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AUF FREIERSFÜßEN

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Der Regen prasselt gnadenlos auf die Stadt hernieder und lässt die befestigte Gasse geradezu im Schlamm verschwinden. Die streng riechenden Abfälle der Anwohner sind längst in den Graben gespült, der der Gasse den Namen gab: „Hinter der Bach“, so wie sich die nächste Quergasse „Uff der Bach“ benennt.

Das Haus des Tischlers Prescher steht ziemlich allein auf seiner Straßenseite. Vorn an der Ecke ist das Anwesen vom Töpfermeister Stange und hinter dem Tischler und dem Gassenende mit dem Schuster Roseler wohnt nur noch der Hans Karte, der Weber. Im Gegensatz dazu ist die andere Seite der Gasse dicht bebaut, ein Haus reiht sich an das andere.

Hans steht in der Haustür und lässt seinen Blick durch die regenverschleierte Gasse schweifen. Ihn stört das Wetter nicht, bislang konnte er noch immer jeder Witterung das Schöne abgewinnen. Die Lücken zwischen den Häusern sind von sattgrünen Sträuchern und Wiesen besetzt, die in den nächsten Jahren neuen Häusern weichen sollen.

Irgendwo hinter der jenseitigen Häuserzeile kräht ein Hahn heiser in den wolkenverhangenen Morgen und erinnert daran, dass auch an solch trüben Tagen die Arbeit getan werden muss. Sachte Schritte in der Gasse lassen den Tischlermeister aufmerken. Wiewohl er eben den Entschluss gefasst hatte, die morgendliche Hafergrütze zu sich zu nehmen und sich dann der Arbeit in der Werkstatt zuzuwenden, interessiert ihn nun außerordentlich, wer durch den strömenden Regen naht. Dabei ist ihm gar nicht recht, dass der im Wildwuchs weit ausgelegte Holunderstrauch in der Brache neben seinem Haus mit dem tropfnassen Blätterwerk den Blick die Gasse hinab versperrt. Als endlich eine Gestalt in seinem Blickfeld erscheint, verhindert der Kapuzenmantel das Erkennen seines Trägers. Der weite Schnitt gestattet nicht einmal den Rückschluss, ob es sich um einen Mann oder ein Weib handelt.

Während Hans noch grübelt, wer durch den Regen stapft, wird er gewahr, dass die Gestalt genau auf ihn zuhält. Kurz bevor sie ihn erreicht, erkennt er unter der Kapuze das Gesicht der Tochter vom Schuhmacher Roseler.

„Nanu, Martha, wer hat dich bei diesem Wetter aus dem Haus getrieben und zu so früher Stunde? Haben wir bei deinem Vater noch Schuhwerk in Arbeit oder steht noch Bezahlung aus? Ein leichtes Lächeln funkelt um die Augenwinkel des Tischlers, hat ihm doch seine Lena gestern Abend von Marthas Seelenleben berichtet. Ihm wäre das Mädchen als Schwiegertochter schon recht, aber so ein Schritt will gut durchdacht sein. Nun aber, da sie hierherkommt, wird er etwas schneller überlegen müssen.

Das Mädchen sieht ihn mit seinen großen Augen ganz und gar unschuldig an und doch zieht ein zartes Rot verräterisch über seine Wangen. „Guten Morgen, Meister Prescher. Die Elisabeth sagte mir gestern, dass sich der Ruprecht verletzt hat und nun wollte ich nachfragen, ob es ihm besser geht.“ Marthas Stimme hört sich etwas heiser an und die atemlose Sprechweise lässt keinesfalls auf Unbefangenheit schließen.

„Geh nur hinein und sieh selbst. Er wird dir eigenständig sagen können, wie es heute um ihn steht.“ Bereitwillig gibt Hans die Tür frei und grient in seinen Bart, als das Mädchen ihm den Rücken zukehrt.

Überrascht blickt Ruprecht auf, als die kalte Zugluft mit dem Mädchen in die Stube kommt. Sein von Stolz diktierter Versuch, sich vom Lager zu erheben, findet jähes Ende in schmerzgebotener Bewegungsarmut. So heldenhaft sein Bestreben war, es ist nur das hämische Kichern seiner Schwestern als Resultat zu verzeichnen.

„Du sollst liegenbleiben!“, tadelt ihn die Mutter vom Herd her. Eben füllt sie die irdenen Schüsseln mit dem Frühstücksbrei und an Martha gewandt setzt sie fort: „Schön, dass du vorbeischaust. Willst du auch einen Schlag Grütze?“

„Nein danke, Mutter Prescherin, ich habe schon gegessen, bevor ich aus dem Haus gegangen bin. Eigentlich wollte ich nur sehen, wie es Ruprecht so geht. Dann muss ich schon wieder los, denn Vater meint, ich könnte am besten das Leder zuschneiden. Glücklicherweise muss ich heute keine Schuhe austragen.“

„Nun hast du gesehen, wie es Ruprecht geht, da kannst du auch wieder heimkehren!“, kommt kess der Einwurf von Johanna, dem prompt ein Schlag von der flachen Hand der Mutter auf das lose Mundwerk folgt. „Johanna!“ Wenn Mutter den Namen schon so ausspricht, dann steht es schlimm um den Seelenfrieden der jüngsten Tochter. „Johanna, sofort entschuldigst du dich für die Frechheit! Sei froh, dass sich jemand um deinen Bruder sorgt!“

„Soll sie doch sagen, dass sie in ihn verliebt ist!“, setzt Johanna nach und entwischt vor dem nächsten Klaps eilig durch die Tür in die Werkstatt.

Marthas Gesicht hingegen nimmt die dunkelste Farbe an und Ruprecht ergeht es nicht anders. Der stottert verlegen: „Also, wie sie darauf kommt. Wenn ich erst wieder auf den Beinen bin, werde ich ihr ordentlich das Fell gerben.“

„Besser wäre es, du würdest dich der Martha erklären!“, mischt sich der Vater ein, der soeben die Stube betreten hat. „Dann wüsste ich nämlich, ob ich mich mit dem alten Michel zusammensetze und die Einzelheiten bespreche.“

Ruprecht fühlt sich von den Geschehnissen überrumpelt. Natürlich findet er die Martha toll und er hat mit ihr auf dem Tanzboden schon so manchen Reigen getanzt, aber so direkt haben sie sich noch nie über Gefühle ausgetauscht. Freilich, vom Alter her passen sie recht gut zusammen. Sie zählt siebzehn Lenze und er ist einundzwanzig Jahre alt. Aber dass das alles jetzt so offen auf dem Brett serviert wird, wo er sich selbst noch nicht richtig im Klaren ist!

Ruprechts Eltern schmunzeln in trauter Einigkeit über ihren Sohn und das Mädchen, die beide nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen.

„Nun bring mal nichts durcheinander, Hans“, versucht Magdalena die Situation zu entspannen. „Vielleicht sollten die zwei erst allein miteinander reden? Aber dazu wäre besser, sie würden miteinander ausgehen und nicht von uns beobachtet werden.“

Mit dunklen Augen sieht Martha zum Fenster hin. Wie peinlich ist das denn? Da hat sie sich über Wochen um Ruprechts Aufmerksamkeit bemüht und der zeigt sich von Blindheit geschlagen. Dann läuft sie ihm nach bis ans Krankenlager und muss diese Situation erleben. Wenn wenigstens die freche Johanna ihren vorlauten Mund gehalten hätte!

„Schön, dass ihr euch solche Gedanken macht“, lässt sich Ruprecht hören. „Vielleicht ist es dienlicher, ihr kümmert euch gar nicht erst darum? So vornehmen Standes sind wir beide nicht, dass wir heiraten müssen, um die Macht unserer Familien zu stärken, Reichtum zu vermehren oder was auch immer. Und zur allgemeinen Kenntnisnahme: Ich mag Martha sehr gern und habe bemerkt, dass sie mich auch mag. Nur bin ich eben kein Weiberheld.“

Wie in Stein gemeißelt stehen die Worte im Raum und weil sie so eindeutig sind, bemerkt der Vater nur: „Na, dann ist alles in Ordnung.“ Und geht in die Werkstatt.

Magdalena umfasst Marthas Schultern: „Komm so oft du kannst!“, und bringt sie vor das Haus. „Du musst dich nicht über die Situation wundern. In dieser Familie wird nicht viel über die Liebe gesprochen und so wirken die Herren alle ein wenig hölzern, wenn es um Herzensangelegenheiten geht.“

Elisabeth, die die ganze Zeit unbemerkt in der Ecke saß, hockt sich neben ihren Bruder. „Es wird Zeit, dass das passiert ist. Ich hatte nämlich schon Angst, dass du so ein alter, verknöcherter Einsiedler wirst, der unausstehlich ist.“

Irritiert blickt Ruprecht seiner Schwester ins Gesicht. „Na, du scheinst dich gut auszukennen. Wie kommst du auf solche Gedanken?“

Sie hebt die Schultern und legt die Hand auf ihre Brust. „Wie sollte ich nicht auf so etwas kommen? Sieh mal unseren Paul an. Der ist vier Jahre jünger als du, genauso alt wie die Martha. Er ist oft mit den Mädchen vor der Stadt und ich habe sogar schon gesehen, wie er die Frida vom Töpfer Nuremberg geküsst hat. Du hingegen schaust einfach weg, wenn dir eine ein Auge zuwirft. Sonst hättest du längst merken müssen, dass Martha in dich verliebt ist.“

Puterrot läuft das Gesicht des Bruders an und schüchtern bemerkt er: „Du bist ein schönes Früchtchen. Aber welches Mädchen sollte es sich antun, mein Weib zu werden? Du siehst selbst, laufend passiert mir irgendwelches Ungemach.“

Resolut wischt die neun Jahre jüngere sein Argument zur Seite: „Natürlich passieren dir die unmöglichsten Dinge. Das ist aber nur deswegen so, weil du stets Angst hast, es könnte etwas geschehen. Würdest du stattdessen den Blick auf die jungen Weiber richten, dann würde ich längst deine Kinder hüten.“

Erleichtert zieht Ruprecht Elisabeth an seine Brust. „Du bist mir doch die Liebste von meinen Geschwistern. Hoffentlich magst du mich noch, wenn das mit der Martha und mir etwas wird.“

Es ist gegen Mittag, als endlich der monoton rauschende Dauerregen allmählich nachlässt und schließlich in einen stotternden Nieselregen übergeht. Ein diffuses Leuchten im wattierten Grau des wolkenverhangenen Himmels lässt erahnen, wo sich die Sonne am Firmament befinden muss.

Der kleine Claus von gegenüber hat längst seinen Erkundigungszug angetreten, weil einer seiner Getreuen von gewaltigem Hochwasser des nahen Flüsschens zu berichten wusste. Eben schlägt die Glocke von Sankt Jakobi die zwölfte Stunde, als der erste Sonnenstrahl den Weg durch eine winzig schmale Wolkenlücke findet und suchend nach dem Fenster der Prescherchen Tischlerei tastet.

Gerade will der Meister die Werkstatt verlassen, als er das Leuchten auf dem matten Grund gewahr wird. Gierig nach frischer Luft öffnet er weit die Fensterflügel und freut sich des erkennbaren Wetterumschwungs. „Lena!“, dröhnt seine Stimme durch das Haus. „Öffne die Fenster und Türen, lass die Luft ins Haus, bevor der Rinnstein wieder stinkt!“

Das Leben in der Stadt mag viele Vorteile mit sich bringen, aber der Geruch der Abfälle in den Gassen in Komposition mit dem der Latrinen kann schnell unerträglich werden, zumal wenn die Wetterlage keinen Luftaustausch zulässt. Deshalb gefällt den Städtern ein laues Windchen und Regentage sind nicht unbedingt immer unwillkommen. Heute ist solch ein Tag, wo die Nasen der Bürger verwöhnt werden und so sieht man, Gasse auf und Gasse ab, überall offene Fenster und Türen. Obwohl es an sich eher die beste Zeit für das Mittagsmahl ist, stehen allenthalben die Nachbarn schwatzend beieinander und tauschen sich über den Dauerregen aus, der offensichtlich sein Ende fand.

Die Prescherin sieht diese Gespräche nicht ohne Neid. Aufgrund der leer stehenden Grundstücke fehlen ihr für den Schwatz die direkten Nachbarn und die Minna Zigerin von gegenüber hat ihr eine zu spitze Zunge, vor allem da diese bereits ziemlich eindringlich auf Nurmbergs Emma einspricht. „Hans, ob ich kurz auf einen Sprung bei der Roselerin vorbeigehe?“, ruft sie fragend über die Schulter. „Das Essen muss ohnehin noch ein paar Augenblicke ziehen.“ Doch die so sicher geglaubte Zustimmung von Hans wird ihr verwehrt. „Lass das lieber bleiben! Erstens habe ich jetzt Hunger und nicht erst in zwei Stunden – und so lange pflegt Roselers Hedwig am Stück zu reden. Außerdem wird dir der Alte den Leisten an den Kopf werfen, wenn er nicht rechtzeitig den Löffel in die Schüssel tauchen kann. Bleibe also besser hier. Heute Abend kannst du dich mit der Roselerin zusammensetzen. Da will ich den Michael in den „Heiligen Georg“ entführen“.

Erstaunt wendet sich Magdalena der Stube zu. „Nanu, Hans, woher kommt dieses überraschende Vorhaben? Du gehst doch sonst nicht mit diesem alten Knurrhahn in die Wirtschaft. Es wird hoffentlich nicht wegen der Martha sein – da wäre ich besser mit dabei!“

„Erst einmal, mein liebes Weib, will ich von dem alten Zausel hören, wie er überhaupt zu solch einer Beziehung steht. Da man so etwas aber mit Geduld ausloten muss, gehe ich mit ihm eben in das Wirtshaus.“ Inzwischen hat sich Hans auf seinen Schemel gesetzt und deutet mit dem Kinn auf den Herd. „Komm, Magdalena, mein Magen knurrt.“

„Und ich sagte, das Essen muss noch ein paar Augenblicke ziehen. Außerdem, wo ist Paul? Und die Mädchen sind auch noch nicht vom Brunnen zurück!“, erwidert die Hausherrin zornig. „Versuchst du jetzt, den Haustyrann zu spielen?“

„Was soll das?!“ Der Tischler blickt finster zur Tür, wo sich sein Weib angriffslustig in Position gebracht hat. „Ich wusste nicht, dass wir uns neuerdings raufen müssen. Beruhige dich also! Der Paule ist im Spitzgässchen. Dort täfelt er eine Stube und wird nicht vor Abend zurück sein. Ich aber will nach dem Essen zum Schultheis, dem will ich die Ausstattung für zwei neue Gästezimmer bauen.“

So schnell Magdalena in Rage geraten war, will sie sich dennoch nicht gleich wieder beruhigen. „Und du meinst, wenn du schon einmal in der Wirtschaft bist, kannst du auch gleich deinen Sohn dort verscherbeln? Nee, mein Guter, so geht das nicht. Da habe ich ebenfalls ein Wörtchen mitzureden!“

Gerade will sie zur Tür hinaus und der Forderung ihres Mannes zum Trotz zur Roselerin hinüberlaufen, da meldet sich Ruprecht von seinem Lager: „Das gibt es doch nicht, dass ihr euch um meinetwegen streitet! Ihr müsst überhaupt nicht die Lage ausloten und erkunden, wie Marthas Vater denkt. Ich selbst werde um die Hand der Tochter anhalten und er wird nichts dagegen einzuwenden haben!“

Erschrocken wenden sich die Eltern ihrem ältesten Sohn zu, den sie unter dem Schleier des Eckenschattens gar nicht wahrgenommen hatten. Während die Mutter vor Schreck und Scham ganz bleich ist, poltert der Vater mit rotem Kopf los: „Es hat dir wohl gefallen, deine Eltern im Streit zu beobachten? Aber auch du wirst mit deinem Weib dereinst nicht nur eitel Sonnenschein erleben. Was aber die Vorsprache beim Roseler angeht, da wirst du schön warten, bis ich mit ihm klargekommen bin! Es war so und es bleibt so, unsere Tradition verlangt dies und daran wird auch der Eigensinn deiner Mutter nichts ändern!“

Eben will Magdalena ihre Position kundtun, da springt die Tür auf und die zwei Töchter poltern ins Haus. Misstrauisch mustern sie die Eltern, denn deren Gesichter berichten vom Spiel der Gefühle. Elisabeth versucht umgehend, den Schatten des Streites zu vertreiben und flötet übertrieben lustig: „Uhu, welch eine finstere Stimmung! Dabei sehe ich am Horizont nur Grund zur Freude.“

„Na eben“, stimmt ihr Johanna zu, „wir feiern bald Hochzeit und dann kommen auch gleich die Kinder. Aber jetzt habe ich ganz fürchterlichen Hunger!“

Bei den Worten der Mädchen wirft die Mutter dem Vater einen warnenden Blick zu, den Streit vorerst auszusetzen. Weil der aber seinem Weib das Gleiche signalisieren will, müssen beide laut lachen. „Ach Vater, nicht einmal streiten können wir richtig!“

Als der Tag sich dem Ende entgegen neigt, verdeckt ein azurblauer Himmel mit violettem Dämmerungsschleier die Erinnerung an den verregneten Vormittag. Längst ist Paul aus dem Spitzgässchen zurück und sitzt auf der Bank neben der Tür. Ihm zur Seite hockt Ruprecht, der sich in seiner Sehnsucht nach Sonnenschein vom Krankenlager erhoben hat. Mit leisen Worten hat der seinen Bruder über die jüngste Entwicklung in Kenntnis gesetzt. Paul schmunzelt vor sich hin.

„Das wird aber auch Zeit, Brüderchen! Die ganze Gasse spricht schon darüber, dass Martha hinter dir her ist und du alter Zausel nichts davon merkst.“

Ruprecht sieht prüfend ins Gesicht des Jüngeren. „War das so deutlich? Wieso habe ich das nicht bemerkt? Jetzt lacht sicher die ganze Stadt über mich.“

„Wen interessiert das? Außerdem brauchen die Leute immer etwas zum Tratschen. Die Hauptsache ist, dass ihr zwei euch gut und einig seid. Vor allem kann ich nun viel besser den Weibern nachstellen, denn jetzt werde ich nicht mehr an dir gemessen.“

Das Lach-Duett der beiden hallt durch die abendfriedliche Gasse und findet prompt die kläffende Antwort eines Straßenköters. Als beide sich schniefend wieder beruhigen, bemerkt Ruprecht: „Du magst der Weiber halber nicht an mir gemessen werden, dass verstehe ich. Aber mein Ungeschick wird man immer mit deinem Können vergleichen. Das zu wissen ist auch nicht gerade ein Vergnügen.“

„Nun barme nur nicht gar so“, sucht Paul den Bruder zu besänftigen, „es genügt, wenn du dich nur auf dein Tun konzentrierst und die Gedanken nicht abschweifen lässt. So könntest du dir manchen Ärger ersparen.“

Eben wollen sich die Brüder erheben, um ins Haus zu gehen, da naht von der Stadtbefestigung her der krumme Schatten eines vom Alter gebeugten Weibes. In der Gassenmitte schlurft müden Schrittes die Mutter Mechthild heran. Verwundert blicken ihr die Jungen entgegen. „Gott zum Gruße!“, lässt sich Ruprecht hören. „Wenn du zu unserer Mutter willst, dann ist das der denkbar ungünstigste Augenblick. Sie sitzt drüben mit der Roselerin zusammen und wird so schnell nicht wieder hier sein. Der Vater aber sitzt beim ‚Ritter Georg‘ und hält sich die Kehle geschmeidig.“

Die Alte winkt müde ab. „Den Vater suche ich nicht und die Mutter interessiert mich nicht zuvorderst. Deinetwegen bin ich hierhergezogen, so du der Ruprecht bist. Ich erkenne dich kaum wieder, denn ein paar Jahre sind seit unserem letzten Zusammentreffen ins Land gegangen. Nun, da du hier vor der Tür sitzt, kann ich annehmen, dass es dir besser geht, oder?“

Ruprecht stimmt ihr zu: „Tanzen kann ich zwar noch nicht wieder, jedoch, wenn ich schön langsam mache, schaffe ich es auch bis vor die Tür.“

„Schön vorausgesetzt, dass ich dich stütze!“, wirft Paul ein. „Aber immerhin, ohne deine Kräuter wäre er schließlich nicht von seinem Lager hochgekommen.“

Ein zaghaftes Lächeln lässt Mutter Mechthilds Gesicht leuchten. „Versuchst du etwa, mich zu bezirzen, Paulchen? Halte dich lieber an die Jungfern in der Gasse. Aber wenn du etwas Gutes für mich tun willst, einen Becher Wein würde ich gewiss nicht ablehnen.“

Paul lacht ihr offen ins Gesicht. „Bezirzen wollte ich dich nicht, Mutter Mechthild, nur ehrlich wollte ich sein. Es wird dich gewiss freuen, dass deine Kräuter helfen? Komm in die Stube herein. Hier draußen wird es zu kühl, um den Wein zu genießen.“ Übertrieben eifrig reißt er die Tür auf und gewährt ihr den Vortritt, bevor er, den Bruder stützend, ins Haus folgt.

Sowie das Kräuterweib die Schwelle überschreitet, strafft sich Mechthilds Figur. Als werfe sie die Last arbeitsreicher Jahre von sich, streckt sie sich und ist auf einmal fast so groß wie die beiden jungen Männer. Die Runzeln verlieren ihre scharfen Konturen und es steht da ein Weib unbestimmten, aber gewiss nicht hohen Alters.

Überrascht blicken die Brüder auf Mechthilde. „Also, ich hätte schwören mögen, dass du eben noch viel älter warst“, bemerkt Ruprecht, worauf das Weib freundlich nickt. „So soll es auch sein. Als Kräuterweib muss man alt sein, sonst zweifeln die Leute an der Wirksamkeit der Mittelchen. Außerdem fallen dann die Vorwürfe der Pfaffen nicht gar so hart aus.“

„Darauf würde ich mich nicht verlassen“, widerspricht Ruprecht, „man hat es immer eiliger, Leute als Ketzer zu verurteilen und dem Feuer zu überantworten, wobei es sich gut von einer alten Hexe spricht. Es scheint manchmal sicherer, die Gaben zu verbergen, Mutter Mechthild.“

Die Alte blickt scharfen Auges in das Gesicht des jungen Mannes. „Es ist gut, dass du dir Sorgen um mich machst, Ruprecht, aber wir haben schon ganz andere Sachen miteinander erlebt. Erinnerst du dich nicht, Rudolf?“

Missmutig schüttelt Ruprecht den Kopf. „Ruprecht werde ich genannt, Mutter Mechthild. Und an gemeinsame Erlebnisse von größerer Bedeutung vermag ich mich auch nicht zu erinnern. Da muss ich sehr klein gewesen sein.“

„Wie es auch gewesen sein mag, Ruprecht hat sicher recht mit seiner Warnung. Mit der heiligen Inquisition ist nicht zu spaßen. Vor Kurzem erst haben wieder Scheiterhaufen zu Zwickau und zu Freiberg gebrannt“, mischt sich Paul ins Gespräch und drängt den Bruder wie auch die Alte auf die Bank am Herd, jedem einen Becher mit Wein übergebend.

„Ihr möget recht haben mit eurer Sorge“, stimmt Mechthild zu. „Aber es sind zu viele, die von meiner Kunst des Heilens wissen. Wie sollte ich diese auch verbergen, solange ich zu den Kranken gerufen werde? Heilerin ist man, um zu heilen. Und so lange mich der Herr Pfarrer selbst zu den Kranken holt, sollte ich sicher sein, oder?“

„Trotzdem musst du schlau und vorsichtig sein“, drängt Ruprecht. „Du solltest deine Hütte wie einen Fuchsbau versehen, mit mehreren Ausgängen und immer ein Versteck bereit haben. Wie wäre es mit den Höhlen im Katzberg?“

Die Alte nickt zu seinen Worten sehr verständnisvoll. „Oh ja, die Höhlen haben uns schon sehr geholfen. Du kennst dich darin bestens aus.“

„Nicht besser als Paule und all die anderen Leute der Stadt, soweit sie hier aufgewachsen sind.“

Gern hätte Mutter Mechthild noch ein wenig mit Ruprecht gesprochen. Sie ist sich ganz sicher, dass dieser mit ihr in einem früheren Leben bereits zusammen war. Irgendetwas muss ihm in Erinnerung sein, verborgen unter dem Alltagswissen der Gegenwart und zweifelsohne wird sie diese Erinnerung freilegen können.

Leider zeigen die beiden Brüder recht wenig Interesse an der Fortsetzung des Gesprächs, zumindest in der angedachten Richtung. So nimmt sie sich fest vor, ein andermal die Unterhaltung mit Ruprecht allein zu führen, wenn niemand dabei ist. Die zu erwartende langwierige Heilung der Wunde wird ihr gewiss manche Gelegenheit dazu bieten und dann würde die Anwesenheit Pauls den Gedankenfluss nicht stören.

„Mir scheint, es dauert eine Weile, bis eure Mutter nach Hause findet. Was hat sie so Wichtiges mit der Roselerin zu bereden, dass sie bis in die Nacht wegbleibt?“

Diese Frage mag Ruprecht ein wenig unlieb sein. Errötend schluckend, erwidert er: „Es geht um mich, ich will um die Hand der Martha anhalten. Deswegen sitzt der Vater mit dem Schuhmacher im Wirtshaus und die Mutter leistet der Roselerin in deren Hütte Gesellschaft.“

Die Mutter Mechthild freut sich sichtlich und tätschelt Ruprechts Arm. „Na, das ist eine gute Nachricht. Offensichtlich hältst du dich recht streng an den Zeitplan. Pass nur auf, dass du sie nicht aus Versehen Ariela nennst, sie könnte es dir übelnehmen.“

Ruprecht ist sich nicht so recht im Klaren, ob die Alte nicht wirr redet. Wieso sollte er sich an irgendeinen Zeitplan halten und warum sollte er seine Martha plötzlich Ariela nennen? Grübelnd nickt er dem Kräuterweib zu, als es sich verabschiedet und nimmt dessen Verschwinden in der nächtlichen Gasse gar nicht wahr. Selbst den Bruder und dessen misstrauisches Gesicht ignorierend, erhebt er sich ächzend vom Schemel und begibt sich in schiefer Haltung in seine Ecke, wo er sich stöhnend auf seinem Lager niederlässt. Nur wenige Augenblicke später verrät kaum hörbares Schnarchen, dass sein aufgewühlter Geist im Traumland auf Wanderschaft geht.

Schattenhaft und unsagbar langsam poltert das schwere Gespann zu Tale. Die Zugrinder rutschen wiederkäuend auf den Knien vor dem Wagen her. Der krächzende Gesang der alten Hildburga lässt den Habicht eilig davonfliegen, wohingegen klug dreinblickende Raben die zerfahrene Straße säumen. Am Fuße des Berges biegt sich die endlose Tafel unter einem Festmahl, wie er es nie zuvor gesehen hat. Ein weiß gekleideter Alter führt eine feengleiche Schönheit mit hüftlangem, pechschwarzem Haar heran und nimmt an derer statt die singende Hildburga mit sich. Ariela schmiegt sich an ihn und hat plötzlich Marthas Züge. „Wenn du mir Treue gelobst, dann wird unser Weg ein Weg des Glücks sein“, raunt sie vielversprechend in sein Ohr.

Ein Strohhalm hat sich durch das Laken gebohrt und sticht Ruprecht schmerzhaft in die Wange, wovon er jäh aus dem Schlaf gerissen wird. Von drüben dringt das Schnarchduett der Eltern herüber, die also offensichtlich inzwischen auch nach Hause gefunden haben. Pauls gleichmäßiges Atmen kündet von ruhigem Schlaf. Johanna schmatzt wie gewohnt zu ihren Träumen, einzig von Elisabeth ist nichts zu hören. Lauschend richtet er sich auf, um die Schlafgeräusche der Älteren seiner Schwestern zu orten, da hört er dicht bei seinem Lager das Rascheln von Stoff. „Ruprecht, bist du aufgewacht? Ich bin es, die Lisa!“ Ihre kalte Hand schiebt sich unter seine Decke und legt sich auf seinen Arm. „Bestimmt hast du schlecht geträumt, so wie du gestöhnt hast. Dabei riefst du nach einer Hildburga, einer Ariela und dann nach deiner Martha. Da wollte ich dich wecken, denn eine Braut sollte nicht im Alptraum vorkommen. Außerdem brauchst du Ruhe zur Genesung.“

Ruprecht legt seinen Arm um seine Schwester und zieht einen Teil seiner Decke über den mageren Mädchenkörper, der sich dankbar in den warmen Stoff kuschelt.

„Ich habe zwar komisch geträumt, aber nichts Schlechtes“, flüstert er ihr ins Ohr. „Der Rudolf aus dem Rudolflied war ich und habe die weise Hildburga gegen die junge Ariela eingetauscht, aus der dann meine Martha wurde und dann bin ich aufgewacht.“

In der Dunkelheit der nächtlichen Hütte leuchten sacht die großen Augen Elisabeths. „Vielleicht hat die Mutter Mechthild recht und du bist früher der Rudolf aus der Sage gewesen. Das wäre toll, oder?“

Sie kann Ruprechts Lächeln nicht sehen, doch nimmt sie es an der Klangfarbe seiner Stimme wahr. „Das mag alles sein, aber wir wissen es nicht und werden es wohl auch nie erfahren. Aber jetzt müssen wir schlafen, also ab auf dein Lager!“

Entschlossen zieht er ihr die Decke weg und sie huscht eilig in der Finsternis davon.

So herrlich wie sich der gestrige Tag verabschiedet hat, genauso jungfräulich rein zeigt sich der Himmel des neuen Morgens. Die Nacht brachte kaum Abkühlung und so stellen sich die Bürger der Stadt nur wenig erfrischt und kaum ausgeruht den Erfordernissen von heute. Solche warmen Nächte sind an sich selten vor Sankt Johannis und passen eigentlich eher in den August, aber in diesem Jahr scheint alles ein wenig anders zu sein.

Im Hause des Tischlermeisters Prescher herrscht geschäftiges Treiben. Um den Tag zu verschönen und die Trägheit aus den Gliedern der Familienmitglieder zu vertreiben, hat die Hausfrau beschlossen, dass das Frühstück heute im Garten eingenommen wird. Die allgemeine Zustimmung drückt sich nun in der gemeinschaftlichen Vorbereitung aus. Schnell haben der Vater und Paul mit breiten Bohlen auf zwei Holzböcken die Tafel gerichtet. Während die Mutter das weiße Leinen auf dem Tisch glatt streicht, tragen die Töchter bereits die Teller, Schüsseln, Becher und Krüge heran. Ruprecht, der in diesem Gewusel eher ein Hindernis für die anderen wäre, öffnet inzwischen weit die Fenster der Stube und der Werkstatt, um die abgestandene Luft mit all den Ausdünstungen zu vertreiben, denen die intensiven Gerüche der Kräuter unter der Decke längst nicht mehr beizukommen vermögen.

Es ist nur wenig Zeit vergangen, seit Mutter die Idee offenbarte, da sitzt die Familie einträchtig im Garten. Der Vater spricht das Tischgebet, begleitet vom Gesang der Vögel und vom Summen der Insekten im Blumenbeet. Im zarten Hauch des Windes legt sich der Duft der Pfingstrosen wie ein Seidentuch über die Hungrigen und liebkost die strapazierten Städternasen.

„So sollten wir öfter essen, mein Schatz“, bemerkt der Hausherr und wirft seinem Weib einen liebevollen Blick zu. Die jedoch lächelt keck und bemerkt weise: „Würden wir das öfter tun, dann wäre so ein Mahl im Freien nichts Besonderes mehr und der Mehraufwand wäre nur noch eine Belastung. Also lassen wir die Variante als Ausnahme, die dem heutigen Tage angemessen ist.“

„Mein Gott, Mutter, was drückst du dich heute gewählt aus. Willst du gar eine vornehme Dame werden?“ Johanna kann ihre Verwunderung nicht verbergen. Elisabeth, deren Geist noch ein wenig wendiger scheint, tritt der Schwester gegen die Wade. „Denke mit, Hannel! Wenn die Eltern gestern mit Roselers gesprochen haben und die Mutter den Tag heute als etwas Besonderes bezeichnet hat, dann kann das nur was heißen, na?“

„Gut überlegt, du schlaue Maid!“, lobt der Vater Elisabeth. „Ich bin gestern mit dem alten Roseler übereingekommen, dass der Ruprecht die Martha heiratet. Die Roselerin hat zu eurer Mutter gar gesagt, dass sie schon lange darauf warten, dass der Ruprecht um Marthas Hand anhält.“

„Im Nachhinein kann man vieles erzählen“, brummt Paul dazwischen. Wie ich die alte Tratschtante kenne, hätte sie über die Unmoral der Jugend gewettert so wie Ruprecht das Maul vor ihrer Tür aufgemacht hätte und das die Tradition gebietet, dass die Eltern erst verhandeln, zu welchem Preis die Kinder verschachert werden.“

„Nun halte mal die Luft an, Junge!“, mahnt der Tischlermeister. „So schlimm ist die Hedwig Roseler nicht. Ihr Mann ist sehr maulfaul und so spricht sie eben mit den Nachbarinnen, stimmt es, Mutter?“

Die Prescherin schmunzelt fröhlich. „Ihr seid beide im Recht. Sie tratscht für ihr Leben gern und hat normalerweise niemanden im Hause, der ihr antwortet. So kam ich eigentlich gestern nur dazu, einen schönen Abend zu wünschen und dann, mich zu verabschieden. Die restliche Zeit hat sie gesprochen. Von Martha habe ich nur das Surren des Spinnrades gehört.“

„Und feiern wir heute die Verlobung?“, meldet sich neugierig Johanna zu Wort. „Da müssen wir uns sputen. Heute in der Früh war der Himmel blutrot und ihr wisst ja: Morgenrot – Schlechtwetter droht!“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden!“, wendet Ruprecht ein. „Es freut mich ungemein, wenn sich so eins zum anderen fügt, aber ich wäre gern auch mit einbezogen worden. Darf ich wenigstens erfahren, was die zwei Väter beschlossen haben?“

So ernst Ruprecht das Anliegen auch ist – und ganz sicher nicht unbegründet – sorgt es doch für allgemeine Heiterkeit.

„Ach du Ärmster“, die Mutter antwortet in glucksender Sprechweise, „mir scheint, dich geht es am ehesten etwas an und dennoch hält man dich ahnungslos!“ Eilig wischt sie die Lachtränen aus den Augenwinkeln. „Entschuldige, wir wollten dich nicht übergehen.“

Der Vater erachtet es für angemessen, höchstselbst über den autoritären Ratschluss der Familienoberhäupter aufzuklären. „Also, der Michael Roseler und ich, wir sind übereingekommen, dass du die Martha heiraten wirst. Ein Problem bleibt dabei, wovon ihr leben wollt. Als Tischler wirst du es nimmer zum Meister bringen bei deinem Ungeschick. Also bliebe die Schuhmacherei, aber davon verstehst du gleich gar nichts. Nun hat der Roseler gute Verbindungen zum Rat und er will versuchen, dich als Stadtschreiber unterzubringen. Zu irgendetwas muss Mutters Mühe nutze sein und so hat sie dir das Schreiben nicht umsonst beigebracht.“

Mit großen Augen blickt Ruprecht seinen Vater an. Er wird also tatsächlich nicht die Werkstatt erben! Wenngleich er selbst seine Zweifel an der Eignung zum Tischlermeister hatte, ist ihm die Verkündigung als Fakt höchst widerwärtig.

Paul bemerkt wohl, was in seinem Bruder vor sich geht. „Nimm es hin wie ein Mann, Großer. Du weißt, dass der Vater recht hat. Ich will dir nichts wegnehmen, aber als Tischler habe ich die besseren Aussichten auf den Meisterbrief.“

Der Prescher nickt zu den Worten seines Zweitgeborenen. „So habe ich es mir auch überlegt. Um dir aber eine gewisse Sicherheit zu geben, erhältst du Zeit deines Lebens einen Anteil am Gewinn der Tischlerei. Der wird zwar nicht als Lebensunterhalt reichen, aber als Schreiber verdienst du auch.“

Langsam, als sei es eine bittere Medizin, schluckt Ruprecht die Enttäuschung hinunter. Er weiß um die Tatsachen und er wird nicht mittellos dastehen. Ganz im Übrigen ist der Stand des Schreibers sehr geachtet.

„Stadtschreiber zu sein ist eine besondere Ehre!“, wirft die Mutter ein. „Dabei kannst du nebenbei den Schulmeister unterstützen, soweit der dies zulässt. Immerhin könnte er dagegen sein, weil du das Rechnen und Schreiben nach alter Tradition bei mir gelernt hast, aber vielleicht sieht er das nicht so verbissen und dann wirst du irgendwann der Schulmeister sein?“

Ruprecht winkt entsetzt ab. „Bleib mir nur damit vom Leib! Ich werde mich doch nicht mit den verwöhnten Bälgern der Pfeffersäcke herumschlagen, deren wohlgestaltete Mütter sich weder das Rechnen noch das Schreiben je zu eigen machten, weil sie nur mit ihren Gulden protzen und ansonsten das Geld zum Fenster hinauswerfen.“

„Nun halte die Luft an, Sohn!“, knurrt der Vater böse. „Nicht jeder Händler schwelgt im Geld und deren Weiber sind zumeist sehr ehrbar! Nimm dir den Caspar Pegnitzer. Ist dessen Familie vielleicht von der Art, wie du sie beschreibst?!“

Erschrocken zieht der Gescholtene den Kopf zwischen die Schultern. „Um Gotteswillen, nein! Die habe ich nicht gemeint. Aber vorn in der Langen Straße gibt es Beispiele genug, zumal in neuen Steinhäusern.“

„Sprich nicht von Dingen, die du nicht verstehst. Wären deine Hände nicht so ungeschickt, dann wäre die Schulmeisterei hier gar kein Thema.“ Der alte Prescher will nicht nachgeben. „Was weißt du vom Tagewerk eines Kaufmannsweibs?“

Ruprecht zuckt mit den Schultern. So genau hat er darüber noch gar nicht nachgedacht. Kann deren Tagewerk so viel anders sein als das der Mutter, die von früh bis spät zu rackern hat? „Na gut, auf der faulen Haut liegen können sie auch nicht. Aber Mutter hat nicht einen Deut weniger zu tun und hat uns allen dennoch der Reihe nach das Schreiben und Rechnen beigebracht. Warum ist das nicht auch bei den Kaufleuten so üblich?“

Endlich legt der Vater seine bärbeißige Miene ab und lächelt mit unverkennbarem Stolz sein Weib an. „Weil deine Mutter nicht einfach klug, sondern sehr klug ist. Deshalb passt sie so gut zu mir. Sie findet immer den schnellsten Weg zu einer Lösung. Das kommt, weil sie schon, wie auch ihr, als kleines Kind mit Spaß an das Lernen herangeführt wurde. Dadurch erkannte sie die Vielfalt der Möglichkeiten. Wer das Rechnen erst spät erlernt, der hat damit viel mehr Not. Wie soll derjenige seinen Kindern dann die Freude daran vermitteln? Nicht anders ist es mit dem Schreiben. Es ist schon ein gelungener Zug unseres Rates gewesen, als er Ende des letzten Jahrhunderts die Stelle des Schulmeisters schuf. Übrigens ist nicht gesagt, dass du zu dessen Gehilfen überhaupt taugst. Über Wissen zu verfügen ist das eine, Wissen zu vermitteln aber ist das andere, das Schwerere.“

Die Mutter legt dem Meister die Hand auf den Arm. „Darum müssen wir uns kaum Sorgen machen“, meint sie, „der Große hat seit jeher sein Wissen recht gut weitergegeben. Da hat er deutlich mehr Geschick als im Handwerk.“

„Das hast du mir schon mehrfach gesagt, Mutter. Aber was hätte mir das bei unserem Tagewerk genützt? Von der Schulmeisterei wird man nicht satt, wenn die Eltern nicht gut zahlen. Gehört aber die Schule der Stadt, dann sieht das ganz anders aus, dann gibt es aus dem Stadtsäckel ein festes Handgeld.“

Ruprecht folgt der Zwiesprache mit gefurchter Stirn. „Ihr seid gut. Eben hieß es noch, ihr wollt versuchen, mich als Stadtschreiber unterzubringen, da quält euch schon der Gedanke, wie ich zum Schulmeister werden könnte. Wäre es nicht erst einmal von Wichtigkeit, die Schritte bis zur Hochzeit zu klären? Wie soll das vonstatten gehen?“

Tief atmet der Vater ein. „Deine Stelle als Stadtschreiber ist der erste Schritt, mein Sohn, denn bevor überhaupt die Eheschließung angebahnt wird, muss klar sein, wovon du deine Familie ernährst. Sobald du eingestellt bist, wird das Aufgebot bestellt.“

„Und wenn ich die Stelle nicht bekomme, dann wird es nichts mit der Hochzeit?“

„Erzähle doch nichts, der Roseler hat seine Hand darauf gegeben, dass es klappt.“ Entschlossen klopft der Vater mit den Knöcheln auf den Tisch, als könne er damit den Plan zum Fakt erheben.

„Na, das lass ich mir gefallen!“, tönt es in diesem Augenblick vom Weidenrutenzaun herüber. „Erst habe ich gedacht, ihr säßet zum gemeinsamen Frühstück, aber nun scheint es mir eher wie zum Reichstag in der Kaiserpfalz.“ An der Pforte zeigt sich die gebeugte Gestalt Mutter Mechthilds. „Darf ich mich zu euch wagen oder störe ich gar zu sehr?“

Mit staunenden Augen erwidert die Hausherrin: „Komm nur heran, Muhme. Nur selten führt dich dein Weg in die Stadt und nun kommst du gleich zweimal so kurz hintereinander? Das wird doch nichts Schlimmes zu bedeuten haben, hoffe ich.“

Schwer atmend kommt die Alte näher. „Ach was, ich will nur nach dem Ruprecht sehen und ein wenig mit euch schwatzen. Das hatte ich eigentlich gestern Abend schon vor, aber du warst nicht zu Hause, Magdalena.“

„Mein Weib darf doch auch einmal ausgehen“, mischt sich Hans ein. Ihm ist die Tante der Hausherrin immer etwas unheimlich und die Fähigkeiten, die ihm bei seiner Frau so gut gefallen, machen ihm bei der Alten eher Angst.

„Keine Bange, lieber Hans, ich werde nicht lange bleiben. Aber meine Neugier musst du schon erst stillen und mein Geschwätz ertragen.“ Ein hohles Kichern folgt den durchaus nicht witzig gemeinten Worten. Leise ächzend lässt sie sich auf dem angebotenen Hocker nieder. „Ihr habt es euch hier recht gemütlich gemacht“, meint sie und beäugt aufmerksam das Umfeld. „Es ist der richtige Platz, um sich über die alten Zeiten und die Zukunft auszutauschen. Oder was meinst du, Magdalena?“

Die aber weist das Ansinnen energisch zurück. „Das werden wir auf gar keinen Fall tun, Mutter Mechthild, denn das ist nichts für gespitzte Ohren neugieriger Töchter, welche die Zusammenhänge noch gar nicht zu erfassen vermögen. Du wirst uns also erst in aller Ruhe essen lassen und dann werden die Mädchen davonziehen.“

Wütend klopft die Alte mit den Knöcheln auf die Tischplatte. „Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, Magdalena, aber du kannst deine Töchter nicht davor bewahren, dem Ruf ihrer Bestimmung zu folgen. Seit alters her sind die Weiber unserer Linie berufen, als weise Frauen dem Volk zur Seite zu stehen.“

„Schweig endlich, Alte!“ Mit zorngerötetem Gesicht herrscht der Tischlermeister das Kräuterweib an. „Die Lena hat ausdrücklich gesagt, dass wir reden können, sobald die Jungfern fort sind. Was setzt du ihnen dann jetzt dieses vergorene Zeug sündhaften Geredes vor?! Willst du, dass sie in Flammen vergehen, weil sie ein falsches Wort verloren?!“

Harten Blickes bringt ihn Mechthild zum Schweigen. „Den richtigen Augenblick für die Eröffnung solchen Wissens gibt es nicht, Hans. Außerdem müssen die Jungfern spätestens jetzt erlernen, mit den Kräutern und Wurzeln umzugehen. Wenn man zu spät mit dem Lernen beginnt, dann bleibt nur Stückwerk haften und das kann zu großem Schaden führen.“

Der von Zweifeln gefüllte Vater winkt wenig befriedigt ab. „Ich weiß nicht, warum du das tust und was du letztendlich bezweckst, aber es gefällt mir nicht, dass du meine zwei Töchter und meinen ältesten Sohn für dich beanspruchst. Was ist bei den Dreien anders als bei Paul, der dich glücklicherweise gar nicht kümmert?“

Magdalena, die bleich und leeren Blickes der Auseinandersetzung gefolgt ist, nimmt jetzt wieder die Umwelt wahr und mischt sich ins Gespräch. „Da es nun einmal gesagt ist, können Lisa und Hannel auch den Rest unseres Geheimnisses erfahren: Die Muhme Mechthild hat es ganz richtig gesagt, ich stamme in direkter Linie von den weisen Frauen unseres Volkes ab, so wie die Mutter Mechthild auch oder vor Jahrhunderten eben die Mutter Hildburga. Wir erben unser Wissen von unseren Müttern und geben es an unsere Töchter weiter. So steht uns von Kindesbeinen an Wissen zur Verfügung, das andere Menschen nie erlangen können. Wir müssen nur lernen, dieses Wissen wahrzunehmen und richtig zu gebrauchen. All dies ist natürlich den Leuten um uns unbegreiflich und so vermeinen sie oftmals, Hexerei zu erleben. Darum verbergen wir größtenteils unsere Gabe, vor allem vor der Kirche, obwohl wir gute Christen sind.“

Johanna, die bislang eher ehrfurchtsvoll dem Gespräch gefolgt ist, blickt mit großen, runden Augen auf die Mutter. „Was denn, bin ich etwa eine Hexe? Aber ich will niemandem etwas Böses antun und wenn ich schon einmal unartig bin, dann nicht aus Bosheit! Nie und nimmer will ich eine Hexe sein!“

Ängstlich umfängt das Mädchen den Leib seiner Mutter und presst sich an sie. Diese aber fährt ihm tröstend über das Haar. „Natürlich bist du keine Hexe und du wirst niemals eine sein. Du bist auch nicht bös, sondern höchstens einmal ungezogen, so wie alle anderen Kinder. Aber du, deine Schwester und ich, wir haben altes Wissen unseres Volkes zu bewahren, vor dem andere Menschen vielleicht Angst haben, weil sie glauben, wir könnten mit diesem Wissen Macht über sie gewinnen. Deshalb soll von unserem Wissen nie jemand je erfahren, der nicht zu unserem Kreis gehört, noch nicht einmal unsere Nachbarn – auch nicht die Martha. Einzig, dass wir etwas von Kräutern und Wurzeln verstehen, das dürfen sie, denn dieses Wissen ist auch anderen Leuten gegeben.“

„Ich habe aber nie bemerkt, dass ich mehr wüsste als andere“, wendet Elisabeth ein. Irgendwie erscheint ihr das Gespräch sehr unwirklich, eher wie ein seltsamer Traum und sie meint, gleich aufwachen zu müssen. Mutter Mechthild nickt ihr zu. „Das will ich dir gern glauben, denn all dein Denken und Tun ist dir selbstverständlich. Aber hast du nicht immer schon vorher gewusst, wenn die Chemnitz über die Ufer tritt, wenn im Juni der Hagelschlag die Ernte vernichten würde? Diese Gabe bleibt deinen Nachbarn vorenthalten. Wenn mich nicht alles täuscht, hast du sogar der Bertha, dem Weib vom Steinmetz Meier den Schmerz aus dem Kreuz genommen, als sie nicht mehr allein vom Brunnen hochkam. Glaubst du, das hätte die Elsa Lexmer gekonnt, die deine Freundin ist? Es wird höchste Zeit, dass ihr erlernt, mit diesen Gaben umzugehen, damit ihr nämlich keinen Schaden anrichtet.“

Paul hat aufmerksam die Belehrung verfolgt und ohne es zu bemerken, sucht er mit dem kleinen Finger in der Nase ein störendes Kribbeln zu beseitigen. Dabei bemerkt er nachdenklich: „Bislang dachte ich immer, die Kenntnis der Herkunft unseres Volkes sei das Geheimnis unserer Familie und ich war sehr stolz, zu diesem illustren Kreis zu gehören. Nun aber wird mir offenbart, dass vielmehr die Weiber unserer Familie das Besondere sind und ich mehr oder weniger der Kehricht der Familie bin. Das schmeckt mir so gut wie Bitterkraut.“

„Quatsch nicht solchen Unsinn!“, begehrt der Vater auf. „Weder du noch ich sind hier Kehricht. Wir sind als Schutz den weisen Frauen zur Seite gegeben und das ist Ehre wie Verantwortung genug. Du wirst darauf achten, dass deine Schwestern auch dann nicht verderben, wenn sie selbst eine Familie haben und deren Männer vielleicht nicht stark genug sind, ihre Weiber zu beschützen. Unklar ist mir nur, welche Rolle deiner Meinung nach unser Ruprecht spielt. Sag es uns, Mutter Mechthild.“

Die Alte zupft sich verlegen am Ohr. „Nun ja, ganz sicher bin ich mir da noch immer nicht. Aber seit seiner Geburt sehe ich immer wieder Hinweise, dass er der Wiedergänger ist. Die Hildburga hat seinerzeit in Rudolf, dem Bauerngeneral, eine Sicherung zur Wahrung unseres Wissens hinzugefügt, weil sie den christlichen Priestern nicht so recht über den Weg traute. Alle paar Generationen erscheint er nun in neuer Gestalt und prüft, ob das Wissen noch vorhanden ist, welches uns mitgegeben wurde. Gleiches tut die alte Hildburga auch selbst und mir wurde nachgesagt, dass ich deren Inkarnation sei. Wenn es so wäre, bedeutete dies aber, dass heute die Gefahr besonders groß ist, alles Wissen zu verlieren.“

„Es ist schon ein wenig gruselig, was du uns da erzählst“, bemerkt Paul und lehnt sich zurück. „Da habe ich einen etwas älteren Bruder und dann kommt jemand des Weges und behauptet, dass es sich um den schlappen Altersunterschied von über fünfhundert Jahren handelt. Das scheint mir etwas sehr weit hergeholt. Und was soll erst die Martha denken? Ist der Altersunterschied der Brautleute nicht arg groß?“

Jetzt ist es Ruprecht nicht mehr möglich, sich aus dem Gespräch herauszuhalten. „Lasst mir die Martha aus dem Spiel! Von diesem ganzen Kauderwelsch will ich nichts mehr hören! Wenn hier ein Lauscher um die Ecke stand, wird es garantiert einen großen Hexenprozess geben und da kann ich mir auf alle Fälle Schöneres vorstellen.“

Der Tischlermeister nimmt die Worte seines Ältesten als Abschluss der Debatte und erhebt sich. „Stimmt, es ist genug gesprochen. Mutter klärt noch mit Mechthild, wie die Mädchen an das nötige Kräuterwissen kommen. Der Paule geht mit mir nach Sankt Johannis ins alte Holzlager und Ruprecht versucht einen Rundgang durch die Gasse, damit er wieder auf die Beine kommt. Die Lisa und das Hannel helfen der Mutter, zuvor aber streichen sie die Stühle in der Werkstatt für den alten Pegnitzer!“ Entschlossen winkt er dem Zweitältesten, ihm zu folgen und wendet sich der Gartenpforte zu. Als auch die Töchter des Hauses verschwinden wollen, gebietet die Mutter Einhalt. „Es ist recht, wenn der Vater euch eine Aufgabe gestellt hat. Das heißt aber nicht, dass wir hier alles stehen und liegen lassen. Erst räumt ihr die Reste des Mahls ab, wie es sich gehört.“

Die langgezogenen Gesichter der Schwestern zeigen deutlich, wie sie zu diesem Ansinnen stehen, jedoch die Miene der Mutter verrät die Sinnlosigkeit jeden Widerstandes und so tragen sie, wenig erfreut, die Schüsseln und Teller ins Haus. Inzwischen wendet sich Magdalena der Mutter Mechthild zu: „Ich fand es nicht gut, wie du dich in unser Familienleben eingemischt hast. War es nicht deutlich genug gesagt, dass die Mädchen außen vor bleiben sollten?“

„Meine liebe Magdalena, du vergisst offensichtlich deinen Rang in der Hierarchie! Du kannst nicht einfach festlegen, was du wann und wie zu tun gedenkst. Wir haben eine wichtige Aufgabe übernommen und zu erfüllen. Wenn wir nachlässig werden, dann geht unser Wissen und damit die Seele unseres Volkes verloren! Wohin das führt, siehst du in deiner Umgebung am besten. Es gibt keinen Einklang mit der Natur, der Medikus hat nur Scheinwissen und doktert mit irgendwelchen Mittelchen herum, weil die Soutanenträger jede Mixtur als Hexenzauber verschreien und medizinische Forschung verbieten. Man hätte etwas von den Muselmanen lernen können als Konstantinopel an sie fiel, aber die nannte man des Satans, so wie auch uns. Also müssen wir klüger sein und für die nächste Generation bewahren. Deshalb werden Elisabeth und Johanna ab dem nächsten Montag bei mir den Gebrauch der Kräuter, Blüten und Wurzeln erlernen, du aber führst sie in die Magie der Steine, den Einfluss des Mondes und der Sterne ein, denn das verstehst du besser als ich. Es wäre doch gelacht, wenn wir aus diesen zwei zarten Pflänzchen nicht zwei mächtige Bäume des Wissens machen könnten, die den widerwärtigsten Problemen der Gegenwart und Zukunft zu widerstehen vermögen.“

Magdalenas Sorge um die Töchter wird trotz des energischen Auftretens des Kräuterweibs nicht geringer. Sie befürchtet, dass die Mädchen von den Neuigkeiten überfordert sind. Immer waren sie als Bürger der Stadt groß geworden und nun sollten sie plötzlich nur noch zum Teil dazugehören? Werden sie weiterhin unbeschwert mit ihren Freundinnen spielen können? Tränen der Unsicherheit füllen ihre Augen. Ob ihre Mutter vor vielen Jahren vor dem gleichen Problem stand?

Plötzlich fühlt sie sich an den Schultern umfasst und Ruprechts Gesicht füllt ihren Blickwinkel aus. „Keine Sorge“, er drückt sie fest an seine Brust, „die Mutter Mechthild ist im Recht. Du kannst die zwei nicht länger schonen. Aber wir sind alle da, sie zu beschützen: der Vater, Paule und auch ich. Und so gefährlich ist die Sache nun auch wieder nicht. Weder die Mutter Mechthild noch du selbst wurden jemals angegriffen oder gar ins Unglück gestürzt. Ganz im Gegenteil, ihr beide werdet von den Leuten hoch geachtet.“

„Ist gut, Großer. Wo ist die Muhme hin?“

Ruprecht lacht leise. „Du musst ja weit weg gewesen sein, gegangen ist sie. Also eine Hexe kannst du wahrlich nicht sein, sonst wäre dir das nicht entgangen.“

„Treibe nur keinen Spott damit, es könnte schnell zum bitteren Ernst werden, wenn es fremde Ohren erlauschen“, mahnt ihn die Mutter eingedenk der kurz zuvor von ihm selbst erhobenen Warnung. „Und nun geh schön brav durch die Stadt, wie es dein Vater geheißen hat, damit du schnell gesund wirst. Vielleicht triffst du auf unseren Herrn Bürgermeister und lässt dich gleich zum Stadtschreiber machen?“ Sie schiebt ihren Ältesten aus dem Garten und wendet sich dem Haus zu. Eine Kontrolle der Mädchen wäre sicher angebracht. Der Anstrich der Stühle erfordert viel Geschick, soll er dem Anspruch des Tischlermeisters entsprechen.

Ruprecht betritt indes die Gasse und wendet sich gen Westen. Die Morgensonne wärmt ihm gehörig den Rücken und gemahnt ihn, den Nacken vor den brennenden Strahlen zu schützen. Da ihn die Pflicht heute nicht zur Eile treibt, geht er gemächlichen Schrittes und besieht sich die Grundstücke entlang des Weges. Es ist nicht zu übersehen, dass die Stadt gerade einen Umbruch erlebt. Hinter der Bach sind die Anwesen von Zäunen begrenzt und die Häuser ducken sich mit ihren schlichten Wänden aus grobem Holz unter den Grassoden der buckligen Dächer. Die Nordseite der Gasse ist nur hin und wieder mit Häusern besetzt, was vor allem auf die drei großen Stadtbrände von vor über siebzig Jahren zurückzuführen ist, die seinerzeit die Stadt fast vollständig verwüsteten. Vorn, ab dem Wirtshaus und der Quergasse „Uff der Bach“ verkünden massive Steinhäuser von neuen Besitzern und wachsendem Wohlstand. Hier hätte es ein Feuer deutlich schwerer, das Hab und Gut der Besitzer aufzuzehren.

Gerade hier will sich Ruprecht umschauen, ob sich seine Vorbehalte gegen die neureichen Händler nicht bestätigen und so führt ihn sein Schritt in Richtung Nikolaitor. Die Häuser sind bis an die Gasse herangebaut und reihen sich ohne Zwischenraum aneinander, so dass der Blick in die dahinterliegenden Gärten verwehrt bleibt. Einige Händler haben die Fassaden mit Hofeinfahrten durchbrochen, welche die Aussicht auf die gepflasterten Innenhöfe und die Hinterhäuser ermöglichen. Die bedauernswerten Bewohner dieser Häuser müssen sich offensichtlich mit nur vereinzeltem Grün zufriedengeben, das sich nur mit Mühe gegen das Grau und Braun der Steine durchsetzt. Ruprecht wird klar, dass dies der Tribut ist, den die Händler zu leisten haben, um ihre Warenlager in angemessener Größe zu errichten.

„Gibt es in Preschers Tischlerei nichts zu tun, dass der Herr Sohn am helllichten Tage träumend durch die Stadt schlendert und Maulaffen feilhält?“ Hans von Pirne aus dem Chemnitzer Gässchen ist ihm unbemerkt in den Weg getreten, so dass Ruprecht den alten Leinenhändler um ein Haar angerempelt hätte.

„Entschuldigt nur, Meister Hans, ich war etwas in Gedanken.“

Der Alte blickt ihm prüfend ins Gesicht und zieht sehr bedeutungsschwanger die Brauen in die runzlige Stirn. „Das habe ich gesehen, mein Junge. Und sehr lustig waren die Gedanken eher nicht, wie?“

„Ach was, ich habe nur überlegt, wie arm die Fernkaufleute dran sind, dass sie für ihre Warenlager jedes Grün im Hofe opfern müssen. Wie gut wir es haben, einen Garten hinter dem Haus unser Eigen zu nennen.“ Ruprecht weist auf das offene Tor neben sich und der Leinenhändler stimmt ihm zu. „Das mag richtig sein, aber man kann im Leben nicht alles haben. Vor der Stadt, in der Niklasgasse, da kann man sich neben den Lagerhäusern einen Garten zur Erbauung leisten. In der Stadt ist ein solcher Luxus viel zu teuer. Dafür ist man hinter der Stadtbefestigung aber viel besser geschützt. Nun frage mich, was ein Händler vorzieht. Was meinst du, warum ich im Chemnitzer Gässchen mein Geschäft aufgeschlagen habe und nicht weiterhin in der Johannisvorstadt sitze?“

„Ich dachte, weil das Geschäft nicht mehr so gut läuft und Ihr Euch zur Ruhe setzen wollt, weil Ihr zu alt seid?“

„Damit kannst du ihm doch nicht kommen, Tischlergesell’! Der Hans meint, noch jung zu sein, auch wenn bei jeder Bewegung die Gelenke knacken, als müssten sie gleich bersten. Im Übrigen laufen seine Geschäfte so gut wie eh und je.“ Schmunzelnd tritt der Mathis Arnold an die zwei heran. Er ist in Ruprechts Alter, hat aber schon Weib und Kind. Als Hufschmied verfügt er an der Westseite des Rossmarktes über einen nur allzu günstigen Standort für sein Geschäft. Wenngleich recht jung an Jahren, hat er als Meister in seinem Handwerk einen guten Ruf und wie es heißt, soll er demnächst gar als der jüngste Ratsherr seit Menschengedenken ein gewichtiges Wörtchen in der Stadt mitreden. Trotzdem ist er als umgänglicher Mensch allgemein sehr beliebt und keine Hoffart ist ihm nachzusagen.

„Verzeiht, wenn ich mich einmische, während ihr vertraut plaudert. Aber ich hörte, dass der Herr von Pirne alt genannt wurde, was ja wohl überhaupt nicht sein kann. Derer von Pirne sind immer in den besten Jahren, auch wenn sie mit schlohweißen Haaren nicht mehr die Treppe herabkommen, so wie seinerzeit der Vogt im Hohen Turm.“

Jedem anderen hätte der Alte die Lästerei wohl verübelt, nicht aber dem jungen Schmiedemeister. „Lass mir meine Ahnen in Ruhe, du Lästermaul. Wenn der Vogt damals hätte die Treppe hinuntergekonnt, er hätte deinem Ahnen fürderhin das Schmieden verboten, denn der hat sicher des Teufels Fuß beschlagen.“

Die beiden Männer lachen lauthals über ihren Scherz, während Ruprecht still den Disput der zwei verfolgt. So sieht also Erfolg aus: der Alte hat einen guten Handel betrieben, der eine große Familie zu ernähren vermochte, während der Junge nach denkbar kurzer Gesellenzeit schon den Meisterbrief erwarb und den Betrieb des Vaters übernahm. Was aber hat er selbst vorzuweisen? Der Vater übergibt die Tischlerei an den Zweitgeborenen, weil er selbst als der eigentliche Erbe nicht für das Handwerk taugt! Wofür ist er überhaupt gut auf dieser Welt?

„Hier sind wir, Ruprecht, hier! Nimmst du uns überhaupt wahr oder träumst du derweil von lockeren Jungfern?!“ Erschrocken blickt Ruprecht auf seinen Freund Mathis, der ihn am Ärmel zupft. „Bist du jetzt wieder da? Was lässt dich denn ringsum die Welt vergessen?“

Verlegen wischt sich Ruprecht die Nase. „Was ist es verwunderlich, dass die Gedanken abschweifen. Als Handwerksmeister komme ich nicht in Frage, denn ich scheine das Missgeschick gepachtet zu haben. Was auch immer ich beginne, es endet für mich in einer Katastrophe. Gestern habe ich mich fast mit einem Stemmeisen erstochen! Jetzt will mein Vater die Tischlerei an den Paul übergeben und ich soll Stadtschreiber werden.“

Überrascht blickt Hans von Pirne auf. „Nanu, Ruprecht, woher weiß dein Vater, dass wir einen neuen Stadtschreiber suchen wollen? Wir sind uns im Rat noch gar nicht einig darüber geworden. Da muss einer von den Ratsherren geschwätzt haben!“

„Was weiß ich, ob da einer geschwätzt hat. Aber mein künftiger Herr Schwiegervater will mich gern auf dieser Stelle sehen und da muss er mir gegenüber etwas verlauten lassen, nicht wahr?“

„Da magst du recht haben. Wessen Tochter willst du zum Weib nehmen?“

Ruprecht zuckt mit den Schultern. „So fragt man Leute aus. Ihr werdet es schon rechtzeitig merken. Wichtiger scheint mir, dass Ihr als Ratsherr meine Bewerbung unterstützt. Ich glaube, ich kann dabei jede Unterstützung gebrauchen.“

Der Schmied schlägt dem verhinderten Tischler betont sachte auf die Schulter. „Also eines muss ich sagen: Dein Vater hat unbedingt recht. Du wirst nie ein guter Meister sein können. Bei jedem Stück, welches du anfängst, brauchst du einen Medikus, der dich wieder zusammenflickt. Hast du überhaupt schon ein Möbelstück fertiggestellt, wo nicht dein Blut dran klebt?“

Wütend will Ruprecht das Weite suchen, denn das Gesagte ist ein wenig arg übertrieben. Mathis jedoch hält ihn zurück. „Sei nicht gleich beleidigt, ich habe nicht gesagt, dass du Schund herstellst. Das wäre gelogen. Und dass du dich oft verletzt, ist nicht zu leugnen. Aber Schreiben und Rechnen kannst du viel besser als jeder andere in der Stadt, weswegen es nur recht und billig ist, dich zum Schreiber zu machen. Wie mir zu Ohren kam, versuchst du dich sogar beim Herrn Pfarrer im Latein. Herr von Pirne, Ihr solltet unbedingt für den Ruprecht Prescher im Rat eintreten. Vielleicht wäre das erholsam für das Stadtsäckel, wenn Ruprechts Gewissenhaftigkeit und die Steuerrechnung aufeinanderträfen?“

Der alte Leinenhändler blickt pfiffig auf die beiden Freunde. „Geschickt stellt ihr beiden es an, andere für eure Ziele einzuspannen. War das von vornherein so geplant oder hat sich dieses Geplänkel tatsächlich so ergeben? Aber wie dem auch sei, die Idee scheint mir von Vorteil für die Stadt und ich werde sie sofort dem Herrn Bürgermeister vortragen, zumal ich ohnehin auf dem Weg zu ihm bin. Gänzlich ungeeignet erscheint mir der Prescher-Junge nicht. Mit Worten weiß er umzugehen und als Schreiber hat er das Interesse der Stadt in fremden Mauern zu vertreten. Ich will es also vortragen, nur versprechen will und kann ich nichts.“

Überschwänglich ist Ruprecht versucht, dem Alten zu danken, doch der winkt energisch ab und wendet sich betont eilig der Gasse „Im kleinen Sessel“ zu, die ihn zum Holzmarkt führt und dann weiter zum Markt mit dem Rathaus.

Mathis schmunzelt seinen Freund an. „So haben sich dein Vater und dein künftiger Schwiegervater den Werdegang vermutlich nicht vorgestellt. Nun ist denen gewissermaßen das Zepter des Handelns aus der Hand genommen. Der Hans von Pirne ist der verkörperte Tatendrang. Oh, die langen Gesichter der beiden hätte ich gern gesehen.“

Ruprecht knufft ihn in die Seite. „Als Schmied bist du gut, als Hufschmied noch besser, aber am besten verstehst du dich offenbar auf das Ränkeschmieden. Wenn ich nun lieber im Kontor des Kupferschmiedehammers vor der Stadt arbeiten würde?“

„Erzähle doch nichts! Schon auf dem Weg dahin würdest du dir in der Klostergasse das Bein brechen, so ein Pechvogel wie du einer bist. Genug davon, komm mit zu mir in meine Schmiede. Ich bin gerade beim Umbau und könnte dein kluges Köpfchen gebrauchen. Außerdem wartet dort ein Krug kühlen Bieres auf uns, den du sicher nicht verschmähen wirst.“

Die Glocke von Sankt Jacobi dröhnt vom Markt herüber und der Klang sagt den Leuten in der Gasse, die da „Im Sessel nach dem Rossmarkt“ genannt wird, dass die Mittagsstunde gekommen ist. Eilig verabschiedet sich Ruprecht vom Hufschmied und bedankt sich artig bei dessen Weib für das Bier. Schnellen Schrittes quert er den Rossmarkt und nimmt bei Jocuff Hillebrands Anwesen den Durchgang zur Langgasse, die direkt zum elterlichen Haus führt.

Schon von Weitem gewahrt er den Auflauf im hinteren Teil der Häuserreihe. Die Nachbarn haben sich vor dem Prescherchen Anwesen eingefunden und bemerken in ihrer eifrigen Debatte nicht, dass er sich nähert. Verwunderung klingt aus ihren Worten, wenn nicht vielleicht Unverständnis.

„Darf ich bitte vorbei?“ Fast bleibt Ruprechts Wunsch ungehört, da wird die Roselerin seiner gewahr. Gleich einer Fanfare tönt ihre Stimme über die Vielzahl eifriger Wortmeldungen der Anwohnerinnen und natürlich auch einiger Männer aus der Nachbarschaft, deren Inhalt und Sinn sich Ruprecht nicht erschließen.

„Da ist er ja endlich, der Ruprecht! Junge, was hast du angestellt? Schon zweimal war der Bote vom Rat hier, um dich zum Bürgermeister zu holen! Zweimal! Es scheint also wirklich von Wichtigkeit zu sein und ausgerechnet da bist du nicht zu Hause! Sag schon, was dir passiert ist, du Unglücksrabe? Du weißt, was mein Mann mit dir vorhatte! Hoffentlich hast du es nicht verdorben!“

„Wie werde ich denn?“, versucht Ruprecht das erregte Weib zu beruhigen. „Ich war in der Stadt unterwegs und habe mit ein paar Leuten gesprochen, die mir wohlgesonnen sind. Das kann keinen Schaden verursacht haben, Mutter Roselerin.“

Eben noch von atemloser Neugier zum Schweigen getrieben, verfällt die Menschentraube in ein empörtes Gewisper. Man hatte auf desaströse Antwort gehofft, die dem grauen Alltag eine pikante Würze verliehen hätte und so gibt man mit einem gewissen Widerwillen den Weg frei.

Ruprecht bemerkt sehr wohl die Enttäuschung der Nachbarn. Mit einem überlegenen Lächeln auf den Lippen erwidert er den verkniffenen Blick der Meierin von gegenüber, als er sich den Weg zur Haustür bahnt.

Weder der Vater noch die Mutter, nicht einmal die neugierigen Schwestern scheinen den Auflauf in der Gasse bemerkt zu haben. Abweisend zeigt sich die verschlossene Tür und der junge Mann stößt mit einem lauten Klacken den Riegel zurück. „Hallo, ich bin wieder allhier! Ist keiner zu Hause?“, gibt er sein Eintreffen bekannt und drückt hinter sich die Tür zu.

Tatsächlich befindet sich niemand in der Stube, was Ruprecht dann doch verwundert, denn es ist Essenszeit und er hatte geglaubt, die Mutter am Herd vorzufinden. Über dem Feuer köchelt zwar die Suppe im Kessel, aber niemand zeigt sich, ihn zu begrüßen. So wendet er sich der Werkstatt zu, wo dann tatsächlich auch alle beisammensitzen. Offensichtlich steht auch hier seine Person im Brennpunkt des Gesprächs, denn bei seinem Eintritt tritt vorerst augenblicklich ein verlegenes Schweigen ein, welches der Vater jedoch schnell zu beenden weiß. „Es wird Zeit, dass du heimkehrst, Großer. Du scheinst eine gefragte Person in der Stadt zu sein. Bereits zweimal schickte der Bürgermeister nach dir. Hast du auch nur eine entfernteste Ahnung, worum es geht? Die Nachbarn wetzen schon ihre ungewaschenen Mäuler und ich befürchte, dass Michael Roselers Plan scheitert, bevor er den ersten Schritt für dessen Umsetzung in die Wege leiten konnte. Nun lass dir nicht die Würmer aus der Nase ziehen: was will der Bürgermeister von dir, Junge?“

Erwartungsvoll blicken ihn die anderen an und die Mutter ist versucht, frohen Mut in ihren bangen Blick zu legen. „Sag schon, müssen wir mit Unheil rechnen? Ich fände es besser, einem Lindwurm sehenden Auges gegenüber zu stehen, als von hinten gefressen zu werden.“

Erstaunt mustert Ruprecht die Seinen. „Wie kommt ihr auf dergleichen? Wenn ich schon Schaden verursache, dann doch wohl nur an mir selbst. Noch nie hatte mein Ungeschick anderer Leute Schaden im Gedinge. Möge es auf ewig so bleiben.“

Der alte Tischler mustert wenig zufrieden seinen Ältesten. „Soll das ein Trost sein? Mit deinen zwei linken Händen treibst du deine Mutter in die Verzweiflung und mich in den Wahnsinn. Nun sag endlich, warum schickt der Bürgermeister nach dir? Womit muss ich nun wieder rechnen?“

Endlich erzählt Ruprecht von seinem Zusammentreffen mit Hans von Pirne, dessen Überraschung und schließlich dessen Gang zum Rathaus. Immer sorgenfreier wird das Mienenspiel der Eltern je länger er berichtet und die kummergezeichnete Stirn der Mutter wird vom Kranz der Lachfalten um den vor Glück glänzenden Augen überstrahlt. „Wenn das kein Grund zur Freude ist“, meint sie zu ihrem Mann, „trifft er ausgerechnet auf den alten Pirne! Der ist der erste Mann im Rat. Es ist jetzt schon der vierte Bürgermeister, den er aus dem Hintergrund lenkt: den Syptenheyn, den Springer, den Beyer und jetzt der Stobener. Und allemal hat es der Stadt gutgetan.“

„Der Große ist nur mit den Händen ungeschickt, nicht mit dem Kopf!“, entgegnet der Vater. „Dieses Gespräch wird den Werdegang über die Maßen beschleunigt haben. Der Hans von Pirne ist schon ein rechtes Schlitzohr. Wie es heißt, soll er anno dreiundzwanzig dem Kurfürsten die Hohe und Niedere Gerichtsbarkeit sowie den Zoll abgerungen haben, als der gerade knapp bei Kasse war.“

„Da kann er kaum älter gewesen sein als der Ruprecht heute“, wirft Paul ein, der es sich auf der Hobelbank bequem gemacht hat.

„Die von Pirnes waren schon immer recht vermögend und eben auch nicht auf den Kopf gefallen“, erklärt der Meister. „Aus dieser Lage ist es leicht möglich, Einfluss zu nehmen. Da hören mitunter sogar die Fürsten auf einen, wenn man es ein bisschen geschickt anstellt. So konnte der Ratsherr von Pirne auch sechsundzwanzig Jahre später die Gerichtsbarkeit auf den hiesigen Landstraßen ergattern – für die Stadt natürlich.“

„Und warum treibt er seinen eigenen Handel nicht mehr so gut voran?“, wirft Ruprecht mit einem verständnislosen Kopfschütteln ein.

„Weil ihm das Geschäft zu viel wird, zu anstrengend ist. Er hat nicht einen ungeschickten ältesten Sohn zum eigentlichen Nachfolger so wie ich, sondern gar keinen. Deshalb bringt er seinen Handel langsam zum Erliegen und sorgt gerade noch so für seinen Lebensunterhalt im leichten Wohlstand.“ Damit beendet der Vater den Disput und bedeutet der Mutter, dass es an der Zeit sei, das Mittagsmahl zu sich zu nehmen. Anschließend würde Ruprecht immer noch rechtzeitig im Rathaus erscheinen, denn der Herr Bürgermeister wird kaum über Mittag hungern.

Als Ruprecht endlich das Haus verlässt, haben sich die Nachbarn lange verlaufen, ohne jedoch gänzlich ihre Neugier zügeln zu können und so manche Nase zeigt sich in den nahestehenden Fenstern und Türen. Um den unausweichlichen Fragen zu entgehen, wählt Ruprecht den Umweg über die Johannisgasse. Entlang der Stadtmauer wird ihm sicher kaum jemand begegnen. Außerdem kommt er so am Tor des Ratsdieners vorbei und nur dieser konnte der Bote des Stadtoberhauptes gewesen sein. Vielleicht ist er zum Mittagsmahl nach Hause gegangen und er vermag ihn noch anzutreffen? Dann könnte er ihn fragen, ob die Vorladung nicht mit der Stelle als Schreiber zu tun hat.

Klein und einsam hockt die Kate des Ratsdieners neben dem Johannistor. Fast scheint es, als klammere sich das schiefe, hölzerne Geviert an die Stadtmauer und teile mit dieser die zweihundert Jahre seit der Errichtung. Sehr hoch scheint der Wert des Bewohners beim Rat nicht angesiedelt zu sein, denn die Behausung ist gar zu jämmerlich.

Es mag dem Aussehen der Hütte zuzuschreiben sein oder Ruprechts Angst, noch mehr Schaden anzurichten, dass er nur ganz zaghaft gegen die rissige Tür klopft, kaum einen Widerhall erzeugend. Dennoch wird er im Inneren wahrgenommen und gleich darauf öffnen sich die oberen Läden der waagerecht wie senkrecht jeweils zweigeteilten Tür. Es ist nicht der Ratsdiener, der sich zeigt und auch nicht die erwartete schmuddelige Alte mit den zerzausten grauen Haaren und der Warze auf der Nase. Ein reinliches Weib mittleren Alters mit nussbraunen Augen und rötlichen Locken, welche erste Silberfäden durchziehen, lehnt sich heraus und lächelt den Besucher freundlich an. „Schau an, wenn das nicht der Sohn vom Tischlermeister Prescher ist! Was führt dich in unsere Hütte? Wenn dich der Rat schickt, für die Hütte braucht man eher einen guten Zimmermann als einen Tischler, wenn schon kein Maurer angedacht ist, solide Steinwände hochzuziehen.“

Erschreckt weicht Ruprecht einen Schritt zurück. „Ich komme nicht vom Bürgermeister, nein, ganz im Gegenteil, dieser hat mich rufen lassen und nun wollte ich vom Ratsdiener wissen, worum es überhaupt geht, bevor ich mich ins Rathaus begebe. Ich hatte gehofft, ihn hier zu Mittag zu treffen.“

„Ach, woher denn“, gibt ihm das Weib Bescheid, „der Niklas ist lange wieder fort. Nur auf einen Sprung kam er und schlang seinen Brei glatt im Stehen. Eigentlich hätte es ihm den Schlund verbrennen müssen. Es nützt dir nichts, dich nun zu sputen. Er wird lange schon im Rathaus sein und du wirst tatsächlich erst dort erfahren, was man von dir will.“

Grüßend winkt Ruprecht zum Dank und wendet sich der Johannisgasse zu, die im Spalier der Häuser zum Markt hinführt. Auf jeder Seite der Gasse stehen zehn Häuser aufgereiht, die vom Wohlstand der Besitzer künden. Ganz vorn, da wo das Pflaster des Markts beginnt, prahlen beiderseits der Gasse die steinernen Fassaden vom gehobenen Stand der Familien Schütz und Neefe, die im Rat ein gewaltiges Wörtlein mitzureden haben. Der Ulrich Schütz ist inzwischen fortgeschrittenen Alters und hat sich ein wenig von der Stadtpolitik zurückgezogen. Sein letzter großer Streich war die Unterstützung für den Bau des Kupferhammers an der Straße nach Rochlitz. Anders der Hieronymus Schütz, dessen Haus den Beginn auch der Gasse „Uff der Bach“ markiert. Dieser ist noch relativ jung, voll Elan und ist aktiv an der Lenkung des Geschickes der Stadt beteiligt.

Heute ist kein Markttag und so kann Ruprecht ungestörten Schrittes den großen Platz vor dem Rathaus queren. Eilig hastet er die breite Treppe zur Eingangstür hinauf, nimmt die Stufen zum Obergeschoss, wo er die Amtsstube des Bürgermeisters weiß, an deren Tür er mit einem energischen Klopfen Einlass erbittet.

„Herein!“, tönt es gebieterisch aus dem Zimmer und Ruprecht tritt geflissentlich ein. „Gott zum Gruße, Herr Bürgermeister. Der Ratsdiener hat nach mir gefragt und so bin ich zu Euch geeilt, bevor er sich nochmals auf den Weg machen muss.“

Hans Stobener, der nun schon in seiner zweiten Amtszeit nach dem Jahr einundfünfzig die Geschäfte des Stadtoberhauptes wahrnimmt, füllt mit seinem ausladenden Körper den gewaltigen Armsessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch ziemlich aus und eher schlaff denn behäbig hebt er den Kopf, um den Eintretenden müden Blickes zu visitieren. „Du bist also der Sohn vom Tischlermeister Prescher? Du musst sehr von dir eingenommen sein, wenn du gleich die Ratsherren vor deinen Wagen zu spannen traust. Oder wie muss ich es verstehen, wenn der Herr von Pirne für dich ein Wort einlegt, darum bittet, die Stelle des Stadtschreibers dir zu übertragen, zumal dieser Schritt offiziell noch gar nicht zur Debatte steht?“ Nunmehr sehr streng blickt er in die Augen des vor ihm stehenden jungen Mannes. „Aber, so es mir zu Ohren gekommen ist, kannst du manierlich mit der Feder umgehen. Wir wollen es also auf einen Versuch ankommen lassen.“

Ruprecht verbeugt sich ehrfürchtig vor dem Mann, wenn nicht gar in Demut. „Ich bin gern bereit, mich Eurem Examen zu stellen, Herr Bürgermeister Stobener. Aber den Ratsherrn habe nicht ich zu Euch gesandt. Wie hätte ich das tun können? Von sich aus hat er sich erboten, für mich diesen Schritt zu gehen – was mich natürlich sehr erfreute. Wenn Ihr mich nun zu prüfen gedenkt, so gestattet mir, Feder und Tinte zu holen.“

Der Bürgermeister winkt ab. „An den Utensilien soll es nicht scheitern. Was wäre das für ein Rathaus, wenn sich hier nicht Feder, ein Schreibbogen, Tinte und Löschsand fänden. Dort auf dem Pult ist alles bereit, was du benötigst.“

Tatsächlich ist in der Ecke des Raumes ein Stehpult vorhanden. Dass es seiner Bestimmung entsprechend durchaus genutzt wird, erkennt man an den dunklen Flecken, die die Wand zieren. In der Schale obenauf liegen drei Federn unterschiedlicher Dicke, deren Kiele noch zu schneiden wären, wozu ein Messerchen bereitliegt. Im irdenen Töpfchen daneben glänzt dunkel die Tinte. Sauber zugeschnitten hebt sich vom dunklen Untergrund der helle Bogen. Die hohe Flasche enthält sicher den seltenen blauen Koblenzer Löschsand zum Trocknen der Tinte. Blaue Krümel haben sich auf die Platte unmittelbar neben dem Flaschenboden verirrt.

Auf die herrische Geste des Stadtoberhauptes eilt Ruprecht an das Pult und prüft die Federn. „Gestattet Ihr, Herr Bürgermeister, dass ich erst die Federn anspitze? Die Schrift gäbe sonst kein rechtes Bild, auch die Zeilen müssen erst noch angerissen werden.“

Es scheint fast, als läge ein gewisses Quantum Anerkennung im gnädigen Nicken Hans Stobeners. Sollte dies schon der erste Stolperstein der Prüfung gewesen sein? Noch bevor sich Ruprecht darüber im Klaren ist, drängt ihn die Stimme des Prüfers: Allergnädigster Herr Graf von Waldenburg …“

Schnell taucht die Feder in die schwarze Tinte und es ist einzig des Schreibers elegantem Schwung zu verdanken, dass kein Klecks, sondern ein gewagter Schnörkel zum Buchstaben hin sich formt. Ruprecht merkt wohl, dass der Bürgermeister recht gekonnt in wohlgesetzten Abständen Pausen beim Diktieren lässt. Dennoch hat er Mühe mitzuhalten und so erscheint ihm das erzielte Schriftbild überhaupt nicht von gewohnter Klarheit und er nimmt sich vor, das Schriftstück später ins Reine zu übertragen.

„… mit untertänigstem Dank, der Bürgermeister der Stadt Chemnitz, Hans Stobener. Chemnitz im Jahre des Herrn 1466, am Freitag, dem 24. August.“

Endlich ist der Brief zu Ende gebracht und Ruprecht trocknet gewissenhaft die Zeilen, bevor er den Bogen übergibt.

„Na, da wollen wir sehen, ob wir schon den neuen Schreiber gefunden haben.“ Konzentriert fliegt der Blick des Prüfers zwischen Ruprechts Blatt und der Vorlage hin und her. Fast scheint es, als sei die Schreibkunst des Hans Stobener keineswegs so weit ausgeprägt, wie man für einen Mann dieses Amtes annehmen sollte. Immer wieder murmelt er das Gelesene, als könne er es nur so verstehen. Aber der Schein trügt, die Konzentration dient ausschließlich dem Vergleich.

„Ich kann keine wesentlichen Fehler entdecken, Prescher. Zügig geschrieben ist es und gut lesbar allemal. Der Rat wird sicher meinem Vorschlag folgen und Ihn zum Sekretär berufen.“

Der Gesichtsausdruck des Bürgermeisters hat eine Wandlung von der Abwartehaltung hin zur Herzlichkeit vollzogen und vermittelt Ruprecht das Hochgefühl ehrlich entgegengebrachter Anerkennung. „Es wäre mir schon recht, in den Dienst der Stadt zu treten, zumal mir im Handwerk recht wenig Glück beschieden ist.“

„Das pfeifen schon die Spatzen von den Dächern, Prescher. Nun, vielleicht wollte Gott es so, dass du nicht Handwerker wirst, sondern Schreiber und hat deswegen deinen Weg derart verschlungen gestaltet. Aber gemach, mein Junge, warten wir es ab, was die Ratsherren letztendlich zu sagen haben. Es ist eine unbedingte Vertrauensstellung, um die Er sich bewirbt. Es gilt nicht nur, das Wirken des Rates aufs Papier zu bringen, sondern auch in diplomatischer Mission der Stadt zu dienen. Wir werden Ihn in Kenntnis setzen, sobald ein Beschluss gefasst ist.“

Ruprecht schlägt das Herz vor Freude bis zum Hals. Trotz der Vertröstung auf später ist de facto die Stellung an ihn vergeben. Die Ausdrucksweise des Bürgermeisters, dieser ständige Wechsel der Anrede in der ersten und dritten Person zeigt deutlich, dass dieser auf seiner Seite steht. Außerdem: wer würde dem Wort Hans Stobeners widersprechen, vornehmlich, wenn noch zwei andere gewichtige Stimmen im Rat auf seiner Seite sind? Er verneigt sich, nach seiner Meinung recht gesittet, und wischt auf den huldvollen Wink des Stadtoberhauptes aus dem Zimmer.

Wenig später steht er wieder auf dem Marktplatz mit dem Rücken zum Rathaus. Hoch am Firmament lacht die Sonne und schmeichelt seinem Hochgefühl. Weil man so glückliche Momente eher mit anderen teilt, eilt Ruprecht schnurstracks nach Hause.

Es ist normalerweise nichts Ungewöhnliches, wenn Hans Prescher an der Fassade seines Hauses Ausbesserungsarbeiten ausführt. Die Vergänglichkeit des Holzes verlangt allenthalben Zuwendung, welche man im Interesse der Erhaltung des Heims natürlich gewährt. Nur scheint es sehr zweifelhaft, warum der völlig intakte Fensterladen ausgerechnet heute nachgenagelt werden muss. Dem aufmerksamen Beobachter kann nicht entgehen, wie nebensächlich jeder Handgriff wirkt und wie häufig der Blick des Mannes wieder die Gasse hinabwandert. Nicht weniger unruhig ist sein Weib, welches eifrig am Flechtzaun die Weidenruten erneuert, dabei kein Stück vorankommt und nicht eine Handspanne zur Seite geht.

Als Uff der Bach der Ruprecht endlich um die Ecke kommt, fällt die Unruhe von beiden ab und die Arbeiten werden in größter Konzentration ausgeführt. Auf gar keinen Fall sollen der Sohn oder die Nachbarn ahnen, wie kribbelig ihnen ist. Aus den Augenwinkeln heraus vermag die Prescherin schon bald zu erkennen, dass Stolz und Selbstbewusstsein ins Gesicht ihres großen Sohnes geschrieben stehen und nicht länger die Zweifel am eigenen Können aus der Miene spricht wie nur allzu oft nach den so häufigen Fehlgriffen in der Tischlerei.

Kurze Zeit später wird auch dem Vater die optimistische Ausstrahlung des Sohnes bewusst. Da er die feinfühligen Winkelzüge seines Weibes zwar bewundert, aber niemals selbst anwenden könnte, poltert er geradezu: „Bist du endlich wieder zurück?! Ich dachte schon, sie hätten dich wegen der zwei linken Hände in den Kerker gesteckt. Nun, welchen tiefgreifenden Rat hat dir der Rat geraten?“

„Hans!“, protestiert Magdalena voll ehrlicher Entrüstung. „Du wirst den Großen noch aus dem Haus treiben mit deinen Bemerkungen!“

Während Ruprecht generös abwinkt – immerhin kennt er seinen Vater zur Genüge – schnieft dieser durch die Nase: „Was verstehst du davon, Mutter? Er ist keine zarte Jungfer und wird ein ehrliches Männerwort verkraften. Wenn er deswegen das Weite sucht, dann kann ich ihn auch nicht halten.“ Gutgelaunt schlägt er seinem Sohn auf die Schulter, dass es recht laut knallt. „Oder siehst du das anders, Junge?“

Ruprecht ist von so blendender Laune, dass er am liebsten singen würde und die ohnehin nicht bös gemeinten Worte vermögen ihn in keiner Weise zu betrüben. „Lasst mal gut sein, ich bin kein Tonfigürchen. Aber bevor euch die Neugier auffrisst: Ich bin vom Bürgermeister auf meine Schreibkunst getestet worden und er schien sehr zufrieden. Wenn jetzt noch der Rat zustimmt, dann werde ich der neue Stadtschreiber sein. Ich denke, das ist einen Krug besten Bieres wert, oder?“ Beifall heischend sieht er seinem Vater in die Augen, doch der schüttelt nach kurzer Überlegung mit dem Kopf. „Warte ab, Großer. Erst muss das Haus stehen, bevor man die Tür einsetzt. Noch hast du die Stelle nicht.“

„Richtig, da stimme ich dir zu. Allerdings müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn die Unterstützung durch den Bürgermeister Stobener, dem Ratsherrn von Pirne und Vater Roselers Quelle nicht ausreichen würde.“ Ruprecht ist sich seiner Sache sehr sicher, doch der Vater mahnt: „Wenn es für die Stadt von Nutzen ist oder es dem Landesherrn so gefällt, dann kann trotz allerbester Schreibkunst die Entscheidung ganz anders ausfallen. Habe also lieber Geduld, bis man dich wirklich benannt hat und freue dich dann doppelt.“

„Das ist sehr weise gesprochen“, mischt sich die Mutter ein, „seinerzeit der Bauerngeneral Rudolf hat auch Großes geleistet für die Unsrigen und musste dennoch den Undank der Nachbarn ertragen und auf Wunsch der Obrigkeit aus dem Dorfe ziehen. Warte also die paar Tage und trinke dann darauf dein Bier. Du kannst dir heute einen Krug voll kaufen, aber trinke ihn nicht auf den Erfolg, den musst du erst sicher haben.“

Die nächsten Tage verbringt Rudolf wie im Fieber. Von morgens bis abends steht er in der Werkstatt und verrichtet die einfachsten Arbeiten. Seine mangelnde Konzentration ist gar zu auffällig, so dass ihn der Vater nur Rundholz auf Länge schneiden lässt. Immer wieder malt er sich aus, wie ihm das Amt des Stadtschreibers angetragen wird. Gewiss doch, er freut sich sehr auf diese Aufgabe und er hofft inbrünstig, dass die Entscheidung zu seinen Gunsten fallen wird. Dennoch sitzt ganz hinten in seinem Kopf eine kleine Ungewissheit, die ihm der Vater mit seiner Mahnung eingegeben hat.

Wie froh ist er, dass er mit seiner Martha zusammengefunden hat, die ihn während der abendlichen Spaziergänge durch die Gassen und vor der Stadt an sein Glück zu glauben ermuntert hat. Nur der alte Roseler zeigte eine merkwürdige Reaktion, als er von Ruprechts Zusammentreffen mit dem Ratsherrn von Pirne erfuhr. „Es war dir wohl nicht sicher genug, dich auf mich zu verlassen? Meinst wohl, dass ein alter Schuhmachermeister nichts mehr zu Wege bringt?“, hatte er geklagt und Ruprecht letztendlich empfohlen, ganz auf seine Hilfe zu verzichten.

„Wenn das mit der Schreiberei nichts wird, sehe ich schwarz für deine Zukunft!“, holt Paul seinen Bruder in die Gegenwart zurück. Sehenden Auges träumst du und vergisst das Arbeiten. Die Rundhölzer schneidest du nicht zum Vergnügen! Davon brauche ich bis Mittag zweihundert Stück – nicht nur auf die richtige Länge gebracht, sondern auch gefast! Das wird ein Geländer für die Badestube im Spitzgässchen.“ Kopfschüttelnd sieht er Ruprecht an. „Menschenskind, Großer, lass dich nicht so gehen!“

Ruprecht hebt die Schultern. „Was soll ich machen, die Warterei treibt mich noch in den Wahnsinn. Aber das kann dir egal sein, der neue Herr der Tischlerei bist du.“

„Es ist mir eben nicht egal und die Werkstatt hätte dir gehören können. Ich hoffe nicht, dass wir uns deswegen in Zukunft streiten werden. Trotzdem, sieh zu, dass die Arbeit zügig und vor allem unfallfrei erledigt wird!“ Wütend schlägt Paul die Tür hinter sich zu, dass die Lederbänder zu reißen drohen. Kreidebleich starrt der Gescholtene auf das dunkle Türblatt. Das hat er nicht gewollt, keinen Streit mit den Geschwistern! Die jetzige Lage hat er einzig und allein sich selbst zuzuschreiben!

Eben will er dem Bruder nacheilen, da hört er in der Stube Paul zu jemand sprechen. Gleich darauf öffnet sich die Tür erneut und es tritt der Herr von Pirne in die Werkstatt. „Will ich doch mein Schreibwunder einmal besuchen. Guten Morgen, Preschers Junior. Von dir hört man ja tolle Sachen. Du musst – wenn man dem Herrn Bürgermeister glauben kann – tatsächlich ein richtiggehendes Schreibwunder sein. Jetzt würde ich mich gern davon überzeugen, aber du hast gerade anderes zu tun.“

Ruprecht weiß nicht so recht, wie er sich verhalten soll. Am liebsten würde er die Frage stellen, ob vom Stadtrat schon eine Entscheidung gefällt worden wäre, aber das scheint ihm zu unverschämt und so antwortet er nur: „Ich kann gern die Arbeit unterbrechen, sie ist ohnehin gerade mal eines Lehrbuben würdig. Nur müsst Ihr ein paar Augenblicke Geduld haben, dass ich die Schreibutensilien herbeischaffe.“

Lachend lehnt der alte Ratsherr ab. „Lass mal, Ruprecht Prescher. Ich werde doch dem Herrn Bürgermeister nicht misstrauen. Er wird uns im Rat kaum falsche Papiere vorgelegt haben und dein Brief, den er uns offerierte, hat uns allen sehr gefallen. So bin ich vom Rat beauftragt, dir deine Berufung mitzuteilen. Morgen zur neunten Stunde wirst du in der Schreibstube im Rathaus zum Amtsantritt erwartet.“

Wenngleich sich Ruprecht diese Mitteilung sehr gewünscht hat, so wie sie ihn jetzt erreicht, kommt ihm alles sehr unwirklich vor. Ihm rauscht das Blut in den Ohren und vor seinen staunenden Augen lässt der Schwindel die Werkstatt schwanken. Tastend sucht seine linke Hand über die Hobelbank. Mit weichen Knien lässt er sich endlich auf dem Hocker nieder. Während die Säge ihre scharfen Zähne, einem Raubtier gleich, in den linken Handrücken schlagen will, die rechte Hand das Werkzeug aus der Führung entlässt.

„Nun pass doch auf!“ Bleich vor Schreck ergreift von Pirne den Sägebügel und bannt die Gefahr einer ernsthaften Verletzung. „Jetzt verstehe ich vollkommen, warum dir dein Vater die Werkstatt nicht überlassen will. Du bringst dich noch selbst darin um!“

Sein Vorwurf ist nicht unberechtigt weiß Ruprecht. Eben diese unbedachten Handlungen stellen seine Eignung für das Handwerk nur zu deutlich in Frage. „Dein Platz kann nur in der Schreibstube sein. Dort bist du auf jeden Fall souverän“, ergänzt der Alte und der Gemaßregelte nickt zustimmend, während er die fünf Blutstropfen vom Handrücken leckt.

„Dank Euch, Meister Hans“, versucht der neu ernannte Schreiber die Situation zu lockern. „Darf ich Euch einen Krug Bier spendieren, als Dank für die frohe Kunde?“

Der Ratsherr wiegt den Kopf bedächtig. „Gegen einen Krug Bier wäre an sich nichts einzuwenden, aber so früh am Tag verdirbt er mir nur die Geschäfte. Lass mal, junger Prescher, morgen Abend komme ich gern herüber und dann darfst du mir den einen oder anderen Krug spendieren.“ Mit der Abgeklärtheit des erfahrenen alten Mannes klopft ihm der Gast auf die Schulter und wendet sich dem Ausgang zu. „Grüß mir den Meister und die Frau Meisterin!“, lässt er noch hören. Dann schlägt hinter ihm die Tür zu.

Ruprecht weiß vor Freude nicht, was er sogleich tun soll. Er könnte singen oder vor Freude schreien, aber das scheint ihm zu unangemessen und so eilt er aus der Werkstatt, den Seinen die frohe Botschaft zu überbringen.

Wie es sich in solchen Situationen nur allzu gern ergibt, sieht er sich völlig allein im Haus. Der Vater und der Paul sind in der Badestube, die Mutter wird Besorgungen erledigen und die Schwestern sind bei Mechthild in der Lehre. Weil er sich aber auch nicht den Nachbarn aufdrängen will, geht er in die Werkstatt zurück und wendet sich seiner Aufgabe zu. Es fällt ihm gar nicht auf, dass zwar seine Gedanken weiterhin abschweifen, die Arbeit nunmehr aber wie von allein durch seine Hände geht. Es ist noch lange nicht Mittag, als er alle Rundhölzer fertig geschnitten und gefast hat, worauf er sich entschließt, die Stäbe sogleich zum Vater in das Spitzgässchen zu bringen und ihm endlich die Neuigkeit zu unterbreiten.

Eilig belädt Ruprecht den Karren, den er vor der Hintertür der Werkstatt abgestellt hat und es bereitet ihm doch erhebliche Mühe, die zweihundert Rundhölzer rutschfest unterzubringen, dass sie nicht auf dem holprigen Pflaster herunterfallen. Zweifellos ist es einfacher, große Möbelstücke zu transportieren, als diese Unmenge Einzelteile. Vorsichtig hebt er die Holme an, dass die Last nur noch auf der Achse mit den zwei großen Rädern zu liegen kommt und es erleichtert ihn sichtlich, dass sich die Ladung nicht verschiebt. Langsam und behutsam rollt er das Gefährt in die Gasse und es folgt willig dem Druck des Lenkers. Bald schon hat er den Topfmarkt hinter sich gelassen und schiebt den Karren die letzten Schritte durch das Spitzgässchen.

Vor der Badestube steht Paul mit einem Fremden zusammen, dem er offensichtlich gerade etwas erläutert. Als er seinen Bruder entdeckt, bleiben ihm jedoch die Worte im Halse stecken und mit offenem Mund starrt er dem sich nähernden Karren entgegen. Sein Gesprächspartner wendet sich teils konsterniert, teils neugierig um, die Ursache der Unterbrechung zu ergründen. Weil ihm aber der profane Transport von Rundhölzern als Auslöser der Stockung im Gespräch nicht aufgeht, schüttelt er nur erstaunt seinen Kopf und entfernt sich in Richtung Hofbreite.

„Mach den Mund zu, die Milchzähne werden sauer!“, ulkt Ruprecht, als er vor der Badestube zum Stehen kommt. „Du hast gesagt, dass du bis Mittag die zweihundert Stäbe brauchst. Hier sind sie, fertig zum Einbau und ohne jeden Makel.“

Der Jüngere schluckt fassungslos. „Was ist los? Vor zwei Stunden war kein Vorwärtskommen zu erkennen und jetzt bist du fertig? Hat dir der Heilige Geist Beistand geleistet oder kannst du zaubern?“ Er greift in die Ladung und zieht drei Stäbe heraus, die bar erkennbarer Fehler sind und einander aufs Haar gleichen. Ohne es fassen zu können starrt er auf die Fuhre, während Ruprecht, vor sich hin pfeifend, ins Badehaus geht, um nach dem Vater zu sehen. Der kniet im Haus auf der Empore hinter den Badezubern und verankert soeben einen Pfosten, der später dem Geländer mit dem Handlauf Halt geben soll.

Ohne aufzublicken knurrt der Tischlermeister: „Geh aus dem Licht, du Schwätzer! Stehst draußen und tratschst mit dem Fremden, während ich mir die Finger verrenke, weil der blöde Pfosten keinen Halt finden will!“

Ruprecht muss schmunzeln. Immer hatte er geglaubt, der Alte würde nur auf ihn schimpfen, dabei geht es Paul in dieser Hinsicht nicht besser. „Ich habe nicht mit Fremden gesprochen, Vater. Ich bringe nur die Rundhölzer und will dir bei dieser Gelegenheit gleich mitteilen, dass ich ab morgen nicht mehr in der Tischlerei arbeite.“

Erstaunt fährt der Tischler herum. „Was denn, du bist es? Ich denke, du kommst mit der Arbeit nicht voran? Paule hat da so etwas verlauten lassen. Und was heißt, du arbeitest nicht mehr in unserer Werkstatt?“

„Na ja, hin und wieder werde ich in der Werkstatt schon noch mit zufassen, wenn ihr mich lasst. Aber hauptsächlich werde ich ab morgen in der Schreibstube meinem Tagewerk nachgehen. Eben war der Ratsherr von Pirne bei uns und hat mir die frohe Botschaft überbracht.“

So schnell es die ungelenken Knie zulassen, erhebt sich der Tischlermeister und schließt, was sonst überhaupt nicht seine Art ist, seinen Ältesten in die Arme. „Na, Gott sei es gedankt!“, seufzt er. „Nun wird doch noch alles so, wie wir es geplant haben. Hast du schon dem alten Roseler Bescheid gegeben?“

Ruprecht, dem die Umarmung nicht unangenehm, wohl aber ungewohnt ist, entwindet sich sacht dem väterlichen Griff. „Du bist der Erste, der es erfährt, das wollte ich so. Dann teile ich es dem Rest der Familie mit und erst dann all den anderen Leuten.“

Der Vater stimmt ihm zu, meint aber: „Ist schon recht so, nur geht es vor allen Dingen gerade die Roselers auch direkt etwas an. Ab sofort müssen sie für dich mit uns zumindest fast ebenbürtig sein. Also mache dich hin zum Haus des Schuhmachers und erzähle ihm alles. Gerade deine Martha dürfte es freuen, will sie bald dein Weib werden.“

Dieses Argument reicht aus, dass Ruprecht eilig aus dem Haus springt. Im Vorübergehen schlägt er Paul die flache Hand zwischen die Schulterblätter und meint: „Kannst jetzt den Karren abladen, Vater braucht das Holz!“, und hastet davon.

Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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