Читать книгу Das Tartarus-Projekt - Gerd Schilddorfer - Страница 5

1. Die Party

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„Ich schreib ja jetzt auch ein Buch …“

Michael Landorff blickte verwirrt in Richtung eines schlaksigen Jünglings und verschluckte sich fast an dem Whisky, der golden in seinem Glas schimmerte. Er lehnte sich an die Wand, während er das junge Milchbartbubi mit der peinlichen Schillerlocke in der pickeligen Stirn verblüfft genauer musterte.

Der? Der schrieb auch ein Buch? Konnte der schon schreiben oder tippte der noch? Nach der Adler-Suchmethode? Über den Tasten kreisen und dann zuschlagen?

Landorff runzelte die Stirn. Dieses Buchschreiben entwickelte sich allgemein zu einer Krankheit, die einer Epidemie glich, dachte er. Jeder, der eine halbwegs fehlerfreie E-Mail von zehn Zeilen schaffte, entschloss sich spontan, etwas vom Schlechtesten zum Besten zu geben.

Literarischer Brechdurchfall. Gnadenlos.

Ein großer Schluck Laphroaig sorgte dafür, dass Landorffs Magensäure da blieb, wo sie hingehörte. Die drei kurz berockten Grazien, die den literarischen Möchtegern-Newcomer anhimmelten, als wäre er der gerade aus dem Bett gestoßene Ex-Lover von Lady Gaga, kicherten sinnbefreit vor sich hin. Dabei trippelten sie erwartungsvoll von einem Stöckelschuh auf den anderen und warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu.

Während Landorff über die potenziellen Offenbarungen von Pickelgesicht nachdachte, bemerkte er, dass der Islay-Whisky in seinem Glas plötzlich metallisch schmeckte.

Blieb nur zu hoffen, dass die „Memoiren eines Achtzehneinhalbjährigen“ oder der „Rückblick auf mein bewegtes Leben in der Krabbelstube“ am bekannt verwöhnten Geschmack eines wachen Literaturagenten scheitern würden. Oder spätestens der abgebrühte Lektor eines vernünftigen Verlags sie dahin befördert, wo sie hingehörten – in den Papierkorb.

Die Mascara-umrandeten Augen der pubertierenden Grazien waren inzwischen wieder auf Normalgröße geschrumpft, während sie sehnsüchtig weiteren Ausführungen entgegenfieberten.

Ich nicht, dachte Landorff, und zog los, weiter durch das riesige Wohnzimmer. Die chillige Musik, ein ausgezeichnetes Buffet, ein Traumhaus mit Pool und Effektbeleuchtung im Garten. Es war eine super Party mit den richtigen Leuten am richtigen Ort, kein Zweifel.

Bis zu dem Satz, dem einen Satz, war es in der Tat ein wunderbarer Abend gewesen. Trinken, tanzen, Blödsinn reden, ohne Reue das überladene Buffet vernichten und die obligaten Reden beklatschen. Party business as usual. Eine der stadtbekannten Start-up-Firmen hatte geladen und alles, was glaubte, Rang und Namen zu haben, war dem Ruf nur zu gern gefolgt.

Landorff ebenfalls. Obwohl er keine Ahnung hatte, warum er auf der Einladungsliste stand. Naja, vor sich selbst entschuldigte er sein Kommen mit dem Hinweis auf das opulente Buffet vom besten Caterer Münchens. In seinem Job aß man nicht jeden Abend warm …

Der Anlass der Fete war stadtbekannt. Prolicks – nomen est omen – hatte mit diversen Dienstleistungen in unglaublich kurzer Zeit sehr materielle Millionen gemacht. Manche sprachen sogar von einer Milliarde, die der gerade erfolgte Verkauf der Unternehmensgruppe an einen der weißen Anleger-Haie im Netz eingebracht hatte. Man flüsterte hinter vorgehaltener Hand, der hätte sich damit in einem Schachzug die Konkurrenz vom Leib geschafft und gleichzeitig seine Steuern drastisch reduziert.

Die er sowieso in Luxemburg bestimmt bereits vorher flexibel gestaltet hatte …

Prolicks-Chef Gregory Winter wiederum hatte sicher händereibend den Vertrag unterschrieben, seinen Facebook-Status auf „Milliardär“ gesetzt und eine Riesenfeier via Internet einberufen. Und die wurde nun seit zwei Stunden live und parallel auf drei Plattformen übertragen, in sozialen Netzwerken geliked und von einigen Gästen vor Ort natürlich neugierig verfolgt, auf Handy und Tablet-PC.

Als Film im Film sozusagen …

Während also Winter in ausgebeulten Jeans, blassem T-Shirt und trendigem Rohseidenschal lässig den erfolgreichen Hausherrn gab und sich verbindlich lächelnd in Small Talk übte, war er mit seinen Gedanken wahrscheinlich schon wieder bei seiner nächsten Start-up-Gründung.

Irgendwer drückte Landorff ein neues Glas in die Hand und entsorgte fürsorglich das leere. Einen Dank murmelnd blickte er sich rasch um, schon um seine Gedanken von der schreibenden Schillerlocke loszueisen. Die Hälfte der Besucher stand planlos im Raum verteilt, hielt sich das Handy vor die Augen und starrte fasziniert auf das Display.

War was? Hatte Trump mit nacktem Oberkörper auf einem galoppierenden Pferd Blutsbrüderschaft mit Putin geschlossen? Oder war es nur die übliche kollektive Sprachlosigkeit: Wer zwitschert Nonsens schneller?

Der neue Whisky schmeckt besser als der alte, dachte Landorff und nickte anerkennend. Brannte zwar mehr im Abgang, war aber rauchiger. Griff Winter jetzt seine privaten Bestände an? Vielleicht sollte er doch noch ein wenig länger hier bleiben. Er schnupperte an der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Bis zum Talisker Storm liegt noch ein langer Weg vor mir, dachte er. Doch mit etwas Durchhaltevermögen …

Er schaute auf die Uhr. Erst knapp vor 23.00 Uhr. Also … whiskymäßig drei Uhr früh könnte hinkommen, man musste sich nur mit seiner Leber abstimmen.

Schillerlocke schwang inzwischen einen Montblanc wie einen Zauberstab und grinste dümmlich seine weibliche Entourage an.

Der und ein Buch schreiben … Landorff schüttelte den Kopf. Dieses haltlose Buchschreiben durch Hinz und Kunz, Ping und Pong, Pocher und Becker, Schicki und Micki begann auszuufern, war auf dem besten Weg, eine neue Volksbelästigung zu werden. A-, B-, C-, D- und E-Prominenz, die sich früher dankenswerterweise auf simples Dasein beschränkt hatte, schrieb jetzt ungeniert drauflos. Oder diktierte Lebensweisheiten an Ghostwriter. Wenigstens die hatten Hochsaison. Kein Wunder, dass der durchschnittliche Buchhändler keinen Platz mehr in seinen Regalen hatte. Denn fieserweise erschienen die Prominenten in bekannten und großen Verlagen, die besagten Buchhändlern bei der Gelegenheit gleich ihr gesamtes Programm aufs Auge drücken konnten. Bestseller und Ladenhüter, Kochbücher und Bettbeichten, inklusive wahllos aufs Papier gekotztem prominenten Nonsens, der vierzehn Tage vor dem Erscheinen einen passenden Skandal braucht, um überhaupt Aufmerksamkeit zu erregen.

Schillerlockes Vater hatte sicher 5689 Freunde auf Facebook, schoss es Landorff durch den Kopf. Der Verkauf der Startauflage war hiermit gesichert, egal welchen Schwachsinn der Filius zwischen zwei Covern (v)erbroch.

„Was träumst du hier rum?“

Die raue Stimme von Melissa riss Landorff aus seinen düsteren Gedanken. Sie hatte sich für einen schwarzen Hosenanzug entschieden, der sie elegant und gleichzeitig ein wenig verrucht aussehen ließ, weil sie drunter die Bluse weggelassen hatte und nur einen schwarzen BH trug. Das halb offene Jackett war eine perfekte Bühne für die redlichen Bemühungen des Push-ups, Melissas schon von Haus aus üppiger C-Oberweite ein Upgrade auf D zu verpassen.

„Hey! Meine Augen sind hier oben!“, beschwerte sie sich theatralisch und schüttelte effektvoll ihre tiefschwarze Mähne, bevor sie Landorff mit erhobenem Finger drohte.

„Aber meine sind gerade woanders“, gab er zu, dankbar für die Unterbrechung. Milchbartbubi visierte inzwischen über die Spitze des Montblanc fasziniert Melissas Ausschnitt an und schien sein Buchprojekt vergessen zu haben. Vielleicht würden mehr tiefere Dekolletés so manches schlechte Buch verhindern, dachte Landorff kreativ.

„Kommst du mit mir zur zweiten Buffetschlacht?“

Melissas dunkelbraune Augen sahen ihn erwartungsvoll an, bevor sie Milchbubi samt weiblicher Entourage in einem einzigen abschätzigen Rundum-Blick auf die hinteren Plätze der Schöpfung verwies.

„Oder machst du hier einen auf Kindergarten?“

Der Montblanc zeigte noch immer auf den Designer-Kronleuchter, als Landorff seinen Arm demonstrativ um Melissa legte und sie sanft in Richtung Buffet schob. „Der will auch ein Buch schreiben …“, weihte er Melissa in seine neuesten Erkenntnisse ein.

„Wird wahrscheinlich ein Aufsatz, nein, eher eine Kürzestgeschichte“, winkte sie ab und betrachtete interessiert den Rehrücken auf Orangenschaum. „Wenn überhaupt …“

„Sein Vater …“, begann Landorff.

„… hat das Buffet geliefert“, vollendete sie lakonisch. „Metzgermeister Zahlmann. Deshalb hängt sein Spross hier ab.“

„Der Möchtegern-Literat ist der junge Zahlmann?“, entfuhr es Landorff. „Der trägt sonst blutigen Kittel und hat seine Hände bis zu den Ellenbogen im Wurstbrät?“

„Kennst du eigentlich irgendjemanden hier, den Gastgeber und mich ausgenommen?“, mokierte sich Melissa und drückte Landorff einen Teller in die Hand. „Oder bist du nur wegen des Essens hier?“

Touché, ma chère“, gab Landorff grinsend zu und lud sich zwei Scheiben Hirschschinken mit Preiselbeergarnitur auf Pfifferling-Mousse auf. „Und den Gastgeber kenne ich nicht. Aber er kennt offenbar mich.“ Gefolgt von Forellenfilet mit Meerrettichsahne. „Außerdem hatte ich heute Abend sowieso nichts anderes vor“, verteidigte er sich lahm.

„Welch’ Glück für uns alle, und vor allem für Winter“, ätzte Melissa, „der wüsste sonst sicher nicht, wohin mit den Fressalien. Ich dachte, du schreibst an deinem neuesten Thriller?“

„Da halte ich es genauso wie ein Freund von mir, der nach fünf Uhr nachmittags nichts mehr isst“, dozierte Landorff, während seine Hand über dem Brötchenangebot schwebte wie ein zögerlicher Geier. „Außer, das Gelage wird von jemandem anderen bezahlt, dann schlemmt er wie ein ausgehungerter Hugenotte. Der er im Übrigen auch ist.“

Melissa ließ nicht locker. „Jetzt schweif nicht ab. Wie weit bist du jetzt mit dem nächsten Buch?“

„So ziemlich mittig“, antwortete Landorff locker. „Ich erinnere mich nicht mehr an den Anfang, dafür liegt das Ende noch völlig im Dunkeln.“

„Sag mal, hast du nur getrunken oder auch etwas geraucht?“ Melissa kniff ihre Augen zusammen und betrachtete Landorff forschend. „Der Schwarze Afghane tut dir nicht gut.“ Dabei streckte sie ihre Hand aus, trat zwei Schritt zur Seite und drängte so unerbittlich eine übertrieben geschminkte Blonde Mitte fünfzig in trägerlosem Kleid und daher mit haltlosem Busen ins Mehlspeisen-Aus.

„Hast du überhaupt schon einen Verlag?“, setzte sie nach, ohne Landorffs Antwort abzuwarten. Der brummte Unverbindliches vor sich hin. „Ich möchte heute über gewisse Themen nicht reden“, raunte er ihr zu. „Schon gar nicht angesichts der kulinarischen Verlockungen, die vor mir liegen.“

„Heyiiii! Siiieeee!“, wagte es die Blonde, sich aufzuregen, während Melissas Ellenbogen sie eisern auf Distanz hielt.

„Sie werden es noch erwarten!“ Melissa musterte sie kühl von oben bis unten. „Oder stehen sie auf hormonverpestete Putenfilets auf Chemiesauce und über den Haufen geschossenes Rehkitz namens Bambi? Seien Sie froh, wenn ich Sie davor bewahre. Nehmen Sie lieber etwas von dem Schokopudding. Ist in Ihrem Alter viel leichter zu verdauen.“ Daraufhin griff sie ungerührt und vor allem ungestört weiter zu. „Also, nochmal – Verlag?“, schoss sie sich weiter auf Landorff ein, doch der schüttelte nur stumm den Kopf.

Vollkornspitz oder besser doch Weizenbrötchen?

„Und dein Agent? Schläft der nur oder wacht der auch mal auf?“, setzte sie nach. „Wovon lebt der eigentlich? Weil von deinen Honorar-Prozenten kann der kaum seine Parkuhr bezahlen.“

„Erstens, ja, üblicherweise hat er einen tiefen und festen Schlaf, und zweitens, von seiner reichen Frau.“

Also Vollkorn, man muss ja etwas für seinen Stoffwechsel tun.

„Wo ist hier übrigens die Toilette?“, fragte Landorff seine Begleitung unvermittelt.

„Wo das lauteste Stöhnen herkommt“, kam die prompte Antwort.

„Hä?“, machte Landorff und selbst die Blonde, inzwischen wieder mit normaler Gesichtsfarbe, schaute Melissa mit großen Augen und offenem Mund an und vergaß ihre Vorspeisen.

„Der einzige Platz, wo hier ungestört gevögelt werden kann“, erklärte Melissa ungerührt. „Winter hat vorsichtshalber das halbe obere Stockwerk gesperrt. Im letzten Jahr …“ Ihre Stimme versickerte, während sie einer alten Freundin, die zufällig am Buffet vorbeirauschte, Bussi-Bussi auf beide Wangen hauchte und ein bemühtes Lächeln hinterherschickte. „Im letzten Jahr hat er angeblich ein gebrauchtes Kondom in seinem Zahnputzglas gefunden.“

Der Weißblonden fiel klirrend die Gabel aus der Hand, während ihre Wangen wieder röter und ihre Ohren immer länger wurden.

„Von den getragenen Dessous, die überall herumlagen, und der Sauerei in der Badewanne ganz zu schweigen.“ Melissa schaute Landorff wissend an. „Von den seltsamen Flecken an den Fenstern will ich jetzt auch nicht reden. Also – plane voraus, die Toilette ist begehrt.“

„Irgendwie ist es mir gerade vergangen“, stellte Landorff fest. „Vergiss es. Kann sicher warten bis zu Hause.“

„Suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen zur Nahrungsaufnahme“, beschloss Melissa schließlich, balancierte geschickt Teller und Besteck und einen kleinen Salat, während sie sich suchend umschaute.

„Garten?“, schlug Landorff vor.

„Nichts da“, schüttelte Melissa energisch den Kopf. „Mücken-Brutstation, ein Teich grenzt ans Grundstück und ich möchte etwas essen, nicht auf dem Speiseplan der halben Insektenwelt stehen.“

„Punkt für dich“, musste er zugeben. „Wo bleibt denn deine sprichwörtliche Vorbereitung? Hast du diesmal kein Autan dabei?“

„Stinkt wie Iltis“, hakte Melissa diesen Punkt ab. „Odeur du malheur. Da kann ich mir gleich mein Douglas-Abonnement sparen. Nichts da, wir bleiben drin.“ Schon segelte sie davon wie ein Teeclipper auf Heimatkurs, umschiffte Milchbubi samt Anhang ohne einen Blick an den Juniormetzger zu verschwenden. Aber Landorff bemerkte, wie ihr Po mit einem Mal Samba tanzte, als sie sicher war, dass Zahlmann junior ihr nachblickte.

„Also, nochmal. Was ist mit deinem Agenten?“, stieß sie nach, als beide sich auf dem Sofa im makellos weißen Wohnzimmer – weiße Bodenfliesen, weiße Wandbespannung, weiße Möbel, weiße Leinwände, weißes Alles – ein Plätzchen erkämpft hatten.

„Was soll mit ihm sein? Er tut seit eineinhalb Jahren genau nichts“, brummte Landorff unwillig. Der Lachs schmeckte edel. Vielleicht ein bisschen zu viel Füllung in den Röllchen. Und ein Hauch zu wenig Dill. Landorff spürte, wie seine miese Laune aus den Tiefen des Ignorierens heraufstieg. „Ich hab schon mehr als vier Monate nichts von ihm gehört. Zuletzt schrieb er einen Ansichtskarte aus Marrakesch.“

„Tourt der mit Edathy durch Marokko? Arbeitet an dessen heißer Biografie?“, wollte Melissa gnadenlos wissen. „Wozu hast du den Typen eigentlich?“

„Gute Frage. Ich hab gerade den Vertrag gekündigt. Bringt sowieso nichts.“ Landorff attackierte den Rehrücken. Butterweich. Erschossenes Bambi hin oder her, dachte er genussvoll, Herr Salten, tut mir leid.

„Wie viele Bücher hast du bisher verkauft?“ Melissa war auf Krawall gebürstet und wie immer gnadenlos.

„Über 100.000 in fünf Jahren“, rechnete Landorff kurz nach. „Definitiv zu wenig für Verlage.“

„Zu wenig??“ Melissa schaute ihn ehrlich verblüfft an.

Landorff nickte stumm, während ein Pärchen an dem weißen Sofa vorbeizog. In einer Wolke von Parfum und wild gewordenen Hormonen. Sie, kaum volljährig und rollig wie eine Katze, trug ein Lederhalsband mit Hundeleine, ein enges schwarzes Top und einen Ledergürtel als Rock. Laut kichernd tänzelte sie wie eine Nachwuchs-Mata-Hari um einen glatzköpfigen Bodybuilder mit Hals-Tattoo, der grimmig und unbeeindruckt durch den Raum blickte und sich endlich in einen der herumstehenden weißen Lehnstühle fallen ließ. Als sie sich über ihn beugte, konnte jeder sehen, dass sie von Slips auf Partys nichts hielt.

Fifty shades of grey?“, fragte Landorff Melissa, die seinem Blick gefolgt war.

„Ach was, das Halsband kommt von Fressnapf und der Schlüpfer liegt sicher irgendwo im Obergeschoss“, lästerte sie.

„Ich dachte, das ist off-limits?“

„Das ist die einzige Tochter des Hausherrn, du Ignorant“, zischte sie zurück. „Shaneya Winter, achtzehn, dumm wie Stroh, gierig wie Paris Hilton, geil wie Lumpi und im Hauptberuf Tochter. Du kennst wirklich niemanden. Kein Wunder, dass sich deine Bücher nicht verkaufen.“

Landorff zuckte die Schultern und räumte konzentriert den Hirschen von seinem Teller. Die Preiselbeeren waren köstlich.

„Und jetzt?“ Melissa kaute mit vollen Backen wie ein Eichhörnchen im Nussrausch.

Landorff schaute sie fragend an, bevor er einen Blick in die Runde warf. Am Couchtisch zog sich inzwischen ein Typ mit eingefallenen Wangen mit einem Hunderter eine Linie rein und grinste die Welt danach dämlich an.

„Was heißt – und jetzt?“

„Naja, du hast keinen Agenten mehr“, erinnerte sie Landorff und verdrehte die Augen. „Niemanden, der in Verlagen den Fuß in die Tür stellt und den richtigen Leuten auf die Nerven geht, um deine Bücher unterzubringen.“

„In großen Verlagen gehen die Türen schon nicht mehr zu, weil sich die Massen da drängen, um ihren Fuß unterzubringen – und sei es in der Klotür.“ Landorff versuchte, den depressiven Unterton zu unterdrücken, doch es gelang ihm nicht.

„Naja, wenn der Verleger da gerade sein Geschäft verrichtet“, ätzte Melissa und putzte den letzten Rest Hirsch von ihrem Teller. „Andererseits … wenn er jung und nett ist.“ Sie bekam einen träumerischen Blick, den Landorff nur zu gut kannte. Eine Mischung aus „Wow, ich will dich!“ und „Wo, sagtest du nochmal, sind deine Ferrari-Schlüssel?“.

„Wenn er jung und nett ist, dann hat er in einem der üblichen Verlage nichts zu sagen, weil er dann nicht auf einem der entscheidenden Posten sitzt“, gab Landorff trocken zu bedenken und riss sie damit aus ihren Tagträumen. „Jung und nett ist bei Verlagen die Azubine der Assistentin der Presseabteilung. Achtzehn Jahre jung oder kurz drüber, süß und unverdorben und voller Tagträume. Sie darf noch keinen Kaffee machen, hat aber schon gelernt, die Bohnen und die Filter einzukaufen. Die sind so was von hilfsbereit und willig. Putzig geradezu. Mit steigendem Alter allerdings …“

„Hab schon begriffen“, winkte Melissa ab.

„Dazu kommt die immer kürzer werdende Latenzzeit“, setzte Landorff unerbittlich nach. „Wer länger als zwei Jahre in ein und demselben Verlag ist, der hat etwas zu verbergen, den Anschluss verpasst oder weiß, dass er – Verzeihung, sie – schwanger wird. Das alte Sprichwort ‚Man sieht sich im Leben immer zwei Mal‘ gilt nicht für die Verlagswelt. Da sieht man sich mindestens fünf Mal, wenn du es lange genug im Business aushältst. Wann immer du den Verlag wechselst, die üblichen Verdächtigen aus den Vorjahren, die dir damals die Nerven geraubt haben und dich knapp vor die Tür der Gummizelle gebracht haben, sind schon da. Sie sind aus der Schweiz nach Hamburg, nach München oder Berlin, nach Frankfurt oder Stuttgart gezogen, auf der Suche nach einem Bestseller oder einem Erfolgsautor, der sie endlich schwängert und somit aller Sorgen enthebt. Sie stehen in den Startlöchern, etwa als Leiterin einer Presseabteilung, die aus ganzen zwei Leuten besteht, und prahlen mit einer Visitenkarte, auf der ‚CEO Öffentlichkeitsarbeit‘ prangt. Wenn du jemals etwas brauchen solltest, dann sind sie gerade in einem Meeting oder auf dem Sprung nach Barcelona oder sie kennen dein Buch gar nicht. Haben es nie gelesen, sprechen aber gut davon. Doch Presse ist nicht alles. Da gibt es noch die Marketing-Fachfrau und die Lizenzhändlerin, die Sekretärin oder die Assistentin der Assistentin. Oder die geile Azubine …“

„Du sprichst immer nur von Frauen!“

„49 Frauen und ein Mann – der übliche Schnitt der Verlagspopulation“, gähnte Landorff und überlegte, einen Nachtisch anzudenken. „Und die meisten sind – oh wunderbarerweise – im gebärfähigen Alter. Also werden Presseabteilungen geschlossen schwanger“, resümierte er aus Erfahrung und musste schmunzeln. Von ein und demselben? Oder schwanger und deshalb geschlossen?

Egal.

„Jetzt übertreibst du aber“, Melissa sah ihn missbilligend an.

„Was weißt du schon?“, gab Landorff herausfordernd zurück. „Du mit deinen noblen Kunden aus Industrie und Hochfinanz. Die haben einen komplizierten Ausleseprozess hinter sich, Job-Interviews und Eignungstests, Prüfungen und Staatsexamen an Hochschulen, sauteuren Privatinstituten oder Universitäten, danach Praktika in internationalen Unternehmen. Die haben sich hochgearbeitet durch Bürofluchten und Elite-Seminare, haben ihre Ellenbogen eingesetzt und ihre Moral vergessen, Netzwerke an Universitäten und in Schweizer Internaten gesponnen, den richtigen Clubs angehört. Recherchiere doch mal den Background des gängigen Verlagspersonals! Über Annahme eines Manuskripts oder dessen Ende im Papierkorb entscheidet manchmal nur die Stimmung der Sekretärin des Verlegers.“

Melissa blickte nachdenklich der Tochter des Gastgebers hinterher, die sich anschickte, in den Pool zu springen.

Herrschaften, wie witzig, dachte Landorff. Es war an der Zeit, zu verschwinden. Jetzt rutschte das hier auf „Berlin Tag und Nacht“-Niveau ab. Der Orang-Utan mit dem Hals-Tattoo machte schon mal den Oberkörper frei und schaute in die Runde wie Schwarzenegger auf der Suche nach einer neuen Putzfrau, bevor er in Richtung Poolrand joggte.

„Ich mach das!“ Melissa klang mit einem Mal völlig entschlossen. „Ab jetzt mach ich das.“

„Was? Angezogen in den Pool springen? Dann kenn’ ich dich nicht mehr! Das haben wir schon in den späten 1970ern als reaktionär abgewählt.“

Aus den Augenwinkeln erkannte Landorff den Gastgeber, der im letzten Moment mit festem Griff seine Tochter am Oberarm packte und sie glücklicherweise an der Verschmutzung des gechlorten und kristallklaren Wassers hinderte. Winter Senior sah ganz und gar nicht erfreut aus und blickte sich suchend nach der männlichen Begleitung seines missratenen Nachwuchses um.

„Blödmann! Vergiss den Pool! Ich werde deine Agentin. Wäre doch gelacht!“

Landorff war plötzlich gar nicht mehr zum Lachen zumute. „Du? Aber du …“, stotterte er.

„… kannst das mindestens genauso gut wie andere, wolltest du sagen. Wenn nicht besser. Und nichts ‚aber‘!“, beschloss Melissa die Diskussion, die kaum erst begonnen hatte. „Ansichtskarten aus Marrakesch kann ich dir auch schreiben, wenn du willst sogar aus einem Bergnest in Slowenien oder einer chinesischen Provinzstadt. Wenn dich das inspiriert.“

„Es inspiriert mich nicht“, zischte Landorff bissig zurück und blitze sie an. „Du hast eine Werbeagentur, wenn ich dich daran erinnern darf, und keine Literaturagentur. Zwischen der Verpackung der lila Kuh und meinen Thrillern ist zumindest intellektuell gesehen noch ein kleiner Unterschied.“

„Sehe ich nicht so. Sei nicht kleinlich“, grinste Melissa, „außerdem – was hast du schon zu verlieren? Du hast keinen Agenten, keinen Verlag für dein nächstes Buch und hängst also zwischen allen Stühlen. Du kennst keine Prominenten, kannst in den letzten zehn Jahren keinen Skandal vorweisen und prügelst dich nicht auf den Titelseiten dieser Republik. Du bist unbekannt, uncool und uninteressant. In der Klatschpresse bist du so namenlos wie der Sekretär von Berlusconi“, fuhr Melissa gnadenlos fort, „oder hat der eine Sekretärin? Deine Bücher werden unglücklicherweise tatsächlich gelesen und nicht gesammelt oder zum puren Angeben in Regale gestopft. Man schätzt sie, bewertet sie mit 4 ¾ Sternen, weil sie sich an Menschen mit Hirn wenden. Schon verloren, Herr Autor. Was erwartest du eigentlich?“

Landorff verkniff sich eine Antwort. Eigentlich erwartete er nichts mehr. Er spürte die große Depression am Horizont seines Gefühlslebens heraufziehen.

„Also werden wir das jetzt mal professionell in die Hand nehmen.“ Melissa akzeptierte keinen Widerspruch. „Komm morgen um zehn in mein Büro in Schwabing. Das andere in der Innenstadt wird gerade renoviert. Bring deine letzten Bücher mit, einen Lebenslauf und ein paar Stunden Zeit.“

„Ich kann mir dich nicht leisten“, wagte Landorff einen Einwurf. „Ich bin weder die Commerzbank noch Lindt, Nestlé oder einer der asiatischen Elektronik-Riesen. Ich bin ein in Ehren verarmter Autor.“

„Weiß ich, weiß ich“, nickte Melissa, schob den Teller zur Seite und sprang auf. „Genau das wollen wir ja ändern.“ Sie rieb sich die Hände. „Winter war übrigens auch mein Kunde, bevor er in Geld ersoff wie Onkel Dagobert in seinem Speicher. Ach ja – und Heino steht nach wie vor auf meiner Kundeliste. Und das musst selbst du zugeben – der Trick mit dem Hardrock-Heino war genial.“

Landorff schaute Melissa mit offenem Mund an, während sie gewinnbringend lächelnd in Richtung des Hausherrn blickte, der mit wehendem Schal seine Tochter an der Hundeleine in Richtung Obergeschoss zerrte, während der Gorilla mit gerunzelter Stirn wortlos brav hinterhertrabte.

„Heino?“, gurgelte Landorff überrascht, „Heino? Der aus der Rentnerband? Der ist auch dein Kunde? Das mit dem blonden Leder-Grufti und den Hardrockern beim Wacken-Open-Air, das warst du?“

„Ja, und mach den Mund wieder zu, damit siehst du nicht besonders intelligent aus“, bemerkte Melissa wie nebenbei. „Mit dem Reichtum Winters und dessen Abgang ist jetzt ein Platz frei geworden und den wirst du einnehmen.“ Sie legte ihre Hand unter Landorffs Kinn. „Kopf hoch! Akzeptiere es als eine gute Tat meinerseits, das karitative Werk eines Mäzens, eine großzügige Spende an den Künstler in dir. Oder soll ich mich lieber um Zahlmann junior kümmern?“, kicherte sie wie ein Schulmädchen, rückte den BH zurecht und zog die Brauen hoch. „Ich verspreche dir, den stecke ich morgen nackt in eine Zwangsjacke, deponiere ihn am blauen Sofa, lass die olle Heidenreich auf ihn los und bringe seinen Nonsens auf die Spiegel-Bestsellerliste.“

Das gab den Ausschlag. „Ich bin morgen pünktlich bei dir“, grummelte Landorff und merkte zu spät, dass sie seine Antwort nicht abgewartet hatte, sondern bereits mit schwingenden Hüften den Pool umrundete, um sich charmant lächelnd bei einem grauhaarigen Paten mit später Marlon-Brando-Figur einzuhängen, den Landorff noch nie in seinem Leben gesehen hatte.

Das Tartarus-Projekt

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