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6. Kapitel

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Bjørnstjerne besuchte seit einigen Jahren die Schule in Molde. Im Dorf waren böse Gerüchte über seinen Vater in Umlauf, sie gelangten auch in die Stadt, und der Junge mußte sich dagegen wehren, ohne zu wissen, was die Wahrheit war. Sein Vater hatte Streit mit einem Kapitän in Nesset. Die Sache sollte vor Gericht ausgetragen werden, und es hieß, der Vater verbreite Lügen über den Kapitän. Bjørnstjerne glaubte das nicht und mußte sich deshalb mehrmals prügeln.

Auch daß er Bauernsohn sei, wurde ihm vorgehalten. Und er erfuhr, daß die Städter glaubten, alle, die vom Lande kamen, verachten zu dürfen. Die Stadt selber sah so hübsch aus, mit ihren engstehenden kleinen Häusern, man konnte sich von einem Fenster zum anderen unterhalten. Aber das alles war nicht für ihn bestimmt. Bauernjungen waren hier nicht willkommen. Wenn ihnen Stadtbürger auf der Straße begegneten, mußten sie die Mütze abnehmen.

So war es in Molde, und er hatte Heimweh. Aber er mußte in Molde bleiben – und eine langweilige Schule besuchen, wo nie etwas passierte. Er sehnte sich von dieser endlosen Bergkette weg, die jeden Tag dastand wie am Tag zuvor, weg vom Gerede der Leute, weg von... allem. Aber das hatte nicht er zu entscheiden. Er war erst zwölf, und die einzige Fluchtmöglichkeit boten ihm die Bücher. Abenteuerbücher aus fernen Ländern. Kapitän Marryats Erzählungen über die Kinder, die sich vor Oliver Cromwells Mannen, die ihren König enthauptet hatten, im Wald verstecken mußten. Über Napoleon. Über die große französische Revolution, die alles verändert hatte. Nichts mußte bleiben, wie es war.

Als er etwas älter war, überredete er die anderen Jungen zu einem Grußstreik. Sie wollten nicht mehr die Mütze ziehen. Das erschien ihnen als der erste Schritt auf dem Weg in eine bessere Welt. Vor verheirateten Frauen wollten sie weiterhin die Mütze abnehmen, nicht aber vor jungen Mädchen. Sie wurden zur Ordnung gerufen, machten aber weiter. Sie wußten, daß unten in Europa der Aufruhr bereits losgebrochen war. Und eines Tages lief ein Franzose durch die Straßen von Molde und rief: „Vive la république!“ Bald wußte die ganze Stadt, daß die Franzosen ihren König Louis Philippe abgesetzt und die Republik ausgerufen hatten. Die Revolution griff auf andere Länder über. Bjørnstjerne und ein Freund, Erik Lindseth, schrieben für die Zeitung einen Artikel, „Rede der Freiheit an die Moldenser“, darin forderten sie im Namen der Freiheitsgöttin die Stadtbevölkerung auf, am Nationalfeiertag einen Umzug zu veranstalten und für das Vaterland zu sterben. Schließlich war es der Tag, an dem Norwegen seine Verfassung erhalten hatte. Aber das schien niemandem bewußt zu sein.

Der flammende Artikel wurde gedruckt. Nichts passierte. Es gab nicht einmal einen schlaffen Leserbrief. Die Moldenser sahen aus dem Fenster, gossen ihre Rosen, plauderten miteinander und ignorierten die Bauernjungen, ob die nun ihre Mützen aufbehielten oder nicht. Im Jahr darauf wurde die Revolution in Europa niedergeschlagen, das freie Wort verboten, Studenten wurden eingekerkert oder erschossen.

Eines Tages hörte er, daß Lensmann Mjøen und seine älteste Tochter in der Stadt erwartet wurden. Augusta sollte die Schule auf dem Hof der Witwe Lindeman in Daviken besuchen. Sofort traf er seine Vorbereitungen. Er erkundigte sich, welche Schulbücher dort benutzt wurden und was eine junge Dame schicklicherweise lernen sollte. Er wußte, daß die beiden Töchter von Konsul Olsen aus der Stadt, Marie und Elise, einige Zeit auf dieser Schule verbracht hatten. Er suchte den Konsul auf, nahm artig die Mütze ab, als die jungen Damen sich zeigten, und brachte sein Begehr vor. Als Lensmann Mjøen und die bald fünfzehnjährige Augusta am Fjordarm entlangkutschierten, war er bereit.

Sie erkannte ihn nicht sofort. Er war viel größer und ein wenig dünner als bei ihrer letzten Begegnung. Aber als er sie anrief und sie begrüßen wollte, wußte sie, wer da vor ihr stand. Und ihr Vater erklärte mit lauter Stimme: „Nein, du siehst deinem Vater ja vielleicht ähnlich!“

Viel Zeit hatten sie nicht. Das Dampfschiff „Constitutionen“ lag schon bereit. Augusta sah sich staunend um. Es wimmelte von Menschen mit Säcken, Truhen, großen Körben und Koffern. So viele Fremde – und das bei heißem Sonnenschein -, sie hatte das Gefühl, selber gar nicht anwesend zu sein. Und sie fürchtete sich.

Bjørnstjerne redete eifrig mit dem Vater über Frankreich. Der Schriftsteller Lamartine müßte Frankreichs neuer Präsident werden. Er schrieb wunderbare Bücher über die große französische Revolution. Ob Onkel Mjøen die gelesen habe? Die Jungen hatten in der Schule eine Präsidentenwahl veranstaltet, doch dabei hatte Lamartine verloren. Die anderen zogen Napoleons Neffen Napoleon vor. „Aber dann gibt es doch das gleiche Spektakel noch einmal! Und Napoleon der Jüngere hat nicht das Format des großen Korsen, oder was meinst du, Onkel Mjøen?“ fragte Bjørnstjerne. „Ich weiß nicht, ich kenne ihn nicht“, antwortete der Vater. „Nein, ich auch nicht, aber er ist ein Schafskopf“, lachte Bjørnstjerne. Sein Blick streifte Augusta. Er erzählte von seinem Artikel. Von dem hatten sie auch in Oppdal gehört. „Ja, wie hieß der denn noch gleich? Die Stimme der Revolution bei der Bevölkerung von Molde? Hast du da nicht ein bißchen übertrieben?“ – „Nein, nein, nein. Wenn ihr doch nur ein bißchen länger hierbleiben könntet...“ Wieder sah er zu Augusta hinüber, um sie ins Gespräch einzubeziehen. „Dann würde ich ihn euch vorlesen. Er ist gut. Er ist wirklich gut.“ Er lachte kurz, wie um anzudeuten, es sei dumm, sich selber so zu loben, und andererseits doch nicht nur dumm. Augusta mußte lachen. „Lachst du über mich?“ fragte er. „Nein, gar nicht.“ – „Du bleibst ein Jahr lang weg?“ – „Mm.“ Sie schluckte. „Sei nicht traurig, es wird dir sicher gefallen.“ – „Wie lange bist du schon hier?“ fragte sie, um das Gespräch von sich abzulenken. „Im Sommer waren es fünf Jahre. Aber bald ist Schluß. Und dann werde ich wohl in die Hauptstadt gehen.“

Die Zeit verstrich bei dieser Plauderei sehr schnell, und als ihnen aufging, wie spät es war, mußten sie zum Anleger rennen. Im Gewühl verloren sie sich aus den Augen. Bald darauf saß Augusta auf dem Schiffsdeck und war von fremden Menschen umringt. Ihr kamen die Tränen. Sie war zum ersten Mal ganz allein auf der Welt und kam sich sehr verloren vor. Dann stand plötzlich ihr Vater vor ihr. Er bahnte sich einen Weg durch das Gewimmel am Anleger und erzwang sich den Zugang zum Schiff. In der Hand trug er eine große Tüte mit Gebäck. „Die mußte ich einfach noch schnell kaufen“, sagte er und reichte sie ihr. „Ach, Vater!“ rief sie und schlang ihm die Arme um den Hals. Und dann mußte er wieder von Bord, weil die Schiffssirene ertönte.

Jetzt verlor sie ihn nicht mehr aus den Augen. Er stand ganz vorn und schwenkte ein großes Taschentuch und warf ihr mit beiden Händen Kußhände zu. Bjørnstjerne stand neben ihm, er nahm seine Mütze ab, winkte, verbeugte sich und winkte wieder. Unter Tränen mußte sie lachen. Um den Bug schäumte das Wasser auf. Der Streifen Wasser zwischen Boot und Land wurde immer breiter. Die Schaufelräder warfen weiße Gischt hoch. Sie war noch nie auf einem Schiff gewesen. Das war viel erbarmungsloser als Wagen, die sich langsam auf der Straße entfernten. Zwischen ihr und den Menschen im Hafen klaffte plötzlich eine beängstigende Tiefe. Sie blickte zurück und winkte, während ihr die Tränen über die Wangen liefern. Bald konnte sie die beiden nicht mehr von den anderen unterscheiden. Sie war allein.

Die Gegend am Ufer war schön. Eine schönere Landschaft hatte sie noch nie gesehen. Berggipfel in Reih und Glied, die aus dem Wasser aufzuragen schienen. Sie waren so anders als die Berge daheim. So hell. Alles war hell. Endlich befand sie sich mitten in der hellblauen Welt, die sie in Waslæggen vom Schoß ihrer Großmutter aus gesehen hatte.

Der Hof Frimannslund in Daviken lag zwischen Linden an einem langgestreckten, zum Wasser abfallenden Hang, dahinter ragten gewaltige Berge auf. Ein Obstgarten umgab das Hauptgebäude, an der Böschung zum Fjord gab es Obststräucher, in Terrassen angelegte Blumenbeete, Pavillons mit Sitzbänken. Vor einigen Jahren hatte die Witwe des Pastors Jakob Andreas Lindeman das Anwesen gekauft und ihr Pensionat für vierundzwanzig junge Mädchen eingerichtet.

Augusta verließ das Schiff bei Moldøen, wo eine der Lehrerinnen des Pensionats sie erwartete. Sie übernachteten bei Witwe Ravn auf Sæternes, beide Damen waren sehr nett zu ihr, sie durfte im Garten Beeren essen und weinte ansonsten die ganze Zeit. Die Damen gaben ihr Papier, Feder und Tinte, damit sie nach Hause schreiben konnte. Sie schrieb an ihren Vater und erzählte ihm, wie entsetzlich alles sei und wie sehr sie sich nach Oppdal zurücksehne.

Am nächsten Tag ruderten sie vier Stunden lang über den Fjord, bis sie schließlich an einem Anleger abgesetzt wurden und zum Hof Frimannslund hinaufblicken konnten.

Das Gut war bei ihrem Eintreffen wie verwaist. Aber nach und nach füllte sich das Haus mit Mädchen aus allen Ecken des Landes. Die Mädchen brachten Hüte und Seidenbänder, Koffer und feine Kleider mit weiten Ärmeln und Spitzen mit, sie begrüßten einander lauthals auf Französisch, tauschten Umarmungen und lachten, und unter gewaltigem Lärm wurden die Plätze im Schlafsaal verteilt. Viele besuchten das Pensionat seit mehreren Jahren und kannten einander gut, alle mußten erzählen, was sie in den Ferien erlebt hatten, und fanden hoffentlich zumindest eine halbe Zuhörerin, sie hoben gegenseitig die Röcke hoch, lobten die Stoffqualität, klatschten in die Hände und sagten: „Nein, wie reizend!“ Ich komme wirklich aus einem Gebirgskaff, dachte Augusta. Zu Hause war zumeist sie diejenige mit den schönsten Kleidern, und nie kam es vor, daß niemand darauf achtete, daß sie zugegen war. Abends schrieb sie nach Hause und hielt sich für den unglücklichsten Menschen auf der Welt.

Aber schon bald lernte sie die weltgewandten jungen Damen kennen. Und die stellten fest, daß Augusta einiges bereits konnte, was sie noch lernen sollten, und sie reichten ihr unter den Tischen ihre Tafeln, um sich von ihr die Dreisatzaufgaben lösen zu lassen. Wenn drei Tonnen Getreide einen Schilling und drei Ort kosteten, was kosteten dann fünf? Augusta rechnete bereitwillig alles aus und ließ die Tafeln zurückgehen. In Französisch dagegen brillierten die anderen, und Augusta mußte mit leeren Händen anfangen. Eines Tages zeigte in Lehrer Danielsens Erdkundestunde Marie Olsen aus Molde auf und sagte: „Augusta Mjøen kann Frankreich zeichnen.“

Und nun mußte sie an die Tafel. Sie zeichnete das Land so, wie sie es von Iver Bjerkager gelernt hatte, mit Flüssen und Bergen und dem runden Golf von Biskaya. Alle schauten gespannt zu. Als sie fertig war, sagte Danielsen: „Du meine Güte! Kannst du auch noch andere Länder? Italien vielleicht?“ Seine Begeisterung ließ ihre Leistung noch größer erscheinen. Augusta zeichnete den langen, schrägen Stiefel mit dem Apennin in der Mitte, dem Po, dem Tiber und dem Arno, einem Punkt für Rom, Sizilien ganz unten, und sicherheitshalber zeichnete sie auch noch Korsika und Sardinien ein. Alle staunten. „Phantastisch! Das sieht ja ganz echt aus!“ rief Anna Uthus aus Bergen. „Weißt du, wer dort geboren ist?“ fragte Danielsen und tippte mit dem Zeigestock auf Korsika. „Da sind viele geboren, aber Sie meinen sicher Napoleon“, sagte Augusta ernsthaft. Alle lachten. „Aber wie sein Geburtsort heißt, weißt du nicht!“ sagte Danielsen.

„Ajaccio“, sagte Augusta.

An diesem Abend fiel keine Träne auf ihren Brief nach Hause. Und eines Tages tauchte dann die Pensionatsleiterin auf. Sie hatte einen längeren Auslandsaufenthalt hinter sich, kam hereingefegt, schlank und schön, begrüßte alle und hatte für jede ein freundliches Wort. Sie kannte alle Namen, wußte, woher die Schülerinnen kamen, und vor allem mit der Neuen unterhielt sie sich ein Weilchen.

Die vierundzwanzig jungen Mädchen erfuhren von vielen Phänomenen ihrer Zeit und noch mehr aus der Vergangenheit. Sie lernten Französisch, Deutsch, Englisch, Musik und Erdkunde, sie hörten von altnordischen und griechischen Göttern, von Odysseus’ Reise über das Meer, von Ymer, aus dessen Haaren Bäume geworden waren, aus seinem Fleisch Erde, aus den Knochen Berge, aus dem Blut das Meer und aus seinem Schädel der Himmel. Sie machten sich mit dem Römischen Reich vertraut, und einige lernten sogar, den Preis dieser ewigen fünf Tonnen Getreide zu berechnen. Handarbeit hatten sie natürlich auch, aber sie durften niemals einfach nur stricken oder nähen. Eine von ihnen mußte immer die Handlung des Romans erzählen, den sie gerade las, ohne dabei ins Buch schauen zu dürfen. In der Regel lasen sie Romane von Walter Scott und sollten die in eigenen Worten wiedergeben. Die Erzählerin sollte Ivanhoe sein, der als unbekannter Ritter das Turnier gewinnt und die Aufmerksamkeit der schönen Lady Rowena erweckt. Oder sie sollte die arme Jeannie sein, die vor der Königin von England auf die Knie fällt, um ihre Schwester vor dem Schafott zu retten.

Das alles war höchst anregend, und sie machten aus ausgewählten Abschnitten der Bücher kleine Schauspiele. Dadurch lernten sie die einzelnen Schicksale besser kennen, sagte Frau Lindeman. „Sich in andere Menschen hineinversetzen zu können, ist die wichtigste Quelle der Weisheit. Alle verfügen über ein inneres Wissen“, sagte Frau Lindeman. „Das Wissen besteht aus dem, was sie selber hier auf der Welt erlebt haben, aus den Bergen, an deren Fuß sie aufgewachsen sind, den Tieren, die sie gekannt haben, aus Mutter, Vater und Geschwistern und allem, was nur sie gesehen haben, denn nur sie standen in einem bestimmten Moment an einer bestimmten Stelle. Das ist ihr Wissen, das sind ihre inneren Kenntnisse. Lernen bedeutet, dieses Wissen mit den umfassenden Kenntnissen zu verschmelzen, die uns von außen her erreichen – durch Zeitungen, Naturschilderungen, geschichtliche Darstellungen und alles andere, das das äußere Wissen ausmacht. Aber nicht immer stimmen beide Wissensformen miteinander überein. Und dann stimmt zumeist etwas mit dem äußeren Wissen nicht.“

Als Frau Lindeman in Daviken angekommen war, wurde der Hof Frimannslund mit den Bergen und dem blanken, stillen Fjord zu einem Ort. Augusta konnte unten am Hang auf der Treppe zu einem der kleinen Pavillons stehen und zu dem großen weißen Holzhaus mit dem schönen Garten hochblicken und denken: Seltsam – daß das derselbe Ort ist, an dem ich angekommen bin. Er sieht ganz anders aus. Sie versuchte, sich an das Bild zu erinnern, das sie bei ihrer Ankunft gesehen hatte. Es gelang ihr nicht. Sie mußte sich den Anleger in Molde vorstellen, ihren Vater und Bjørnstjerne, die ihr zuwinkten, mußte in Gedanken mit dem Dampfschiff fahren und sich über den Fjord rudern lassen, und erst dann tauchte das erste Bild in ihr auf.

Ich bin derselbe Mensch, dachte sie. Aber ich kann zwei ganz verschiedene Bilder desselben Ortes sehen. Wie sehr muß sich dann das Bild, das ein Mensch von einem Ort hat, von dem eines anderen Menschen unterscheiden. Wie unterschiedlich wir wohl alle möglichen Dinge sehen! Die Bäume dort, sogar den Himmel an einem Tag mit gutem Wetter, wenn man kaum mehr sagen kann, als daß er blau ist, und doch – obwohl alle sagen, gewiß, er ist blau – sehen wir Tausende unterschiedliche blaue Himmel. Über Frimannslund gab es also vierundzwanzig verschiedene blaue Himmel. Und außerdem noch die der Lehrerinnen und Lehrer.

Im Religionsunterricht fragte eines Tages eine Schülerin: „Stimmt es, Frau Lindeman, daß Sie Ihren Mann durch ein Los bekommen haben?“ Daß Anna Uthus es wagte, eine solche Frage zu stellen, ließ allen die Wangen heiß werden. Die Mädchen schlugen die Augen nieder. Frau Lindeman war lieb und freundlich, aber es mußte doch Grenzen geben. Wie dumm, daß Anna einfach so damit herausgeplatzt war, auch wenn sie natürlich darüber getuschelt hatten. Schließlich waren sie nicht mehr sieben Jahre alt. Sie schwiegen lange.

Frau Lindeman trat einen Schritt vor. Sie blickte über die Klasse, dann aus dem Fenster zum Himmel, der sich blau über den Bergkämmen wölbte. „Ja“, sagte sie. „So war es.“

Dann setzte sie sich auf einen Tisch und zog ihre Röcke ein wenig hoch, so daß ihre Knöchel zu sehen waren. Sie legte die Hände übereinander, die rechte über die linke. Die Herrnhuter wollten gern Gottes Willen in Erfahrung bringen, erklärte sie. Wie es sich für gute Christen gehört. Und als junges Mädchen hatte sie mehrere Jahre bei der Brüdergemeinde in Christiansfeld verbracht. Das machten damals wie heute viele junge Mädchen. Und sie lernten, daß sie sich bemühen mußten, um Gottes Gebot zu erkennen. Man konnte nicht ein für allemal wissen, was richtig und was falsch war. Das Leben selber mußte die Menschen vor die Wahl stellen. Gott hatte dem Menschen einen freien Willen gegeben. Und dazu den Verstand, mit gutem Willen vorzugehen. Oder mit bösem. Doch selbst dann war immer noch Gottes Wille vorhanden. Denn Er wollte das Gute. Deshalb wurde bei den Herrnhutern gelost – denn in diesem Leben haben wir ohnehin keine Wahl. Wer entscheidet sich schon für das Paradies? Das hatten nicht einmal Adam und Eva getan. Gott hatte sie hineingesetzt. So war Sein Plan.

„Das alles ist ein Mysterium“, sagte Frau Lindeman. „Ich bin nicht sicher, ob ich es selber verstanden habe. Daß Gott dem Menschen einen freien Willen gegeben hat, damit der Mensch Gottes Willen tut. Das ist ja eigentlich ein Widerspruch in sich. Er gibt uns den freien Willen, ohne ihn uns zu geben. Er hat einen Plan mit uns – aber wir müssen selber auch einen Plan machen. Nicht alles liegt in Seiner Gewalt, und doch liegt alles in Seiner Gewalt. Und an dieser Stelle wird das Los wichtig. Ich dachte“, sagte sie, „dann kann ich es auch dem Zufall überlassen, wer mein Ehemann werden soll, es ist ja auch ein Zufall, daß ich überhaupt auf diese Welt gekommen bin. Und dann wurde gelost, und das Los fiel auf Pastor Lindeman. – Ich kannte ihn damals noch nicht. Wir verlobten uns, ich fuhr wieder nach Hause und arbeitete eine Zeitlang als Lehrerin, dann heiratete ich Pastor Lindeman und kam hierher nach Daviken, wo er eine Pfarrstelle bekommen hatte. Und als er eines Tages in der Annexkirche war, versagte sein Herz. Ich hörte davon, ruderte sofort hinüber – aber es war zu spät.“

Die Mädchen, die sie angestarrt hatten, während sie das alles erzählte, schlugen die Augen nieder. Sie hörten ein leises Zittern in ihrer Stimme. „Ich war sehr unglücklich.“ Sie räusperte sich. „Erst da begriff ich, wie sehr ich ihn liebte...“

Hier legte sie eine Pause ein. Die Schülerinnen hörten, daß ihre Stimme zu versagen drohte. Einige schluchzten. Aber Frau Lindeman sprach weiter: „Es ist schon seltsam in diesem Leben – daß die stärksten Gefühle oft erst kommen, wenn das, was sie ausgelöst hat, bereits zu Ende ist. Erst jetzt verstand ich den Plan, den Gott bei der Auslosung gehabt hatte. Es war ein klares, starkes Erlebnis, das mich ihm näher brachte. Ich weiß nicht, ob ihr das verstehen könnt... Ich weiß nicht einmal, ob ich es selber verstehe. Aber so war es. Ich betete soviel zu Ihm, versuchte, in meiner Trauer Seinen Willen zu finden. Meine doppelte Trauer – denn ich hatte nichts, wofür ich leben konnte. Was sollte aus mir werden? Der Witwensitz der Pfarre war noch besetzt. Aber es mußte doch Gottes Wille sein, daß ich hier war? Konnte ich nicht das benutzen, was ich gelernt hatte? Ja, war das nicht meine Pflicht? Sollte ich aufgeben, nur weil ich eine Frau war? Hatte Gott mich nicht als Frau erschaffen? Ich hatte doch zusammen mit dem Pastor hier eine Schule gehabt. Warum sollte ich das nicht auch allein schaffen? Ich erkannte, daß das Los auch bedeutete, daß ich eine Schule für vierundzwanzig junge Mädchen eröffnen sollte.“

Sie lächelte. „Damit ihr hier sitzen und mir solche aufdringlichen Fragen stellen könnt“, sagte sie streng.

Alle atmeten erleichtert auf und liebten sie noch mehr als zuvor. Daß ein erwachsener Mensch so offen über sein Leben, über Schmerzen und Freuden sprechen konnte, das hatten die jungen Mädchen noch nie erlebt.

„Es gibt so vieles, das sich für Damen nicht schickt“, sagte Frau Lindeman. „Eigenes Geld sollen sie zum Beispiel nicht verdienen.“ Sie erzählte, daß in Frankreich, das sie vor kurzem besucht hatte, Frauen gegen diese Ansicht rebellierten. Sie verlangten Stimmrecht für Frauen, wollten gleich viel erben wie Männer, studieren und ein Amt ausüben – ja sogar in der Nationalversammlung sitzen. Es sollte kein Privileg der armen Frauen bleiben, sich durch eigene Arbeit zu ernähren, während eine, die eine gute Partie machte, ihren Beruf aufgeben mußte. Das neue wohlhabende Bürgertum verurteilte seine Frauen zu Eleganz und Leere, sagten die Französinnen. Die armen Frauen, die arbeiten gehen mußten, beneideten sie und sahen nur die Eleganz, die Leere sahen sie nicht.

Leere in einem Leben ist ja auch unsichtbar. Die anderen Menschen sehen Glitzern und Geld oder überhaupt nur den Erfolg der anderen. Doch wenn die „Erfolgreiche“ über ihr Unglück spricht, stößt das auf taube Ohren. Aber Frauen – egal ob arm oder reich – müßten endlich einsehen, daß, wie man die Sache auch dreht und wendet, die Männer auf den Geldsäcken sitzen und das nun wirklich keinen Sinn hat.

Die Frauen, die so dachten, nannten sich Feministinnen, erzählte Frau Lindeman. Das war ein ziemlich neues Wort. Ihr Widerstand hingegen war nicht neu. Bei der großen französischen Revolution hatten die Frauen versucht, als Teil des dritten Standes sich am Aufruhr gegen die Adelsherrschaft zu beteiligen, aber die Männer, die sich für Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit einsetzten, hatten ihre Schwestern nicht dabeihaben wollen. Und das wollten sie auch jetzt nicht.

Die Mädchen hörten gespannt zu und machten große Augen. „Meinen Sie, im norwegischen Parlament werden irgendwann auch Frauen sitzen, Frau Lindeman?“

Auch diese Frage stammte von Anna Uthus. Einige Mädchen kicherten. Und redeten drauflos. Wie wäre es mit einer Ministerin? Einer Botschafterin? Einer Admiralin?

„Ihr lacht!“ sagte Frau Lindeman laut und lächelte selbst. „Aber wenn eine Frau Königin sein kann, warum sollte sie nicht zur Admiralin oder Ministerin taugen?“ Wann? Wann? wollten die Mädchen wissen. Ob sie das noch erleben würden? Frau Lindeman überlegte. „Ich werde es wohl nicht mehr erleben, aber vielleicht haltet ihr ja so lange durch...“

Zu Weihnachten sorgte Frau Lindeman dafür, daß sie sich wie zu Hause fühlten. Sie schmückten das Haus und backten, es wurde geschlachtet, alle halfen mit. Nach dem Gottesdienst am Heiligen Abend wollte sie sich an eine Sitte halten, die sie in Deutschland kennengelernt hatte. Alle setzten sich in den dunklen Speisesaal und faßten einander an den Händen. Die Tür zum Weihnachtszimmer war geschlossen. In der Dunkelheit sollten sie Weihnachtslieder singen, während der Weihnachtsmann kam. Der schlich sich in den großen Saal, löschte alle Lampen und zündete die Wachskerzen am Baum an. Dann schlich er sich wieder hinaus. Und sie konnten die Tür öffnen – der Baum leuchtete ihnen entgegen.

Die vierundzwanzig Mädchen und alle Lehrerinnen und Lehrer seufzten tief. Sie wagten sich fast nicht an den Baum heran – so andächtig waren sie bei seinem Anblick geworden. Vorsichtig erhoben sie sich und gingen hinüber, um die weißen Bänder und die roten Äpfel zu bewundern.

„Das ist ein Weihnachtsbaum“, sagte Frau Lindeman.

„Ein Weihnachtsbaum?“ flüsterten die Mädchen.

„Ja. Er soll uns die Geschenke des Himmels zeigen.“

Und dann brachte sie ihnen ein Weihnachtsbaumlied bei.

Der Christbaum ist der schönste Baum,

den wir auf Erden kennen,

wie lieblich blüht der Wunderbaum,

wenn seine Lichter brennen.

Denn sieh, in dieser Winternacht

ist einst der Herr geboren,

der Heiland, der uns selig macht,

hätt’ er den Himmel nicht gebracht,

wär’ alle Welt verloren.

Dann wurden mehrere Stunden lang Geschenke geöffnet, und weil alle vierundzwanzig Mädchen für die anderen dreiundzwanzig ein Geschenk gebastelt hatten, ließ sich ausrechnen, daß das insgesamt fünfhundertzweiundfünfzig Geschenke machte und dazu die für alle Lehrerinnen und Lehrer.

Es sollte das letzte Jahr sein, in dem auf dem Frimannslund-Hof in Daviken eine Mädchenschule existierte. Frau Lindeman hatte eine neue Stellung als Leiterin des Eugenienstifts in Kristiania gefunden, die Schule in Daviken sollte deshalb im Sommer 1850 geschlossen werden. Die Abreise der Mädchen wurde zu einer chaotischen Mischung aus Wehmut und Lachen.

Die „Constitutionen“ hatte im Hafen von Kristiansund angelegt. Jon Mjøen sah sich suchend in der Menschenmenge um, die an Land strömte. Im Hafen war es schwarz vor Menschen, Wiedersehensrufe ertönten, Koffer standen im Weg, und er konnte Augusta nicht finden. Doch da fiel ihm eine junge Frau um den Hals, fast wäre er vor Überraschung umgekippt. Sie weinte und lachte, drückte ihn an sich und lachte wieder. Überwältigt musterte er sie. Ein Mädchen mit einer Kuchentüte hatte ihn vor einem Jahr verlassen. Und jetzt? Es war nicht zu fassen! Ihre dunkelbraunen Haare waren sehr lang geworden und zu einem dicken Zopf geflochten, nicht mehr wie früher zu zweien, und der Zopf hing wie ein Kringel über ihren Nacken. Ihr rundes Gesicht strahlte jetzt erwachsene Ruhe aus, die schrägstehenden braunen Augen leuchteten unter ihren dunklen Brauen, ihr südländischer Teint machte sich stärker bemerkbar und wurde von der kleinen weißen Immortelle an ihrem Ohr noch betont.

„Kleines Knöpfelchen? Ist das wirklich mein kleines Knöpfelchen?“ fragte er. Er drückte sie an sich, und die Tränen strömten nur so.

Augusta und ihr Dichter

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