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4. Die Konferenz

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Die Runde, die sich im kleinen Sitzungssaal der Agentur zusammengefunden hatte, war übersichtlich. Das obere Ende des spiegelblanken, endlos erscheinenden Besprechungstisches reichte für vier völlig aus. Landorff wollte nicht wissen, wie der große Sitzungssaal aussah. Wahrscheinlich hatte er Ähnlichkeit mit einem überdachten Minigolfplatz.

Die vier in der Runde waren Melissa, voller Tatendrang und aufgedreht wie ein Duracell-Häschen auf Speed, Petra die Lebenslauf-Fälscherin, die unentwegt etwas auf einen Notizblock kritzelte, wenn sie nicht gerade ihre E-Mails checkte oder hektisch SMS tippte, ein kleiner, magerer junger Mann mit scheuem Blick und rosa Schal, der ein Apple MacBook Air mit Hello Kitty-Aufklebern hypnotisierte, und Michael Landorff, der sich irgendwie deplatziert vorkam.

Während seine neue Agentin noch ein „letztes Gespräch“ am Telefon mit einem prominenten Konzertveranstalter führte, Petra mit spitzem Nagel wie ein Specht auf das Display ihres Smartphones hämmerte und der junge Mann, der sich mit „Karim, angenehm“ vorgestellt hatte und danach vor seinem Laptop langsam in eine Art verzückter Trance geraten war, schaute Landorff aus dem Fenster. Hinter den Baumwipfeln grüßte der Chinesische Turm herüber. An seinem Fuß wartete der bekanntlich zweitgrößte Biergarten Münchens auf Gäste und Landorff wäre lieber dort gesessen, vor einer kühlen Maß und ein paar Nürnberger Bratwürsten.

Während Melissa begeistert etwas von einer „ausverkauften Waldbühne“ tirilierte und von einer „Tournee durch Österreich und die Schweiz“ schwärmte, überlegte er, ob sie gerade Heino samt Roadies, Bühne, Ledermantel und Sonnenbrillenkollektion an den Meistbietenden versteigerte.

Petra, die auch als Mittelseiten-Puzzle von Bravo die Träume pubertierender Pickelbekämpfer anheizen könnte, schlug gedankenverloren ihre Beine übereinander und brachte Landorff damit etwas aus dem Konzept. „Na gut, vielleicht bleibe ich ja noch ein bisschen“, dachte er im Stillen, der Biergarten wartet sicher noch.

Karim, der in seinen Apple hineinzukriechen schien, war geistig völlig weggetreten und starrte fasziniert auf den Schirm. Landorff wartete jeden Moment darauf, dass er zu sabbern begann. Waren Pornoseiten hier im Firmennetzwerk freigeschaltet? Als eine Art besondere Motivation für die Mitarbeiter? Neugierig stand Landorff auf, schlenderte zur Fensterfront und blickte alibihalber kurz hinaus auf die Wipfel der Bäume. Dann drehte er sich um, warf einen Blick auf das Apple-Display und sah – ganz normale Zeilen auf weißem Hintergrund.

Karim war am Lesen!

In Gedanken entschuldigte er sich bei ihm für seine schmutzige Fantasie und versuchte gleichzeitig, ihm unauffällig über die Schulter zu schauen. Den Text kenne ich doch, dachte er sich.

Karim liest meinen neuesten Thriller!

Landorff unterdrückte im letzten Moment die Regung, Karim um den Hals zu fallen. Angesichts des rosa Schals vielleicht doch keine so gute Idee, könnte falsch verstanden werden, war aber trotzdem herzerwärmend, dachte er ehrlich gerührt.

Melissa legte mit triumphierendem Blick ihr Smartphone auf den Tisch zurück und rieb sich die Hände. „So, Tournee und Pressetermine sind eingetütet“, freute sie sich. „Wo waren wir stehen geblieben?“

„Wir wollten gerade beginnen, die richtige Strategie für Monsieur de Gilles auszuarbeiten“, kam Petra ihr zu Hilfe und schickte stirnrunzelnd eine letzte SMS auf die Reise.

„Richtig, wir brauchen eine Strategie, die alle vom Hocker haut und unseren geheimnisvollen Franzosen aus der Auvergne zum Tagesgespräch macht“, nickte Melissa, schlug ihre Mappe auf und raschelte mit den Unterlagen. „Den Punkt Bekleidung können wir abhaken, das haben wir bereits erledigt.“ Sie blickte Landorff forschend an. „Ab morgen hältst du dich an die Kleiderordnung, ich sorge für die Fotografen, die deinen Weg säumen. Karim?“

Landorffs Fan war so in die Zeilen vertieft, dass er offenbar den Ruf zur Ordnung überhört hatte.

„Punkt für mich“, murmelte Landorff überlegen und Melissa sah ihn fragend an.

Mit einem „Bin schon wieder da!“ tauchte in diesem Moment Karim hinter dem Schirm auf und lächelte schüchtern. „Sorry, aber das Buch ist richtig gut …“

„Du liest Landorff?“, erkundigte sich Petra interessiert mit hochgezogenen Augenbrauen, während sie sich mit ihren Ellenbogen auf die Tischplatte aufstützte und den Autor anstrahlte.

„Muss ja wissen, was Sache ist“, kommentierte Karim trocken und lächelte Melissa schüchtern an. „Ich habe ihn schon mal am Freitag bei dem Irischen Abend im ‚Shamrock‘ auf die Gästeliste setzen lassen.“

„Ich hasse Ale und ähnliche Gesöffe“, versuchte Landorff einen Einwand, den Melissa mit „Aber der Bürgermeister ist ebenfalls da und darauf kommt es an“ abschmetterte. „Wir schicken dich schon zu keiner Hinterwäldler-Veranstaltung, wenn es nicht der Sache dient. Wenn auf deinem Terminplan also die Krönung der Saumagen-Prinzessin oder die Wahl des besten Rock ’n’ Roll-Tänzers aus Papenburg aufscheint, vertrau mir einfach.“

„Genau das fällt mir schwer“, murmelte Landorff und verzog das Gesicht in kaum unterdrückter Vorfreude auf irische Volkstänze, warmes Bier und gegrillte Hammelhoden.

„Dein Händedruck mit dem Bürgermeister wird es deshalb auf alle Society-Seiten schaffen, weil sonst nichts und niemand da ist, der dir Konkurrenz machen kann“, seufzte Melissa und ihr belehrender Tonfall raubte Landorff die letzten Nerven. „Du stehst auf der untersten Stufe der Bekanntheitsleiter. Wir können dich nicht gegen Uschi Glas oder Udo Lindenberg antreten lassen. Aber der irische Abend ist ein guter Einstieg.“

„Weil kein Promi da ist“, räsonierte Landorff lakonisch.

„Weil der Bürgermeister da ist, neben einigen betrunkenen Iren, die Volkslieder schmettern, Unmengen von Bier in sich hineinschütten werden und nichts für die Klatschpresse hergeben“, fuhr Melissa unbewegt fort. „Aber der geheimnisvolle französische Schriftsteller, der im Sinne der Völkerverständigung auch irischen Festen einen Besuch abstattet und geheimnisvolle Andeutungen zu seinem neuen, sensationellen Buch macht …“ Melissa ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen.

„Ach ja?“, wunderte sich Landorff unverhohlen. „Hat mein neues, sensationelles Buch etwas mit Irland zu tun?“

Mit einer großzügigen Geste wischte Melissa die Frage vom Tisch. „Der Bürgermeister wird hoch erfreut sein, mit einem gebildeten und belesenen Literaten zu plaudern. Weiche ihm einfach nicht von der Seite, Wayne wird da sein und im entscheidenden Moment auf den Auslöser drücken. Flüstere dem Bürgermeister etwas ins Ohr, lächle verschwörerisch oder lege ihm die Hand auf die Schulter, das kommt immer gut an.“

„Und was, bitteschön“, seufzte Landorff ratlos, „was soll ich ihm ins Ohr flüstern? Ich kenne diesen Dieter Reiter nicht. Und Rot wähle ich schon gar nicht.“

„Wen genau interessiert das?“, schnappte Melissa kalt zurück. „Politik ist etwas für Kleingeister. Erzähl ihm einen schmutzigen Witz oder frage ihn, wo die Herrentoilette ist. Völlig egal. Wayne braucht ein Foto. Dann kannst du verschwinden und die Iren Iren sein lassen. Und trink nicht wieder so viel Whisky …“

„Karim hat Ihnen einen Google-Kalender eingerichtet, auf den wir Zugriff haben“, griff Petra den roten Faden auf. „Wir tragen alle Termine ein, die wichtigsten Daten übermitteln wir Ihnen gesondert. Hier ist meine private Telefonnummer, rufen Sie mich an, wenn Sie dazu Fragen haben.“ Sie schob ihre Visitenkarte über den Tisch.

„Am besten, du schaust jeden Abend in den Kalender und gehst die Termine für den kommenden Tag durch“, meinte Melissa spitz. „Lesungen gibt es bis auf Weiteres keine, du hast ja nichts zu lesen …“

Landorff war knapp dran, einen empörten Zwischenruf loszuwerden, aber dann bremste er sich ein. Naja, Michel de Gilles hatte in der Tat noch nichts anzubieten, zumindest nicht auf Deutsch.

„Die ersten Talkshows habe ich auch schon angedacht“, warf Karim ein, „wenn nicht gerade Terroralarm herrscht, die mittelamerikanischen Flüchtlinge einen Grenzzaun eintreten, die Balkanroute zur Autobahn ausgebaut wird oder irgendein Promi seine Frau geohrfeigt hat, dann bekommen wir Sie aufs Sofa bei der Maischberger oder der Will.“

„Ich habe auch mit Wieland Backes gesprochen“, legte Petra nach. „Sie kennen sicher die Sendung ‚Ich trage einen großen Namen‘. Ist zwar Vorabendprogramm, aber …“ Sie verstummte etwas verunsichert.

„Ich trage aber keinen großen Namen, den hast du dir vor einigen Stunden aus den Fingern gesogen“, erinnerte Landorff Melissa.

„Jetzt sei nicht kleinlich, das ist der Mädchenname deiner Mutter, den du nach dem frühen und schmerzlichen Tod deines Vaters angenommen hast“, korrigierte ihn Melissa unerbittlich. „Beide waren übrigens in der Résistance. Seither wirst du nicht mehr immer auf deinen berühmten Namen angesprochen.“

„Hat mich Napoleon irgendwann adoptiert?“, ätzte Landorff kopfschüttelnd.

„Das war jetzt nicht sehr kooperativ“, gab seine Agentin kühl zurück. „Du sollst der Presse geben, was sie verlangt, aber sie nicht verscheißern. Karim?“

„Ich habe ein wenig recherchiert, vor allem die Familiengeschichten von französischen Literaten und Malern, Dichtern und Großindustriellen, das kommt immer am besten“, zählte Karim auf und tippte mit verblüffender Schnelligkeit auf der Tastatur des Laptops. „Am besten geeignet ist Émile Zola, der berühmte Schriftsteller. Er hatte mehrere Verhältnisse, unter anderem mit Straßenmädchen, war verheiratet, starb unter ungeklärten Umständen.“ Er blickte begeistert auf und strahlte mich an. „Émile Zola war ihr Urgroßvater.“

Landorff war diesmal ehrlich verblüfft und starrte Karim entgeistert an. „Dass ich darauf nicht schon früher gekommen bin! Und was antworte ich auf die berühmte Frage: ‚Glauben Sie, Ihrem Vorfahren ähnlich zu sehen?‘“

„Da wird dir schon etwas einfallen“, mischte sich Melissa ein. „Schau dir Fotos von Zola an und entscheide selbst. Du siehst ihm gar nicht so unähnlich … Wir müssen nur die Frisur etwas ändern.“

Bevor Landorff darauf geistreich antworten konnte, klopfte es an der Tür und das Mädchen vom Empfang schlüpfte in den Sitzungssaal, beugte sich zu Melissa und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die runzelte die Stirn und nickte. Dann sagte sie laut: „Petra und Karim, ihr könnt kurz eine Pause machen. Ich rufe euch später.“

Kaum hatten die beiden den Raum verlassen, schob sich ein Preisringer in einem knapp sitzenden Anzug durch die Tür, musterte kurz den Saal, die Aussicht und Landorff, bevor er sich neben Melissa aufbaute und einen Ausweis auf den Tisch legte.

„Frau Melissa Warttemberg? Mein Name ist Kroning, Kommissar Kroning. Danke, dass Sie gleich Zeit für mich gefunden haben. Ich untersuche einen Todesfall, zu dem sie mir vielleicht etwas mehr sagen könnten.“ Neugierig blickte er erneut zu Landorff. „Sie waren doch gestern auf der Party von Gregory Winter?“

Melissa nickte gedankenverloren und musterte Kroning von Kopf bis Fuß.

„Sollten wir vielleicht in Ihr Büro gehen?“, meinte der, doch Melissa winkte ab. „Herr Landorff war ebenfalls als Gast bei der Party, also können wir genauso gut hier reden.“

Party? Todesfall? Landorff war etwas verwirrt.

„Ahh, das trifft sich gut“, freute sich Kommissar Kroning und nickte ihm mit einem dünnen Lächeln zu. „Können Sie mir Ihre Eindrücke schildern, damit ich …?“

„Wer ist der Tote?“, unterbrach Landorff ihn. „Sie haben vorhin etwas von einem Todesfall gesagt, und da Sie hier sind, ist es wohl kein natürlicher. Also – wer?“

„Der Gastgeber“, antwortete Kroning einsilbig.

„Gregory Winter?“, fragte Landorff ungläubig und schob den Ausweis des Kommissars mit spitzen Fingern von sich. „Als ich gegangen bin, da war er noch munter und lustig und cool drauf.“

„Wann war das ungefähr?“, wollte Kroning wissen.

„Das kann ich Ihnen, was mich betrifft, ganz genau sagen“, erwiderte Melissa geschockt. „Ich wollte nach einem kurzen Gespräch mit dem Innensenator über die bevorstehende Imagekampagne Münchens so schnell wie möglich verschwinden. Als ich meinen Mantel aus der improvisierten Garderobe im Obergeschoss geholt habe, stand plötzlich Gregory vor mir und bot mir an, mich nach Hause zu bringen. Da war es knapp vor Mitternacht, die Party noch in vollem Gang, aber ich hatte den Eindruck, Gregory brauchte ein paar Minuten Ruhe vom allgemeinen Trubel.“

„Und, hat er Sie nach Hause gebracht?“ Kommissar Kroning zog einen Notizblock hervor. Fehlt nur noch ein Bleistift, den er anleckt, bevor er zu schreiben beginnt, dachte Landorff.

Melissa nickte. „Sein Bentley parkte in der Einfahrt und wir standen kaum zehn Minuten später vor meiner Tür. Nach einem kurzen Abschied fuhr Gregory wieder los. Er erzählte mir noch, dass er in den nächsten Tagen nach Indien fliegen wollte. Das war alles.“

„Wollte er noch jemanden besuchen oder direkt wieder zurück zur Party?“, erkundigte sich Kroning.

„Keine Ahnung“, meinte Melissa ratlos und fixierte Landorff. „Hast du ihn danach nochmal gesehen? Wie lange warst du eigentlich auf der Party?“

„Offenbar länger als du“, gab Landorff zu, „ich wusste nicht, dass du schon vor Mitternacht das Feld geräumt hast. Da habe ich noch im Obergeschoss nach einer freien Toilette gesucht.“

Der Kommissar betrachtete Landorff wie ein aufgespießtes Insekt. „Woher wissen Sie das so genau?“

„Weil irgendeine Uhr im oberen Stock zwölf Mal geschlagen hat, so ein altmodischer Westminster-Gong“, erinnerte sich Landorff. „Das übertönte sogar das laute Stöhnen, das aus dem Bad kam. Die waren zu viert da drin …“

In Kronings Augen leuchtete Interesse auf.

„Wieso ich das weiß?“, kommt ihm Landorff zuvor. „Weil ich auf meinem Rückweg von der Kindertoilette wieder am Bad vorbeigekommen bin und die Akteure gerade die geflieste Bühne verließen. Drei halb nackte Mädchen und ein etwas zerfleddert aussehender junger Mann ohne Hosen.“ Er sah Melissa in die Augen. „Zahlmann.“

„Schau an …“, murmelte sie verwundert. „Vielleicht sollte ich den Junior doch unter Vertrag nehmen …“

„Wie lange sind Sie noch auf der Party geblieben? Haben Sie Winter noch gesehen, bevor Sie gegangen sind?“

„Es wird so gegen drei Uhr morgens gewesen sein“, kramte Landorff in seinen etwas verschwommenen Erinnerungen. „Die Talisker-Storm-Flasche war leer und die Reihen der Wissenschaftler hatten sich auch bereits weitgehend gelichtet. Denen waren wahrscheinlich die Krankheiten ausgegangen. Also brach ich ebenfalls auf. Teilte mir das Taxi mit jemandem, der in die gleiche Richtung fuhr; keine Ahnung, wer das war. Winter verabschiedete mich nicht, der hatte alle Hände voll zu tun und versuchte zwei Mädchen in Unterwäsche davon abzuhalten, in den Pool zu springen. Er hielt eines von ihnen am Slip fest, doch der gab nach und das Letzte, was ich hörte, war ein lautes Platschen. Dann saß ich auch schon im Taxi.“

„Und da war es gegen drei Uhr morgens?“, fragte Kroning zur Sicherheit nach und Landorff nickte stumm. „War die Party da noch gut besucht? Wir haben die Einladungsliste gefunden, da standen knapp 200 Namen drauf.“

„Und da sind Sie heute am frühen Nachmittag schon hier bei Melissa?“, fragte Landorff verwundert.

„Zur Abwechslung haben wir das Alphabet von hinten aufgerollt – Warttemberg“, erklärte Kroning mit einem dünnen Lächeln. „Bis wir alle Gäste befragt haben, wird sicher eine ganze Woche vergangen sein. Aber zurück zu meiner Frage …“

„Nun, ich habe keine Runde durch das Anwesen gedreht, bevor ich nach Hause losgezogen bin, aber vierzig bis fünfzig Gäste werden sicher noch dagewesen sein“, schätzte Landorff rückblickend.

„Haben Sie jemanden gesehen, den Sie kannten?“, stocherte der Kommissar weiter.

„Das können Sie vergessen“, fiel ihm Melissa süffisant ins Wort. „Herr Landorff kannte mich und das war alles. Er kannte nicht einmal den Gastgeber. Wenn neben ihm die Königin von England am Buffet stehen würde, dann würde er wohl, darüber grübelnd, wo er diese Frau schon Mal gesehen hat, ungerührt das letzte Stück Braten vor ihrer Nase von der Platte nehmen und es auf seinen Teller hieven.“

Landorff warf Melissa einen zornigen Blick zu. „Vom jungen Zahlmann habe ich Ihnen bereits berichtet, Winter war am Pool und alle anderen waren über das Grundstück verteilt oder lagen irgendwo im Haus herum. Aber mit Zahlmann müssten Sie ja als einem der Ersten gesprochen haben …“

„Mit Zahlmann senior“, korrigierte Kroning, „der junge Zahlmann ist noch nicht nach Hause gekommen …“ Schwang da ein anerkennender Unterton in der Stimme des Kommissars mit?

„Wie ist Winter gestorben?“, wollte Landorff wissen.

„Kein schöner Tod.“ Der Kommissar drehte den Kugelschreiber zwischen seinen Fingern. „Es hat ihn jemand mit Benzin übergossen und dann angezündet.“

Die plötzliche Stille im Raum kroch in jede Ecke und schien immer dichter zu werden, wie kalter Nebel. Aus dem Vorraum drang Lachen durch die angelehnte Tür.

„Aber … wieso … Dann war er wohl vorher bewusstlos?“, Melissa dachte laut nach. „Wieso sollte er sonst stillhalten?“

„Nein, war er offenbar nicht“, gab Kroning zurück, schob seinen Sessel zurück an die Wand und erhob sich. „Der oder die Täter haben ihn an einen Heizkörper gefesselt und dann einen oder mehrere Benzinkanister als Brandbeschleuniger über ihm ausgeleert.“ Damit zog er eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie vor Melissa auf die Tischplatte. „Rufen Sie mich bitte an, sollte Ihnen noch irgendetwas einfallen, das uns weiterbringen kann. Und danke für Ihre Mithilfe. Vielleicht melde ich mich ja nochmal.“

Mit großen Schritten verschwand er durch die Glastür, die lautlos nachschwang. Landorff hatte Bilder im Kopf, hässliche Bilder, die sich nicht beiseiteschieben lassen wollten. Bilder von einem verkohlten Körper, gefesselt an eine Zentralheizung.

Melissa starrte gedankenverloren auf ihre Hände mit den manikürten, rot lackierten Nägeln. Sie weinte fast unhörbar, ihre Tränen fielen auf das polierte Holz.

„Du hast ihn gut gekannt?“, erkundigte sich Landorff leise.

Sie nickte nur und schniefte. Draußen vor dem Fenster, über den Kronen der Bäume, konnte Landorff Mauersegler ihre Kreise ziehen sehen. In Gedanken ging er nochmals die Gäste der Party durch, die Jungen und die Schönen, die Reichen und die Einflussreichen, die Adabeis und die Geier, die unaufhaltsam kreisten, um vom neuen Reichtum Winters vielleicht doch noch einen kleinen Teil abzubekommen.

Aufgefallen war ihm niemand, der irgendwie aus der Rolle fiel.

Es war die übliche Mischung aus Anzugträgern und Künstlern gewesen, ergänzt durch die Sektion „jung und erfolglos“, abgerundet durch die Abteilung „grauhaarig und arriviert“. Keine dunklen Mafia-Jungs, keine zwielichtigen Vögel, keine „voll krass“-Typen. Außer vielleicht der Gorilla … Sonst die eingeborene Münchner Schickeria, die sich morgen wahrscheinlich bei einem Stehempfang bei Dallmayr wieder traf.

In alter Frische.

Bussi, Bussi.

Nur diesmal ohne Gregory Winter, den jemand an die Heizung gefesselt und abgefackelt hatte.

„Ja, ich hab ihn gut gekannt“, murmelte sie und zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. „Er war nicht nur ein Kunde, sondern auch ein Freund, ein netter Kerl …“ Sie suchte nach Worten. „Es gibt Kunden und Kunden. Solche, die man des Rufs oder des Geldes wegen nimmt, und solche, wo die Chemie stimmt und man fast schon ein schlechtes Gewissen hat, wenn man eine Rechnung schreibt.“

„Und Winter gehörte zur zweiten Kategorie, so wie ich“, schloss Landorff messerscharf und trat ans Fenster. Die Mauersegler waren weitergezogen, auf der Suche nach Insekten in der Stadtthermik an einer anderen Häuserecke.

„Er war mehr als acht Jahre mein Kunde“, erinnerte sich Melissa, „und etwa die Hälfte davon auch mein Freund.“ Sie knetete das Taschentuch in ihren Händen. „Nichts Intimes, wir haben uns einfach gut verstanden, besuchten uns auch außerhalb der Geschäftsbesprechungen, gingen gemeinsam ins Theater oder Konzert, essen oder einfach nur einen Kaffee trinken. Nach der Scheidung von seiner Frau vor fünf Jahren gab es keine Frau mehr in seinem Leben. Zumindest kenne ich keine.“

„Da war noch seine Tochter“, erinnerte sie Landorff.

Melissa zog eine Grimasse. „Ein verzogenes Gör, spitz wie Lumpi und ein Quell andauernder Freude für ihren Vater.“ Ihr Gesichtsausdruck und ihr Tonfall straften ihre Worte Lügen.

„Sagen wir mal so – ihr wart keine Freundinnen.“ Mit Schadenfreude schaute Landorff einem Typen auf der Straße zu, der vergeblich versuchte, seinen Porsche in eine riesige Parklücke zu bugsieren.

„Ich denke, Shaneya hat keine Freundinnen“, bemerkte Melissa trocken. „Die könnten ihr unter Umständen die Männer streitig machen.“

„Was? Die junge Winter heißt tatsächlich Shaneya?“, wunderte sich Landorff. „Ich dachte immer, das gibt’s nur im Film oder in Proll-Familien.“

„Eine Idee von Winters Frau, er wollte die Tochter ja Maria nennen, nach seiner Mutter.“ Melissa schnäuzte sich lautstark.

„Aber sie setzte sich am Ende durch“, lächelte Landorff. „Armes Kind irgendwie …“

„Das kleine Luder ist kein armes Kind“, erinnerte ihn Melissa mit bösartigem Unterton. „Ab heute schon gar nicht mehr. Wenn ich das Vermögen Winters richtig einschätze, dann wird sich Shaneya nie in ihrem Leben die Hände schmutzig machen müssen. Um etwa so prosaische Dinge zu tun wie zu arbeiten. Dafür kann sie dann ohne Unterbrechung ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen …“

Landorff winkte rasch ab. „Keine Details, bitte. Ich finde schon Paris Hilton nur mehr peinlich. Oder den deutschen Abklatsch …“

„Gegen die junge Winter-Schlampe ist Paris Hilton eine zurückhaltende, geradezu enthaltsam lebende Frau“, giftete Melissa und vergaß für einen Moment ihre Trauer. „Gregory hat mir immer wieder erzählt, was für Typen er stets aufs Neue aus ihrem Bett gezerrt hat. Da war sie noch nicht mal 17 …“

Im Stillen gratulierte Landorff sich zu der Tatsache, dass er keine Kinder hatte. „Wir sollten sie an den jungen Zahlmann verkuppeln“, regte er an.

„Das können wir ihm nicht antun“, gab Melissa entschieden zurück und grinste schon wieder ein bisschen.

„Dann denkt er zumindest nicht mehr daran, ein Buch zu schreiben, weil er viel zu schwach dazu ist.“ Der Gedanke daran, wie sich ein erschöpfter Zahlmann stöhnend an der Schreibtischkannte hochzieht, seinen Laptop und das ungeschriebene Buch vor Augen, bevor er von einer weiblichen Hand mit langen, schwarz lackierten Fingernägeln erbarmungslos von hinten gepackt und wieder ins Bett gezerrt wird, tröstete Landorff über vieles hinweg.

„Sag mal …“ Der nachdenkliche Ton in Melissas Stimme ließ ihn hochblicken. „Du bist doch auch Journalist …“

„Seit ich 20 war“, nickte er. „Der Autor gesellte sich erst viel später dazu.“

„Aber die beiden könnten sich zusammentun für ein Buch über den Winter-Mord – der eine recherchiert, der andere schreibt.“ Sie tippte sich mit ihrem silbernen Montegrappa-Füller an ihre Lippen. „Wir müssen nur schnell sein. Ich finde einen Verlag, der mit dem Buch blitzartig in Druck gehen kann, wenn du damit fertig bist. Und bis dahin schüren wir das Feuer der Erwartung unbarmherzig. Wir geben der Presse immer wieder kleine Happen zu fressen. Der geheimnisvolle Franzose, Urenkel von Émile Zola, löst einen grausamen Mord noch vor der Polizei.“

Landorff schaute sie verständnislos an. „Vor der Polizei? Ich heiße nicht Sherlock Holmes oder Hercule Poirot. Und der verkleidete Ringer von der Mordkommission hat auch nicht gerade den Eindruck völliger Unfähigkeit hinterlassen.“

Doch bevor Landorff weitersprechen konnte, rief Melissa auch schon laut „Petraaa! Kariiiim!“ und alles war zu spät.

Das Tartarus-Projekt

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