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2. Die Agentur

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Es gibt Häuser, die man gerne selbst hätte, dachte Landorff und blickte an der Fassade hoch. Dann gibt es solche, die bleiben für immer Traumhäuser und man weiß es. Weil sie einfach eine Nummer zu groß, einen Tick zu weit weg oder schlicht und einfach bereits seit Generationen in ein und derselben Hand sind. Und schließlich sind da noch Häuser, die man mit offenem Mund bestaunt, völlig hin und weg ist, aber die man nicht haben will, weil die monatlichen Nebenkosten jenen Kleinkredit verschlingen, den man sowieso nicht bekommt.

In einem Palast der letzten Kategorie lag das Büro von Melissa Warttemberg. Die Mischung von alter Bausubstanz mit Glas, Edelstahl und Sichtbeton trug die Handschrift eines prominenten Architekten, der sonst nur Regierungsgebäude oder Nobelhotels konzipierte, aber eine Ausnahme machte, wenn man ihn persönlich kannte, auf Knien die Stufen zu seinem Büro hochrutschte und dabei noch das nötige Großgeld vor sich her schob.

Das Penthouse mit Blick auf halb Schwabing, inklusive des Englischen Gartens als grünem Fußabstreifer, wurde wohl als Perle in der silbernen Auster konzipiert. Als Landorff aus dem Fahrstuhl ausstieg und vor dem atemberaubenden Ausblick durch die Panoramascheiben stand, hatte er das Gefühl zu schweben und ihm fehlten die Worte. Vor allem, als sein Blick auf den ausladenden Empfang fiel, wo zwei ehemalige Miss-World-Kandidatinnen um die Wette lächelten – gleich neben einer lebensgroßen Pappmascheefigur von Heino, die schwarz behandschuhte Faust mit dem Mikrofon angriffslustig vorgestreckt.

„Guten Morgen“, flötet eine der beiden. „Sie werden erwartet?“

Landorff nickte und bemerkte den Restalkohol, der seinen Kopf schwer machte und träge in meinem Gehirn hin und her zu schwappen schien.

„Ich komme zu Melissa … ich meine Frau Warttemberg. Wir haben einen Termin um zehn.“

„Ooh, dann haben Sie ja noch ein wenig Zeit“, hauchte die Grazie nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. „Möchten Sie inzwischen einen Kaffee?“ Sie wies auf eine riesige Ledergarnitur, die für ein Sit-in gereicht hätte.

„Schwarz, stark, heiß und groß“, regte Landorff an, worauf ihn die Empfangsdame anstrahlte und begeistert nickte. „Kommt sofort!“

Wer allerdings tatsächlich sofort kam, war Melissa, in schickem Business-Kostüm und trendigem tibetanischen Schal. Wahrscheinlich ein Geschenk des Dalai Lama und signiert, vermutete Landorff insgeheim.

„Du bist ja schon da!“, wunderte sie sich, betrachtete misstrauisch die große Sporttasche in Landorffs Hand und schob ihn unzeremoniell durch die Glastür in Richtung Allerheiligstes. „Immer geradeaus. Bist du noch lange auf der Party geblieben?“

„Nur bis die beste Whisky-Flasche leer war“, meinte Landorff und verzog das Gesicht. Die Kopfschmerzen setzten ein. „Bin im Garten zu einer Runde von Wissenschaftlern gestoßen, die sich über irgendwelche unbekannten Krankheiten unterhalten haben. Meist auf Latein. Hat mich aber nicht gestört, da trinkt es sich ruhiger. Und du?“

„Ich bin nach einem interessanten Gespräch mit dem Innensenator so schnell wie möglich verschwunden. Wusstest du, dass die Stadt eine Imagekampagne plant?“ Melissas Lachen war ansteckend. „Wir haben noch schnell ein Brainstorming vereinbart, bevor Winter mich nach Hause gebracht hat. Ich denke, der ganze Auftrieb ging ihm auf die Nerven und er nahm einen Kurzurlaub von seiner eigenen Party.“

„Hatte er da sein Töchterchen schon wieder unter Kontrolle?“

„Ich vermute, er hat sie eingesperrt, den Schlüssel weggeworfen und den Gorilla in den Zoo zurückgeschickt“, lachte Melissa und mit einem Blick auf meine Sporttasche: „Gehst du nachher zum Training?“ Sie stieß die Tür zu ihrem Büro auf, das die Ausmaße einer Junggesellenwohnung hatte.

„Nichts liegt mir ferner“, brummte Landorff und ließ die Sporttasche auf den ovalen Sitzungstisch fallen. „Ich halte es mit Winston Churchill: Sport ist Mord. Lass dich nicht von der Verpackung täuschen. Du wolltest meine Bücher, nun, hier sind sie. Außerdem der Lebenslauf, ein Interview, Zeitungsausschnitte, alles wie gewünscht.“

Ein wenig stolz holte er die Schmöker aus der Tasche und baute einen Stapel von 4600 Seiten auf.

„Soll ich das alles lesen?“, fragte Melissa verwundert und wog das oberste Werk in ihrer Hand. „Fast ein Kilo Papier für …“ – sie ließ die letzten Blätter durch ihre Finger gleiten – „… 804 Seiten. Das muss alles kürzer werden.“

Der Thriller knallte zurück auf die Tischplatte.

„Wer hat heute noch so viel Zeit? Zwischen Blog und Twitter, Facebook und Xing, SMS, Kik, YouTube und Google News soll ich noch 804 Seiten lesen? Vom Fernsehen ganz zu schweigen …“

„Sag mal, musst du mir jeden Tag eine Depression stricken?“, ärgerte sich Landorff und legte auch noch die drei Taschenbücher auf den Stapel. Fast ein Laufmeter Geschichten, dachte er, viel Arbeit in den letzten neun Jahren.

„Beängstigend“, meinte Melissa kopfschüttelnd. „Da liegt noch viel Arbeit vor uns.“

Der Kaffee wurde serviert und die Empfangsdame stellte unaufgefordert eine Kanne Früchtetee daneben, dann noch Plätzchen und einige Sandwiches.

„Wie meinst du das?“, erkundigte sich Landorff, während er andächtig das tiefschwarze köstliche Gebräu schlürfte.

„Literatur muss heute leicht konsumierbar sein“, begann Melissa, „egal, was es ist oder worum es sich dreht. Kurz, prägnant, klipp und klar, einprägsam. Ideale Seitenanzahl 180 bis 220, in U-Bahn-fähige Abschnitte eingeteilt.“

„Häh?“

„Fünf Stationen à drei Minuten ergibt maximal eine Viertelstunde“, erklärte Melissa geduldig. „Länger fahren nur Pendler. Und die spielen meist auf ihrem Handy und lesen keine Schinken, schon gar nicht so schwere Hardcover. Wie soll man die überhaupt transportieren? Handtaschen sind groß, aber bereits überfüllt mit allem, was frau so tagsüber braucht. Inklusive kleiner Zwischenmahlzeiten. Und Männer schauen sowieso eher Bilder an. Wenn die wirklich lesen, dann muss es um spärlich bekleidete Frauen, schnelle Autos oder Hardcore-Grillen, Fußball und eiskaltes Bier gehen. In dieser Reihenfolge. Oder?“ Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch und sah Landorff fragend an.

„Was in deinen Büchern ja wohl nur am Rand der Fall ist“, schloss sie messerscharf.

„Ja, aber meine Geschichten sind nun mal lang und können nicht auf ein paar Seiten erzählt werden“, wagte Landorff einen Einwurf.

„Papperlapapp, jede gute Geschichte kann in einem Satz zusammengefasst werden.“ Melissa schnupperte an den Sandwiches. „Außerdem kommt es sowieso nicht darauf an, was genau zwischen den beiden Buchdeckeln steht, sondern darauf, wie gut man es verkauft. Es ist ein Spiel mit einfachen Regeln. Hier gewinnt der, der am meisten Bücher unters Volk gebracht hat. Und nicht der, der mit fliegenden Druckfahnen intellektuell gut aussehend untergeht.“

„Du meinst, egal was für ein Blödsinn, Hauptsache die Werbekampagne stimmt?“ Landorff war knapp davor, seine Bücher wieder in der Sporttasche zu verpacken und gebückt nach Hause zu schleichen.

„Soll ich dir Beispiele nennen oder kommst du selbst drauf? Jeden Tag erscheinen Machwerke, die die Welt nicht braucht, die aber trotzdem in sechsstelligen Auflagezahlen verkauft werden.“ Mit spitzen Fingern deutete Melissa auf den Bücherturm. „Dein Ansatz ist komplett falsch und das müssen wir ändern. Damit beginnen wir.“

Es klang final, unabwendbar und Landorff fügte sich in sein Schicksal. „Wie stellst du dir das vor?“

Melissa blieb ihm die Antwort schuldig und fragte stattdessen: „Hast du deinen Lebenslauf mitgebracht?“

Er schob ihr das Blatt über den Tisch zu und seufzte leise. „Der wird dich nicht wirklich begeistern, das weiß ich jetzt schon. Zu wenig Skandale, keine Vorstrafen, abgeschlossene Schule, ja ich habe selbst brav den Dienst beim Heer abgeleistet und war nicht aktiv in der Friedensbewegung …“

„Damit lässt sich kein Staat machen“, bestätigte Melissa unerbittlich, nachdem sie die Seite überflogen hatte. Die Liste segelte auf die Tischplatte. „Eklige Drogen? Publikumswirksame Verhaftungen? Skandalöse Schlagzeilen? Schmutzige Fotos? Ein Harem, über mehrere Länder verstreut? Uneheliche, kiffende Kinder? Insolvenz und Gerichtsvollzieher?“

Landorff schüttelte nur stumm den Kopf.

„Du machst es mir nicht leicht. Also müssen wir improvisieren und etwas aus dem Boden stampfen. Du brauchst eine neue Vita.“

„Was ist so schlecht an der alten?“, wagte er einen matten Einwurf. „Die begleitet mich jetzt schon fast fünfzig Jahre lang. Gute Schulbildung, Studium, Ausbildung zum Journalisten, Job bei einer Nachrichtenagentur, beim Fernsehen und und und …“

„Das reißt keinen vom Hocker, das ist langweilig, alltäglich, nicht bunt genug für einen Bestsellerautor.“

„Ich kann ja nicht …“

„Du kannst!“, unterbrach ihn Melissa bestimmt und griff nach dem Telefon. „Und außerdem ist dein Outfit grottig. Petra? Kannst du bitte mal raufkommen?“

„Was heißt hier grottig?“, erkundigte sich Landorff pikiert. „Was stört dich an meiner Kleidung? Und wer ist Petra?“

„Petra ist meine Spezialistin fürs Aufbereiten von Lebensläufen“, meinte Melissa, als wäre es das Natürlichste der Welt. „Du glaubst ja gar nicht, was sich alles so aus der Vergangenheit von Menschen machen lässt, wenn man nur ein wenig sucht. Und ein wenig … anders bewertet, umschreibt oder übertreibt.“ Sie lachte. „Gilt für Firmen übrigens genauso. Wer will schon wissen, dass der Wert der Aktien seit Monaten auf Talfahrt ist? Klingt da Konsolidierung nicht besser? Oder Marktbereinigung?“

„Verstehe“, murmelte Landorff griesgrämig.

„Aber grottig heißt trotzdem grottig.“ Melissa mustert ihn von oben bis unten. „Du brauchst einen unverwechselbaren Stil und nicht dieses Kik-Desaster.“

„Lindenberg-Hut, maßgeschneiderter Kilt und Laufschuhe in pink?“, schlug Landorff stirnrunzelnd vor.

„Gar keine schlechte Idee, wenn wir das Darunter weglassen, ganz in der Tradition der Schotten, und du lässt dich von ein paar Paparazzi beim Aussteigen aus dem Auto fotografieren wie Paris Hilton.“ Melissa machte sich ein paar Notizen.

„Vergiss es!“, zischte Landorff und bereute augenblicklich seine blöde Bemerkung von vorhin. In diesem Moment schwang die Tür auf und die Lebenslauf-Fälscherin, wie er die ominöse Petra insgeheim getauft hatte, schwebte ins Büro. Langbeinig und schlank konnte sie auch als Besitzerin eines Schönheitssalons in der Münchner Innenstadt durchgehen. Brille, kurze Haare, Hosenanzug von Zara und High Heels, die Landorff schon beim bloßen Hinsehen Fußschmerzen verursachten.

Ihr strahlendes „Hallo!“ inmitten einer dezenten Parfümwolke war entweder perfekt einstudiert oder angeboren, dachte Landorff. Auf jeden Fall hinreißend.

„Wir haben hier ein neues Projekt, Petra, und das erfordert unsere gesamte Aufmerksamkeit. Herr Landorff ist Thriller-Autor.“ Melissa deutet auf den Bücherturm. „Zu viele Seiten, mitreißende Geschichten, zu wenig Verkäufe, hilflose Ex-Agenten, desinteressierte Verlage.“

Ich hätte es in dieser Kürze nicht besser auf den Punkt bringen können, dachte Landorff und sein Selbstbewusstsein sank.

Petra hingegen lächelt wissend und nickte verstehend.

„Nachdem wir Winter nun wegen plötzlichen Reichtums als Kunden verloren haben, wenden wir uns der ‚Operation Bestseller‘ zu.“ Melissa kicherte, als hätte sie einen ganz besonders fiesen Streich ausgeheckt. „Wir ziehen alle Register. Ich möchte, dass du einen attraktiven, pressefähigen Lebenslauf erarbeitest, dann einen Schlachtplan für die nächsten Monate inklusive Interviews in Funk und Fernsehen, mögliche Skandale, Auftritte bei Talkshows, das ganze Pipapo. Wir brauchen ihn auf Fotos mit Prominenten, also kümmere dich um die besten Partys. Söder, Maschmeyer, Helene Fischer, atemlos durch die Nacht, du weißt schon. Und engagiere die richtigen Fotografen dazu. Überleg dir Schlagzeilen, rede mit der SZ und der Abendzeitung und der Morgenpost in Berlin. Die schulden uns noch was nach der letzten Anzeigenkampagne der Stadt. Ich will das ganze Programm und ich will es schnell.“

Mit spitzen Fingern reichte Melissa den Lebenslauf, das Interview und Landorffs Mappe mit Presseausschnitten an Petra weiter. „Wenn du damit fertig bist, dann lass das in einer der untersten Schubladen verschwinden, meine Liebe. Ich nehme ihn jetzt mit zum Shoppen.“

„Zum Shoppen? Kannst du dir deine Schuhe nicht allein kaufen? Ich habe heute noch was vor!“, beschwerte sich Landorff.

Melissa strafte ihn mit Nichtbeachtung.

„Ach ja, und – Petra!?“ Ihre Stimme holte die Profil-Spezialistin aus dem Flur zurück, bevor sich die Tür ganz geschlossen hatte. „Wir brauchen einen neuen Namen, ein Pseudonym. Mit Michael Landorff am Einband kann man keine Bestseller schreiben. Das klingt nach Mönch oder Landluft. Französisch wäre nicht schlecht, vielleicht ein ‚Von‘ irgendwo in der Mitte.“ Sie legte den Finger auf die Lippen und hypnotisierte kurz den Plafond. „Wie wäre es mit Michel de Gilles?“

„Ist notiert!“, nickte Petra begeistert. „Michel wie Michael, klingt aber weltgewandter. Land ist zwar nett, aber bringt nichts, Dorff lassen wir einfach weg. Braucht keiner und klingt außerdem provinziell und nach plattem Land und Hinterhof. Michel de Gilles. Super!“

„Michel de Gilles? Das kann keiner aussprechen!“, protestierte Landorff. „Außerdem war ich mit meinem Namen immer ganz zufrieden!“

„Häagen Dazs kann auch keiner richtig aussprechen“, konterte Melissa unerbittlich. „Heißt nichts, ist purer Nonsens, schwer zu schreiben und noch schwerer zu buchstabieren. Ist trotzdem ein Hunderte-Millionen-Dollar-Unternehmen, Filialen auf der halben Welt, überbezahltes Eis, das sich direkt auf die Hüften schlägt wie frisch gefallener Neuschnee. Noch Fragen, Kienzle?“

„Hab mich lieb, Hauser“, brummte Landorff verdrießlich. „Wenn ich genauer nachdenke, dann will ich keine Agentin.“

„Wer fragt dich?“, konterte Melissa unerbittlich. „Willst du reich und bekannt werden oder nicht?“

„Oder nicht.“

„Zu spät, und jetzt gehen wir shoppen“, entschied die neugebackene Agentin und schob Landorff erbarmungslos durch die Bürotür. „Manschettenknöpfe mit dem Monogramm M. d. G. kommen sicher gut an.“

„Ich trage keine Manschettenknöpfe, sondern sportliches Kurzarm, T-Shirt und Kapuzenjacke!“

„Und all das werden wir jetzt ändern und sei froh, wenn es dabei nur um Manschettenknöpfe geht.“ Melissa grinste schadenfroh und drückte den Liftknopf. „Wie denkst du eigentlich über Hanf? Cannabis? Einen Joint?“

„Hab noch nie Drogen genommen“, schüttelte Landorff den Kopf. „Ich bin Motorradfahrer seit früher Jugend, das reicht für gelegentliche Adrenalin-Stöße.“

„Das ist schon mal nicht schlecht, darauf können wir aufbauen“, gab Melissa zu. „Fierek fährt medienwirksam Harley, für dich müssen wir etwas anderes finden.“

„Ich hätte da alte japanische Rennmotorräder im Angebot“, versuchte es Landorff. „Ich restauriere sie, und wenn ich damit fertig bin, dann sehen sie aus wie aus dem Laden. So gut wie neu.“

„Ein Ratbike wäre mir lieber“, dozierte Melissa, „du weißt schon, so ein runtergerocktes Häufchen Schrott, mit Rost überall und Grasbewuchs am Tank. Oder ein Straßenkreuzer, in den Elvis mal seinen Kaugummi geklebt hat, bevor er seine Lolita vernaschte. Wenn geht mit Zertifikat und allen Stempeln.“ Melissas Augen bekamen einen träumerischen Ausdruck. „Oder ein Auto von Steve McQueen …“

„Klar, dann bräuchte ich keine Bücher mehr zu schreiben, um zu überleben“, murmelte Landorff. „Dann würde ich den Schlitten versteigern lassen und mit dem Zaster den Rest meiner Tage in der Toskana die Sonne und die italienische Küche anbeten.“

Melissa blieb stehen, als sei sie gegen eine Betonwand gelaufen.

„Du – schreibst – nicht – um – zu – überleben!“

Ihr Zeigefinger mit dem langen, manikürten Nagel spießte fast Landorffs Nase auf.

„Das will ich nie wieder hören! Du schreibst, weil du inspiriert bist, weil ein ständiger, nie versiegender Strom von zündenden literarischen Ideen dich überschwemmt und du es einfach rauslassen musst! Weil du gar nicht anders kannst! Weil deine gedrechselten Sätze in die danach lechzende Menge geschleudert werden müssen.“

„Ich kann nicht anders?“, wunderte Landorff sich. „Wenn du wüsstest …“

„Will es gar nicht wissen!“ Sie funkelte ihn an. „Kein Mensch will hören, dass du kein Geld hast, dass du für so etwas Banales wie Kohle, Mäuse, Penunze schreibst. Ein Autor schwebt für sein Publikum entweder in höheren, unerreichbaren Sphären für sein Publikum, oder er schreibt nebenbei an seiner chronique scandaleuse. Aus dem Handgelenk, quasi. Wie Casanova oder die Katzenberger oder Miley Cyrus …“

„Die kann auch schreiben?“ Ein stechender Blick von Melissa ließ ihn verstummen.

„… oder Charlotte Roche.“

„Nicht dieses Buch …“, knirschte er.

„… und es wurde ein Bestseller“, vollendete Melissa genüsslich. „Merke – warum, das ist völlig egal. Danach fragt im Nachhinein niemand mehr. Da winken nur mehr die schwarzen Zahlen auf dem Bankkonto freundlich wie die Teletubbies.“

Ein tealfarbiger Mini Cooper mit weißem Dach blinkte mit allen Lampen und hupte leise. Melissa glitt hinters Steuer.

„Feuchtgebete“, zischte Landorff angewidert.

„Schoßgebiete“, grinste Melissa fröhlich. „Ich bin gespannt auf ihr nächste Buch. Sie hat immer einen Skandal am Start, wenn eines ihrer Bücher erscheint“, gab sie zu bedenken. „Muss einen guten Agenten haben. Merke erneut – Rechtschreibung, Grammatik, Aufbau oder Dramaturgie sind für ein Buch völlig unerheblich. Um solche Kleinigkeiten kümmern sich Lektoren und deren Assistentinnen. Die schreiben im Ernstfall gleich in einem Rutsch die ersten drei Kapitel um. Aussehen des Autors, fiese Skandälchen, marode Familienbeziehungen, schlechtes Benehmen und Kleidung, über die man sprechen, schimpfen oder sich mokieren kann, das alles ist viel wichtiger als der Text, der zwischen den beiden Buchdeckeln geschrieben steht. Wichtiger als das Gedudel, das auf die CD gepresst wird. Denk drüber nach.“

„So eher arroganter, weltfremder Künstlertyp mit weißem Schal und englischem Woll-Jackett?“, versuchte Landorff zu punkten. „Das könnte sogar ich mir vorstellen…“

Melissa verzog angewidert das Gesicht. „Zu gestrig, nicht mal old school. Die gehörten in die letzten Jahrhunderte, heute zieht das nicht mehr. Das Klischee ist abgearbeitet. Voll uncool. Vorbei. Wie Drogen-Romane, Vampir-Geschichten, Zauberlehrlinge in der Pubertät, hausfrauliche Peitschen-Fantasien etc. Wer hätte schon im deutschen Sprachraum mit einem Zauberlehrling namens Harald Töpfer einen Baum ausreißen können? Keiner. Er wäre über das Stadium der Vorauslese bei seinem irritierten Agenten nicht hinweggekommen.“

Bei Melissa klang alles … Landorff suchte verzweifelt nach dem passenden Wort.

„Und wenn doch, dann wäre der gute Harald endgültig an der Liga der überheblich verlegenden Gentlemen gescheitert und hätte mit Voldemort Murmeln spielen können bis zum Sankt Nimmerleinstag. Zauberlehrlinge waren seit Goethe und den mühsamen „Besen, Besen seid’s gewesen“ – Schulaufgaben mehr als out. Mega out! Noch megaer out!“

Melissa redete sich in Rage. Sie schien nach dem Ende der gestrigen Party noch Fleißaufgaben in Sachen Verlags-Recherche gemacht zu haben.

Der Mini raste die Leopoldstraße in halsbrecherischem Tempo stadteinwärts und Landorff fragte sich verzweifelt, warum heute hier kein Stau war. Wenn ich Gokart fahren möchte, dann gehe ich in den Wiener Prater, dachte er, da gibt es wenigstens keinen Gegenverkehr, während Melissa mit quietschenden Reifen in die Theresienstraße einbog.

„In Deutschland gibt es keinen Bestseller ohne passende Geschichte dazu, ohne brillanten Marketing-Coup, ohne handfesten Skandal. Möchtest du nicht am Jakobsweg sterben?“

„Hää?“, entfuhr es Landorff und er ignorierte die beiden Rollerfahrer, die mit kühnem Schwung und geballter Faust um Haaresbreite der ballistischen Bahn des Mini auswichen. „Sterben?“

„Naja, du könntest ‚Ich bin dann mal weg‘ doch wörtlich nehmen“, fuhr Melissa unbeirrt fort. „Auf dem Weg zu seinem innersten Ich traf ihn der Schlag kurz vor Burgos auf dem Pfad der Erkenntnis. Keine Angst, du musst nur die letzten Kilometer bis zum Sterbeort zu Fuß gehen. Werbewirksamer Hintergrund und ich schicke einen Fotografen vorbei. Und – tote Autoren verkaufen sich sowieso am besten. Nimm Stieg Larsson. Oder Agatha Christie, Edgar Wallace, Georges Simenon, Alistair MacLean, alles Dauerbrenner und dankenswerter Weise schon lange gestorben.“

„Am Jakobsweg sterben …“, flüsterte Landorff ergriffen. „Ich fasse es nicht. Bist du meine Agentin oder mein Totengräber?“

„Jetzt sei nicht heikel“, wehrte Melissa halbherzig ab, „wir müssen alles durchdenken. Für den Klub 27 bist du sowieso schon zu alt. Leider.“

„Klub 27? Ich kenne nur den Club 45 in der Wiener Innenstadt. Treffpunkt der sozialdemokratischen Prominenz in den 1970er-Jahren.“ Landorff schwirrte der Kopf. Das mit Melissa war vielleicht doch keine so gute Idee gewesen.

„Amy Winehouse, Jim Morrison, Jimi Hendrix, Janis Joplin, die Schlagersängerin Alexandra, Kurt Cobain und noch jede Menge anderer, du Ignorant. Sie starben mit 27 und blieben so für immer Legenden. Jung, gut aussehend und kreativ. Live fast, love hard, die young.“

„Ich bin auch kreativ“, versuchte es Landorff lahm.

„Aber du lebst noch und das schon viel zu lange für den Elite-Klub“, gab Melissa kalt zurück. „Das macht es deiner Agentin nicht leicht. Nur tote Dichter pfuschen ihren Agenten nicht mehr ins Handwerk. Denen kann man unwidersprochen alles anhängen, was medienwirksam Schlagzeilen macht. Und so die Verkaufszahlen steigern. Also denk nochmal über das Sterben am Jakobsweg nach.“

„Will ich nicht! Ich will aussteigen!“, entschied Landorff. „Außerdem fährst du wie eine Irre. Du wirst uns noch umbringen!“

„Na und? Hast du Angst? Die Verkäufe deiner Bücher steigen ab morgen exponentiell und meine Agentur wird die bestgebuchte in ganz Deutschland. Opfer müssen gebracht werden“, grinste sie und für einen Moment dachte Landorff, Melissa hätte den Verstand verloren.

„Allerdings müssten wir da etwas Spektakuläres inszenieren, etwa ich nackt hinter dem Steuer oder …“

„Ich will kein Wort mehr hören!“, unterbrach Landorff sie. „Ein Wunder, dass Heino noch lebt.“

„Ihr alten Männer hängt immer so am Leben“, gab Melissa vergnügt zurück, „wahrscheinlich, weil euch nicht mehr so viel Zeit bleibt. Aber wie ich sehe, ist die Botschaft angekommen. Wenn ich dich also leben lasse, dann sei dankbar und widersprich mir nicht beim Shopping. Unfälle können sich überall ereignen, auch in Umkleidekabinen.“

Landorff klammerte sich mit beiden Händen an den Haltegriff und biss sich auf die Lippen. „Und das mit dem alten Mann verbitte ich mir!“

„Apropos Umkleidekabine – hast du schon mal …?“, begann Melissa.

„Nein!“, unterbrach er sie entschieden, „Nein und ich denke auch nicht daran!“

„Spießer!“, war alles, was seiner neuen Agentin dazu einfiel.

Das Tartarus-Projekt

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