Читать книгу Augusta und ihr Dichter - Gerd Mjøen Brantenberg - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеKurz nach diesem Besuch passierte etwas sehr Trauriges. Der kleine Frederik Trampe war abends eingeschlafen, und nichts deutete an, daß ihm etwas fehlen könnte. Sein ganzes kurzes Leben lang war er ein gesunder, munterer Junge gewesen. Aber am nächsten Morgen lag er leblos in seiner Wiege. Marithe Bryggjom wurde geholt. Die Hebamme wußte in solchen Fällen normalerweise Rat. Marithe hob ihn hoch und untersuchte ihn, sie versuchte, seinen kleinen Körper zu massieren, hauchte Atem in seinen Mund, aber alles half nichts. Schließlich mußte sie aufgeben. Aber wie hatte das passieren können? Die anderen konnten es nicht glauben, die Trauer kam erst später.
Doch, das komme vor, erklärte Marithe, auch wenn sie noch nie einen solchen Fall erlebt hatte. Manchmal starben kleine Kinder ohne irgendeine erkennbare Ursache einfach so in der Wiege. Manche meinten, sie hätten vielleicht falsch gelegen und wären dabei erstickt. Andere glaubten, Gott habe sie zu sich geholt – und es handele sich um besonders begünstigte Kinder. Es sei auf jeden Fall ein Zeichen, da war Marithe ganz sicher.
Die anderen konnten das nur schwer hinnehmen. Es war ein Todesfall, der auf irgendeine Weise gar nicht eingetreten war. Und alle machten sich Vorwürfe, weil sie nachts nicht über ihn gewacht hatten. Hatte Gott ein Zeichen gegeben, um sie zu warnen, daß der Kleine in Gefahr schwebte? Sie gingen die vergangenen Tage durch und fanden Omen, die sie nicht gedeutet hatten – einen plötzlichen Windstoß, einen besonders leuchtenden Sonnenuntergang, zwei Raben, die schreiend gen Norden flogen. Die Magd Guri war außer sich. Die Kuh Gullrosa war am Vorabend im Stall so unruhig gewesen. Warum hatte Guri nicht begriffen, daß der Herrgott durch das Tier gesprochen hatte? Alle auf dem Hof weinten. Sogar die Tiere schienen zu trauern, und Hektor fiepte und wollte zu dem Kleinen ins Zimmer.
Augusta stand vor der Wiege und staunte. Sie konnte nicht begreifen, warum er nicht aufwachte, wenn jemand sein Händchen anfaßte. Aber sie sah ja, daß er leblos vor ihr lag. Und dann spürte sie die Arme ihres Vaters. er hob sie hoch und trug sie in die Stube, und dabei sang er langsam und ohne Worte.
„Unser Kleiner kommt jetzt in den Himmel“, flüsterte er. „Wie macht er das?“ fragte sie leise. „Er bekommt kleine Engelsflügel“, erklärte der Vater. „Aber kann er denn schon fliegen? Er hatte doch noch nicht einmal laufen gelernt“, fragte sie überrascht. „Ja, jetzt ist er ein Engel, und er kann fliegen, so klein er auch ist.“ Darüber dachte sie eine Weile nach. „Aber er liegt doch immer noch in seiner Wiege?“ fragte sie dann und wollte vom Schoß ihres Vaters springen und wieder nach ihrem Brüderchen sehen. Der Vater hielt sie zurück. „Ja, er liegt noch immer in der Wiege. Aber das ist nur sein Körper. Seine Seele hat den Körper schon verlassen. Und sie hat jetzt Flügel.“ – „Ach!“, sagte Augusta. „Kann er sich deshalb nicht bewegen?“ – „Ja“, antwortete der Vater.
Er wärmte ihre Füßchen in seinen breiten Händen. Ihre Strümpfe waren feucht, er zog sie ihr aus und rieb ihre bloßen Füße. Dann nahm er ihren großen Zeh und hielt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger fest. „Zeh-Zehe“, sagte er. Es kitzelte. Sie keuchte vor Entzücken, zog den Fuß zurück und streckte ihn dann wieder vor. Ihr Vater wandte sich dem nächsten Zeh zu. „Zehzille“, sagte er und kniff hinein. Sie lachte. Wollte seine Hand wegschieben, es kitzelte so, aber es war auch witzig, und deshalb ließ sie ihn weitermachen. „Zählerosa“, sagte er und hatte schon den mittleren Zeh erwischt. Augusta schaute ihre Zehen an. Die sahen aus wie kleine Menschen. So seltsam und unterschiedlich – jeder mit seinen kleinen Gedanken über das, was jetzt passieren würde. Jetzt wartete der Zweitkleinste. Er krümmte sich und freute und gruselte sich zugleich, als der Vater danach griff. „Knöpferosa“, sagte der Vater und schüttelte den Zeh so lange, bis der begriffen hatte, daß er Knöpferosa hieß. Und schon hatte der Vater den kleinen Zeh erwischt und schüttelte ihn herzlich. „Und das kleine Knöpfelchen“, sagte er.
Jetzt lachten sie beide laut. Das war wirklich das Allerwitzigste. Daß der Vater beim kleinen Knöpfelchen ankam. Sie legte ihm die Arme um den Hals und streichelte immer wieder seinen kurzen Kinnbart. Dann kam ihr plötzlich ein Gedanke. „Darf ich das mal bei dir probieren, Vater?“
Der Lensmann zog Stiefel und Strumpf aus und legte sich aufs Sofa. Seine Zehen waren so groß und viel dicker als ihre Finger, aber energisch packte sie den größten, schüttelte ihn gründlich und sagte: „Zeh-Zehe.“ – „Ooooo! Ho, ho, ho“, der Lensmann lachte laut. „Zehzille“, sagte Augusta. „Runter mit dir, Fuß“, befahl sie dann. Der Fuß gehorchte. „Zählerosa“, sagte sie glücklich und streng und schnappte sich den mittleren Zeh. „Knöpferosa! Und das kleine Knöpfelchen!“ rief sie und schüttelte den riesigen kleinen Zeh ihres Vaters aus Leibeskräften. Gleich darauf lag sie in seinen Armen auf dem Sofa, und sie lachten und lachten, weil es so schrecklich gekitzelt hatte. Doch dann trat die Mutter in die Tür. Sie blieb dort stehen und musterte die beiden.
„Ihr lacht?“ fragte sie.
Der Lensmann stellte Augusta auf den Boden und setzte sich auf. Er gab keine Antwort. Die Mutter blieb stehen. Wartete auf Antwort. Augusta wagte nicht, sich zu bewegen.
„So ist die Trauer eben“, sagte der Lensmann leise.
Die Mutter rief: „Erzähl mir bloß nichts über Trauer!“ Dann stürzte sie weinend hinaus und knallte mit der Küchentür.
Verängstigt starrte Augusta die geschlossene Tür an. Dann schaute sie zu ihrem Vater hinüber. Und sah, daß der hinter seinen großen Händen weinte.
Augusta dachte an die Seele des Kleinen. Sie stellte sich diese Seele als eine Art flaches Wölkchen vor, ungefähr von der Form einer Schuhsohle. Alle Menschen hätten eine Seele, hatte ihr Vater gesagt. Nicht nur der kleine Bruder.
Es war nicht so schwer, sich vorzustellen, wie die Seele zum Himmel flog. Das Problem war die Frage, wo die Seele steckte, solange sie noch im Körper war. Saß sie im Kopf oder im Bauch? Augusta überlegte, daß sie vielleicht ein wenig herumschwamm. Sie war bestimmt sehr weich und konnte sich überall hineinstehlen, um das Herz herum und vielleicht auch in den Magen. Aber bis zum Po kam sie sicher nie. Dazu war eine Seele bestimmt zu vornehm.
Es tat gut, über die Seele nachzudenken.
Ein Zeichen? dachte Jon Mjøen. Ein Zeichen, sagte die Hebamme Marithe. Aber was wollte Gott ihnen dadurch mitteilen, daß Er ihnen den Kleinen weggenommen hatte? Ein Kind, das noch nichts Böses getan hatte.
Wenn der Herr als Strafe für unsere Sünden solche Zeichen gab, dann bestrafte er damit doch den Falschen. Ich habe vielleicht den Zorn des Herrn verdient, dachte Jon Mjøen. Ich habe gesündigt. Warum sollte der Kleine an meiner Stelle bestraft werden?
Ja. Vielleicht ist die Trauer so. Die Trauer hat viele Gesichter, dachte Helene. Niemand ahnte, welche Trauer sich hinter dem Gesicht versteckte, das sie in diesen Tagen zeigte. Niemand fragte.
Ach, nein. Sie hatte sich gründlich getäuscht, damals, als sie glaubte, etwas an ihrem Wesen habe ihn gerührt. Und ein Zorn loderte in ihr auf – ein Zorn, den sie während ihrer Kindheit verspürt hatte, seit dem Tag, als sie zehn Jahre alt war und ihr väterlicher Hof zwangsversteigert wurde – manchmal kam es ihr vor, als sei sie mit diesem Zorn geboren worden, und der Zorn liege in ihr auf der Lauer und warte nur darauf, auszubrechen, wenn sie traurig war – die Trauer mochte groß oder klein sein, es reichte schon, wenn ihr irgend etwas wehtat – sie konnte vor Zorn hochgehen – und sie brauchte jemanden, auf den sie diesen Zorn richten konnte, damit der sich beruhigte – und damals hatte sie in den Augen des Lensmanns etwas gesehen und geglaubt...
Augusta schaute sich immer wieder um. Da waren die Häuser und der Hof und dahinter der Berg und der Fluß, da waren die Zimmer und die Möbel mit ihren schönen Mustern und die großen Bilder an der Wand und eine Uhr, da waren Mutter und Vater und Hansemann und der Stallbursche Ivar und die Magd Guri und alle anderen, der Wolf Hektor und die Miezekatze Molly, im Stall die Kühe Børstaros und Lilja und noch vierzehn andere, die mit tiefer Stimme Muh sagten und vor sich hin glotzten, da waren die Pferde Storegut und Raugubben, Perla und Svarten, die vielen Ziegen, manchmal auch Schafe und das mit der Flasche aufgezogene Lamm Alfhilde, die Hühner auf dem Hof und Napoleon II. Sie sah Børstaros mit ihren Hörnern und dem weißen Flecken auf der Stirn, sie sah die ersten Sonnenstrahlen über dem Almannberg, sah ihren großen Vater weinen und die Mutter mit den Türen schlagen und schimpfen. So war das eben.
Doch um alle Dinge gab es noch etwas anderes. Sie waren sie selber, und dann gab es noch etwas anderes. Das, was die Menschen und die Dinge und das Gefühl umgab, sie selber zu sein und alles zu sehen, das war einfach die Welt. Und das wußte nur sie allein.
Und sie wußte, daß der kleine Frederik gestorben war, weil die Eltern sich zerstritten hatten, und sie hätte die ganze Nacht bei ihm sitzen müssen, dann hätte er nicht daran zu sterben brauchen.
Augusta ging mit Guri in den Stall. Sie lernte melken und den Kühen gut zureden und ihnen kleine Geschichten erzählen. Und dann kam in der Regel noch die Miezekatze Molly und hörte ebenfalls zu. Aber wenn sie sich an die Katze wandte und fragte: „Hörst du zu, Molly?“ dann hob die Katze die linke Hinterpfote, kratzte sich heftig hinter dem Ohr und tat, als habe sie kein Wort gehört. Die Tiere waren wie Menschen. Sie sahen nur ein bißchen anders aus.
Als der Lensmann und die Kinder eines Sonntags im Eßzimmer saßen und auf das Essen warteten, hörten sie aus der Küche schrilles Geschrei. Holzgefäße gingen zu Boden, Stühle kippten um, dann ein leises Knurren und blitzschnelle tapsende Schritte. Der Lensmann stürzte, gefolgt von den Kindern, in die Küche, und dort lag die Mutter auf dem Boden.
„Er hat den Braten geholt! Dieses Teufelsbiest!“
Sie liefen durch die Küche und den Flur, die Treppe hinunter und um das Haus herum, und dort sahen sie Hektor, der mit dem sonntäglichen Hammelbraten in der Schnauze davonjagte. Der Lensmann rief. Der Wolf blieb stehen und sah zurück. „Loslassen, Hektor!“
Aber diesmal ließ Hektor sich nicht so leicht zum Gehorsam überreden. Er hatte das saftige Fleisch ja schon probiert. Der Lensmann ging langsam auf ihn zu und redete freundlich auf ihn ein, der Wolf blieb stehen, er gehorchte nicht, lief aber auch nicht weg. Schließlich konnte der Lensmann Hektor im Nackenfell packen und ihm den Sonntagsbraten entreißen. Das Tier jammerte und fiepte, der Lensmann schimpfte. Dann ging er mit einem übel mißhandelten Hammelbraten zurück zu seiner Familie.
Helene bebte vor Aufregung. Sie hatte den Braten zwischen den Händen gehabt, und Hektor war einfach hochgesprungen, sie hatte seinen riesigen Wolfsrachen dicht vor dem Gesicht gehabt. „Oooo! Ich werde den Anblick dieses entsetzliches Tieres nie vergessen!“ Sie weinte.
Der Lensmann legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie zu trösten.
Hektor wurde an die Kette genommen. Das gefiel ihm gar nicht. Er stellte sich auf die Hinterbeine und heulte. Wenn zum Essen geläutet wurde, heulte er noch mehr. Er gab einfach keine Ruhe. Hektor war im ganzen Tal zu hören. Nach einigen durchheulten Tagen kam ein Schneehuhnjäger vorbei. Er nahm Hektor mit, und dann hörten sie irgendwo im Wald einen Schuß fallen.
Die Nachricht verbreitete sich im Dorf, und schon bald hieß es, der Knecht Ivar habe gesehen, daß die Lensmannsfrau den Wolf zu sich gelockt habe. Die Dorfbewohner stellten sich vor, wie Frau Mjøen in der Küche Amok lief, Stühle und Bänke und Tische umstieß, sich auf den Boden fallen ließ und schrie, während der Wolf dastand und sie verdutzt anglotzte. Über dieses Bild mußten sie herzlich lachen. Als das Thema ausgiebig durchgekaut und vorwärts und rückwärts und für alle Neuankömmlinge noch einmal beschrieben worden war, als man sich immer wieder ausgeschüttet hatte vor Lachen, fragte jemand, ob nicht die Pastorin das eine oder andere aus ihrem Haus vermißt habe, damals, als Helene sich verlobt hatte? Einen oder zwei silberne Löffel vielleicht? „Einen Tortenheber!“ erklärte der Schmied fest. Und das entschied den Fall. Wenn er es so genau wußte, dann mußte es stimmen. Und fehlten nicht oft ein Wurstende oder ein Stück Speck, wenn die Lensmannsfrau einen Besuch gemacht hatte? Doch, das traf zu. Aber mehr ließ sich darüber nicht sagen. Mehr ließ sich absolut nicht sagen.
Augusta saß weinend hinter dem Schafstall. Es war mehrere Wochen her, daß der Jäger Hektor erschossen hatte, und sie konnte nicht begreifen, wo er jetzt wohl war. Als sie zum Abendessen nicht ins Haus kam, hatte der Vater sie bald gefunden. „Aber Augusta, kleines Knöpfelchen“, sagte er. „Hier sitzt du also?“ Denn er nannte sie „Knöpfelchen“, seit er nach dem Tod des kleinen Bruders das Spiel mit den Zehen angefangen hatte. Er nahm sie auf den Schoß. „Denkst du an Hektor?“ – „Ja“, sagte sie, erleichtert, weil er das verstanden hatte, obwohl sie nicht begreifen konnte, wie er in ihren Kopf hineingeschaut hatte. Er schmiegte seine Wange an ihre. „Weißt du, Hektor ist jetzt im Himmel, zusammen mit Ulfhild, seinem Schwesterchen, das er immer vermißt hat, als er noch hier auf der Erde war.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“
Sie saßen eine Weile wortlos zusammen, an diesem stillen Maiabend. Alles um sie her war jetzt so schön. Grüne Keimlinge und ganz kurzes Gras, das aus dem Boden lugte und so gern leben wollte.
„Gibt es einen eigenen Wolfshimmel?“ fragte sie.
Ihr fiel auf, daß er nicht sofort antwortete.
„Nein“, sagte er dann entschieden. „Die Wölfe kommen in denselben Himmel wie wir.“
„Auch Wolfsrudel? Die aus den Bergen?“
„Ja, auch Wolfsrudel. Im Himmel sind sie zahm, verstehst du, genau wie Hektor das war.“
„Aber nur die Seele ist da oben. Sein Fell mußt du als Mantel nehmen.“
„Was?“
„Ja. Du brauchst einen warmen Pelz, wenn du ins Dovregebirge fährst. Das sagt Mutter.“
Er erstarrte. Hektor als Mantel zu nehmen, kam ihm vor, wie aus einem Hund einen Bettvorleger zu machen.
„Meinst du wirklich?“ fragte er.
„O ja!“ sagte sie. „Er wird sich da oben so freuen, wenn er das sieht!“
„Meinst du wirklich, Knöpfelchen?“
„Ja.“
Eine tiefe, unerklärliche Wärme breitete sich in ihm aus. Er drückte das Kind an sich und ließ sein Kinn auf ihrem Köpfchen ruhen. Noch am selben Tag schickte er einen Boten zu dem Schneehuhnjäger, der Hektor noch nicht verkauft hatte, und ließ sich den Pelz mehrerer Tiere bringen, das reichte für einen knöchellangen Wolfsmantel. Auf diese Weise sollte der Wolf Hektor den Lensmann bis an dessen irdisches Ende begleiten.