches Beisammensein, in dem keine Mißstimmung zu spüren war.
Frau Bjørnsons Wehen legten sich bald wieder. Deshalb konnten sie unbesorgt ihre Reise nach Nesset wie geplant fortsetzen. Niemand kam noch einmal auf das am Palmsonntag geführte Gespräch zurück, und als die Pastorenfamilie sich am Kardienstag auf den Weg machte, waren alle in bester Laune.
„Das war der Pastor!“ sagte der Schmied unten im Laden, wo er mit einigen anderen Dorfbewohnern stand, obwohl der Laden in der Karwoche geschlossen war. Aber hier, mitten im Ort und an der Wegkreuzung, hatten sie sich immer getroffen, auch ehe es den Laden gegeben hatte, um Neuigkeiten auszutauschen. „Die war ja schon ganz schön weit gediehen, die Pastorin – gut, daß es bergab geht“, sagten sie und grinsten. Aber der Schmied sagte, vorn neben dem Pastor habe nicht die Pastorin gesessen, sondern die Magd.
Darüber mußten sie erst einmal nachdenken. Aber schön rund war sie wirklich, die Magd, das hatten sie gesehen, als sie mit dem Pastor und dem ältesten Sohn im Langschlitten gesessen hatte. „Ja, die kriegen eben immer ihren Willen, die großen Herren“, erklärte der Schmied. Er trank einen kleinen Schluck aus einem Krug, den er mitgebracht hatte, und ließ den Schnaps weiterwandern.