Читать книгу Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen - Gerd vom Steinbach - Страница 9
DIE LEUTE HINTER DER BACH
Оглавление„Kannst du nicht aufpassen?! Herrgott nochmal, der Schrank ist hinüber, den nimmt uns der Pegnitzer niemals ab! Hundertmal habe ich dir schon gesagt, dass du hinsehen sollst, wenn du etwas abstellst!“
Das Gesicht des Tischlermeisters ist rot vor Zorn und seine Wangen zittern. Mit festem Griff sucht er seinen Sohn vom Boden hochzuziehen, der aber hat die Augen verdreht, hockt in der Ecke und hält die Hand auf die Hüfte gepresst. Zwischen seinen Fingern färbt sich der Kittel dunkel von Blut.
Hans Prescher, so nennt sich der Meister, erschrickt vor dem Anblick. „Magdalena!“ Seine Stimme gellt durch die Werkstatt. „Bring schnell das Verbandszeug! Dein Sohn hat sich mal wieder dumm angestellt!“
Es ist doch stets dasselbe mit dem Jungen, er taugt einfach nicht für das Handwerk! Mit seinen einundzwanzig Jahren stellt er noch immer so viel Unfug bei der Arbeit an, dass sein Vater für Ruprechts Zukunft schwarz sieht. Nicht, dass er die Kniffe und Handgriffe des Tischlerhandwerks nicht beherrschte, nein – ganz im Gegenteil. Er arbeitet sauber und passgenau. Aber seine Gedanken schweifen zu oft ab und dann kommt es häufig vor, dass Werkzeuge herabfallen oder Werkstücke urplötzlich keinen Halt mehr finden und auf den Boden prallen.
Da ist Ruprechts jüngerer Bruder, der Paul, von ganz anderem Holz. Der arbeitet nicht nur ebenso präzise, sondern ist auch sehr konzentriert. Hans bereitet der Unterschied zwischen den Jungen große Sorgen, denn wem soll er später die Tischlerei übergeben? Ruprecht geht zu vieles schief und Paul steht mit dem Rechnen auf Kriegsfuß. Mehr Söhne jedoch gibt es nicht im Hause Prescher. Der besorgte Vater nickt grübelnd. Eines der Mädchen wird wohl die Bücher führen müssen, damit der Handwerksbetrieb nicht ruiniert wird.
Wo bleibt denn nur die Mutter? Gerade will er erneut nach ihr rufen, da öffnet sich die Tür und die Meisterin betritt die Werkstatt. „Was hat unser Pechvogel wieder angestellt? Er wird noch so enden wie sein Oheim, der Ruprecht Zimmermann – Gott habe ihn selig! Der ist in seiner Schusseligkeit auch von einem Balken erschlagen worden.“
Sie eilt zu ihrem Sohn und legt mit energischen Handgriffen die Wunde frei. „Oh, das sieht gar nicht gut aus! Sag der Elisabeth, sie soll eine Schüssel warmes Wasser bringen.“ Meister Prescher wirft über die Schulter seiner Frau einen Blick auf die freigelegte Wunde. Ein Stechbeitel ist zu gut einem Drittel dicht über dem Beckenknochen in die Hüfte eingedrungen und im Takt des Pulses tritt immer neues Blut aus der Wunde. Mit Entsetzen nimmt er die Gefahr war. Hoffentlich hat sich der Junge keine inneren Organe verletzt! Hastig wendet er sich ab, um der Tochter die von der Mutter erteilte Aufgabe zu übermitteln. „Ich werde den Bader holen“, gibt er Bescheid, ehe er die Werkstatt verlässt.
„Ja, ja, geh nur, wirst den Bader ohnehin nicht finden!“ Die Mutter lächelt schmerzlich vor sich hin. So ist er eben, ihr Hans: ein Kerl wie der Schrank im Ratssaal, aber hilflos wie ein Neugeborenes, wenn er Blut sieht. Sie schiebt mit den Fingern die Strähne des von grauen Fäden durchzogenen braunen Haares aus der Stirn und drückt mit dem Daumen die Ader neben der Wunde ab, so dass der Blutstrom verringert wird. „Lisa, wo bleibst du denn? Beeil dich!“
Auf den energischen Ruf der Mutter hin zeigt sich der strohblonde Schopf der Zwölfjährigen in der Tür. „Ich bin gleich soweit, Mutter. Das Wasser muss noch etwas wärmer werden.“
Das Mädchen wirkt für sein Alter schon sehr verständig und geht der Mutter des Öfteren zur Hand. Obwohl das gar nicht selbstverständlich ist, hat sie große Freude an der Hausarbeit und noch mehr am Lesen und Schreiben. Wenn es auch völlig außerhalb der Gepflogenheiten der Nachbarn ist, in der Familie Prescher lernen seit uralten Zeiten die Kinder das Schreiben. Natürlich geht es bei den einen besser und bei anderen schlechter, aber sie alle können mit Buchstaben umgehen.
Jetzt aber ist das Mädchen bemüht, eilig das warme Wasser der Mutter zu bringen, und obwohl die Schüssel eigentlich zu schwer ist für das staksige Mädchen, zieht es diese vom Herd und stellt sie auf die Bank daneben. „Hannel, nun pack mal mit an. Ich kann die Schüssel so nicht allein in die Werkstatt bringen“, fordert Elisabeth ihre Schwester, die nur ein Jahr jünger ist als sie selbst, zu helfen auf. Johanna, noch recht kindlich, hockt in der Ecke hinter dem Herd und ist in das Spiel mit ihrer Puppe vertieft. „Dann musst du eben das Wasser mit dem Krug rüberbringen“, wehrt sie das Ansinnen der Älteren ab. „Was bist du doch faul!“, erregt sich Elisabeth aufs Höchste. „Ruprecht liegt verletzt in der Werkstatt und dir ist das gleichgültig, als ob dir dein Bruder nie Gutes getan hätte. Dabei ist die Puppe, mit der du gerade spielst, von seiner Hand geschnitzt!“. Die Tränen der Entrüstung rollen nun, im Lichte schillernd, die zorngeröteten Wangen hinab.
Eilig springt Johanna auf und eilt bestürzt zu ihrer Schwester. „Lisa, es war doch nicht so gemeint! Ich will dir ja helfen, nur musste ich erst die Grete schlafen legen. Sei nicht traurig!“, bettelt sie und greift unbedacht nach der Schüssel, die ja noch des Herdes Hitze in sich bewahrt. Erschrocken zieht sie die Hand zurück, als die Wärme vom irdenen Rand auf ihre Haut trifft. Fast hätte sie das Gefäß von der Bank gerissen. „Autsch! Die ist ja heiß, wie soll ich die anfassen und heben?“ Elisabeth runzelt die Stirn. „Die Schüssel ist doch nicht heiß, ich habe sie eben vom Herd auf die Bank gehoben.“
Weil sie aber nicht länger debattieren will, nimmt sie die Kelle und schöpft das Wasser in den Holzbottich. „So werden wir es wohl schaffen!“, erklärt sie und trägt das Gefäß aus dem Zimmer. Johanna bleibt reglos zurück und fühlt sich über die Maßen gescholten. Nun treten ihr die Tränen in die Augen und vor Empörung schluchzt sie zum Herzerbarmen. „Keinem kann ich es recht machen! Jeder meint, er könne auf mir herumhacken, nur weil ich die Jüngste bin!“
Indes hat Elisabeth das Wasser neben der Mutter abgestellt, die den Bottich an sich heranzieht. „Das hat ja lange genug gedauert! Wenn es eilig ist, dann braucht ihr immer am längsten. Hilf mir und drück deinen Finger hierher!“, zischt Magdalena vor Sorge um den Sohn ungehalten. Kaum hat das Mädchen den Finger an Mutters Daumen statt platziert, hat diese den Stechbeitel mit einem Ruck aus der Hüfte des Sohnes gezogen. Mit der anderen Hand greift sie ein Tuch, spült es im warmen Wasser und wäscht die Verletzung. Anschließend deckt sie unter Druck die Wunde ab und legt einen straffen Verband an. Leises Seufzen dringt über die blauweißen Lippen Ruprechts. Die Augen finden wieder in die von der Natur zugedachte Stellung, die Lider schieben sich über die Pupillen und keinerlei Wahrnehmung ist erkennbar.
Müde wischt sich Magdalena über die Stirn. „Ich hoffe, dass es vorerst hilft, Schätzchen. Aber eines können wir noch tun. Nimm dir Johanna und laufe mit ihr in die Johannisvorstadt. Gleich hinter der Kirche wohnt die alte Mechthild. Erzählt ihr, was vorgefallen ist und bittet sie um ein paar Kräuter. Pass gut auf das Geld auf, das ich dir mitgebe. Du musst es der Mechthild für die Kräuter geben.“ Sie greift in ihre Tasche und bringt eine Münze hervor. „Frage sie aber auch, was ich mit den Kräutern tun soll und merke dir das gut. Und nun sputet euch!“ Eilig schlüpft das Mädchen aus der Werkstatt und gleich darauf hört man die hastigen Schritte der Schwestern in der Gasse.
In der Werkstatt kniet Magdalena neben ihrem Sohn. Ihre Hand in den Nacken des Liegenden schiebend flüstert sie ihm ins Ohr: „Komm schnell wieder auf die Beine, Großer. Was bist du nur für ein Tunichtgut, dass du dir immer wieder etwas antust? Aber du kannst noch nicht von uns gehen, denn du hast hier noch Aufgaben zu erfüllen!“ Keine Träne tritt aus ihrem Auge und doch schüttelt sie nun ein leises Weinen. Sie neigt den Kopf weit nach vorn und endlich ruht ihre Stirn an seinem Hals.
„Was ist denn los Mutter, warum weinst du?“ Kaum hörbar dringen die Worte aus dem Mund des Verletzten an ihre Ohren. Geradezu erschrocken hält sie die Luft an und blickt in sein todbleiches Gesicht. Seine Augen sind geöffnet und in ihnen steht die Frage, was denn vorgefallen sei.
„Was willst du mir noch für Schrecken einjagen, Junge? Kannst du nicht einmal auf deine Mutter Rücksicht nehmen und dabei auch noch auf deinen Vater hören? Was passiert ist? Du hast das Werkzeug in die Luft gelegt und aus lauter Dankbarkeit für deine Schusselei hat der Stechbeitel in dir den nötigen Halt gesucht! Wie willst du jemals ein guter Tischler werden? Bete zu Gott, dass du wieder gesund wirst und keine inneren Organe bedrohlich verletzt sind!“
Nun endlich finden ihre Tränen den Weg aus den Augen und nur zu willig lässt sie ihnen freien Lauf. Schwach spürt sie den kraftlosen Druck seiner Hand, die sich eher trostsuchend denn trostspendend auf ihren Unterarm gelegt hat.
Inzwischen sind die zwei Schwestern an der Stadtmauer angelangt. Elisabeths Sorge hat sich auf Johanna übertragen und so eilen sie mit verängstigter Miene hinter dem letzten Haus der Gasse hinüber zum Johannistor. Die alte Roselerin schaut aus ihrem Gärtchen herüber und die Neugier steht ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Gar zu gern wüsste sie, was vorgefallen sei, um sich mit ihren Gevatterinnen auszutauschen. Natürlich muss sie sich vor ihrem Mann, dem Schuhmacher, in Acht nehmen. Eben will sie den Mädchen nachrufen, da ertönt Michael Roselers Stimme unwirsch aus dem Werkstattfenster: „Brauchst gar nicht erst dein Maul aufreißen! Kümmere dich um deinen Kram, da hast du genug zu tun!“
Empört wendet sich die Roselerin dem Fenster zu, in dem gerade noch mit Mühe im Dunkeln des Zimmers das Gesicht des Schuhmachers zu erkennen ist. „Du musst mir nicht vorschreiben wollen, was ich mit wem zu besprechen habe!“, keift sie ihren Mann an. „Wir wüssten gar nichts über unsere Nachbarn, wenn es nach dir ginge! Dir wäre es sicher recht, als Einsiedler in den Bergen zu hausen. Deswegen steht unser Haus gewiss auch direkt an der Stadtmauer, wohin sich kaum einer verläuft.“
Die Antwort des Schuhmachers besteht nur aus einem Brummen, das den Unmut des Alten nicht deutlicher ausdrücken könnte.
Martha, die jüngste Tochter der beiden und das letzte noch im Haus lebende Kind, hört an der Gartenpforte mit Erheiterung den Wortwechsel der Eltern. Seit Jahr und Tag steht die Tratschsucht der Mutter gegen die Wortkargheit des Vaters und immer wieder entwickeln sich daraus recht unterhaltsame Dispute. Gerade will sie einen bissigen Kommentar zur Auseinandersetzung der Eltern geben, da sieht sie drüben an der Mauer Claus mit einer Gruppe Gleichaltriger entlanghuschen, die es offensichtlich auf einen Schabernack mit den zwei Prescher-Mädchen abgesehen haben.
Der Junge ist mit seinen zehn Jahren das vierte Kind vom Töpfermeister Reichenhein und aufgrund seines Draufgängertums Anführer einer Bande gleichaltriger Knaben, die in der Gasse und darüber hinaus reichlich von sich reden macht. Geradezu spektakulär sind ihre Streifzüge durch die Höhlen und Keller drüben im Katzberg und nicht erst einmal hat der Michel Reichenhein diese wilde Horde aus dem Berg herausgeprügelt.
Eilig huscht Martha aus dem Garten und folgt den Lausbuben in sicherem Abstand. „Halt, Martha! Wo willst du hin?“ Die gebieterische Stimme der Mutter erreicht zwar ihr Ohr, allein, sie ist nicht gewillt einzuhalten und so huscht sie um die Ecke des Ratsdienerhauses am Johannistor.
Es fehlte ihr gerade noch, den Eltern sofort Rede und Antwort zu stehen. Wenn sie jetzt den beiden Mädchen zur Seite stehen will, dann nicht um derentwegen, sondern vielmehr, um den Ruprecht auf sich aufmerksam zu machen. Schon geraume Zeit hat sie ein Auge auf diesen stattlichen Burschen geworfen, aber dieser Narr bemerkt es einfach nicht. Was auch immer sie anstellt, ob beim Tanzen oder Singen, beim Ausflug der jungen Leute in die Auen oder beim Kirchgang, es gelingt ihr einfach nicht, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es scheint ganz so, als würde Ruprecht gar keine Mädchen wahrnehmen, zumindest nicht so, wie sie es sich vorstellt. Er ist eben ein völlig anderer Kerl als sein Bruder Paul, vor dem kein Rockzipfel sicher ist. Aber Marthas Traum ist es, Ruprechts Weib zu werden. Darüber ist natürlich niemand im Bilde und sie mag es auch nicht ihren Eltern anvertrauen. Wer weiß schon, welchen Mann diese ihr zugedacht haben und wenn das dann nicht der Ruprecht ist …
Eilig tritt Martha durch das Stadttor. Die Wache ist mit der Kontrolle der Fuhrwerke beschäftigt und so kann sie unbehelligt der Johannisvorstadt entgegeneilen.
Nicht weit vor ihr hasten die zwei Prescher-Mädchen Hand in Hand die ausgefahrene Zschopauer Landstraße entlang, gefolgt von der johlenden Horde unter Claus‘ Führung, deren Geschrei nicht gerade von Lieblichkeit und Feingefühl zeugt. Plötzlich wird es Johanna zu viel. Sie reißt sich von ihrer Schwester los, dreht sich um und tippt sich über den aufgeplusterten Wangen mit spitzem Zeigefinger an die Stirn. „Haut ab, ihr blöden Kerle! Sucht euch doch ein neues Loch im Katzberg oder ersäuft euch im Tümpel an der Pforte, aber lasst uns in Ruhe!“ Diese deutliche Ansage ist kaum geeignet, die Jungen zu mäßigen. So gewinnt ihr Lärm an Kraft. Zugleich fliegen die ersten Erdklumpen durch die Luft, jedoch beeindruckt dies Johanna aufgrund fehlender Treffsicherheit keineswegs. „Ach die Kleinen, wie süß! Kleinchen wirft Steinchen! Hört ja auf, ihr Rotznasen. Ansonsten greife ich mir einen von euch und klatsche ihm meine Hand so auf die Nase, dass das Blut spritzt!“
Tatsächlich sind die Jungen ein Jahr jünger als sie und Knaben pflegen in diesem Alter für gewöhnlich nicht größer zu sein als die Mädchen. So ist die Drohung Johannas durchaus ernst zu nehmen, zumal ihr die Kampfeslust überdeutlich ins Gesicht geschrieben steht.
Claus, der sich– wie oft zuvor – bereits als alleiniges Ziel der wenig zartfühlenden Attacken der jüngsten Tischlertochter sieht, hält eilig seine Gefährten zurück. „Lasst die Heulsuse, wir gehen hinüber zum Bernsgraben und fangen ein paar Fische.“
Urplötzlich ist das neue Ziel für die Knaben entscheidend und mit großem Geschrei jagen die Bürschlein davon, vollkommen vergessend die bis eben noch geplagten Mädchen.
Elisabeth ist über das energische Auftreten der jüngeren Schwester reichlich erschrocken und mit bleichem Gesicht schaut sie der Bande nach. „Bist du verrückt, Hannel?“, stammelt sie. „Da haben wir aber Glück gehabt, die hätten uns grün und blau geschlagen, so viele wie die sind. Wir zwei hätten gegen die Meute gar keine Chance gehabt!“
Johanna blinzelt sie keck an: „Heul doch! Erstens wären wir zu dritt gewesen, denn dort kommt Roselers Martha und sie hätte uns sicher beigestanden. Außerdem wäre mein erster Tritt dem Claus zwischen die Beine gefahren. Dort tut es den Jungs am meisten weh und er wäre gerannt wie ein geölter Blitz, die ganze Bande hinterdrein. Was sollte ich also Angst haben. Und nun komm endlich, wir müssen zu der alten Kräuterhexe.“
Wieder ist es Elisabeth, die sich nicht auf Johannas Wesensart einlassen will, die Jüngere ist ihr zu unüberlegt in Wort und Tat. „Du bist unmöglich, Hannel! Mit deinem Geschwätz bringst du noch andere Leute in Gefahr. Was meinst du, wie schnell jemand zur Hexe erklärt wird?! Hat dir jemals die Mechthild etwas zu Leide getan? Immer gibt sie der Mutter Heilkräuter, wenn jemand krank ist, niemals hat sie uns geschadet und da sagst du, sie sei eine Hexe! Wenn das der Herr Pfarrer hört, dann dauert es nicht lange, bis die heilige Inquisson – oder wie das heißt – zupackt. Willst du das?“
In kindlicher Offenheit blickt Johanna in Elisabeths schulmeisterlich strenges Gesicht. „Sei nur nicht so bös zu mir! In der ganzen Stadt spricht man von der Kräuterhexe, was soll ich mich da zurückhalten? Außerdem geht der Pfarrer auch bei ihr ein und aus, selbst der Bader holt bei ihr ganz und gar nicht heimlich die Kräuter.“
Die ältere Schwester muss ihr wohl oder übel recht geben, dennoch ist ihr sehr daran gelegen, die respektierte Klügere zu sein. „Trotzdem beschuldigt man niemanden einfach so der Hexerei!“
Derart mit Klarheit versehen setzen die beiden Mädchen gewichtig den Weg fort. Es sind noch wenige Schritte bis zum Haus des Kräuterweibs zu gehen, da schließt Martha zu ihnen auf. „Na, ihr beiden, wo wollt ihr denn hin, ist etwas passiert?“ Nicht die Anwesenheit der Schuhmachertochter verwundert die Schwestern, sie hatten sie ja vorhin bemerkt, die Frage erstaunt sie. Wie kommt Martha darauf, dass etwas passiert sein könnte?
„Wie meinst du das, was sollte passiert sein?“, fragt Johanna ganz und gar unschuldig. Martha jedoch will in ihrer Unruhe nicht erst lange taktieren und so fragt sie frei heraus: „So panisch wie ihr aus der Stadt gerannt seid, muss etwas passiert sein. Also kommt, sagt schon, was los ist!“
Elisabeth mustert die Ältere von unten herauf. „Ja, du hast recht, der Ruprecht hat sich verletzt und wir besorgen ein paar Heilkräuter.“
„Du meine Güte!“ Der erschrockene Ausruf Marthas lässt auf eine ehrliche Sorge schließen und ihre heimliche Liebe macht das glaubhaft. „Erzählt schon, was ist passiert?“
Haargenau schildert die Ältere der Schwestern das Vorgefallene und Martha kommt nicht umhin, mitfühlend zu seufzen. Johanna beobachtet still die Nachbarstochter und fragt schließlich ohne jede Hemmung in ihrer äußerst direkten Art: „Was leidest du denn so mit Ruprecht? Bist du in ihn verliebt?“ Dabei reißt sie die nussbraunen Augen weit auf und blickt geziert nach oben in das klare Blau des Himmels.
Martha läuft tiefrot an und bemüht sich, durch angestrengtes Husten die Peinlichkeit des Augenblicks zu überspielen. Endlich erwidert sie bewusst flapsig: „Wie kommst du denn darauf? Ich bin nur ein wenig in Sorge.“ Johanna aber kichert in kindlicher Rücksichtslosigkeit gegenüber dem jungfräulichen Liebesempfinden: „Martha ist in Ruprecht verknallt! Heirate ihn doch, dann bekomme ich vielleicht ein Paar neue Schuhe von deinem Vater.“
Mit der flachen Hand gibt ihr Elisabeth einen Klaps auf den losen Mund. „Du bist ein kleines, dummes, freches Ding!“, rügt sie ihre Schwester und ahnt doch, dass diese recht hat. Johanna war schon immer eine aufmerksame Beobachterin. Martha hingegen weiß nicht, wie sie sich verhalten soll. Ungehalten faucht sie: „Quatsch, du dummes Gör!“ Hastig dreht sie sich um und läuft zur Stadt zurück, während die zwei Mädchen endlich an Mechthilds Tür klopfen.
Als auch nach dem zweiten Klopfen kein Geräusch aus der Hütte dringt, eilt Johanna ungestüm um das alte Gebäude herum, um die Alte vielleicht im anschließenden kleinen Gärtchen zu entdecken. Das schmale Geviert ist so dicht von Pflanzen bedeckt, dass nur ganz vereinzelt der Boden zu erkennen ist. Allerlei Getier tummelt sich im satten Grün und in der bunten Farbenpracht der Blütenvielfalt. Unter einem knorrigen Apfelbaum lehnt sich eine altersmüde Bank an den schorfigen Stamm und wehrt sich allein durch ihr Aussehen gegen die ursprünglich angedachte Nutzung. Weiter hinten verhindert eine dichte Hecke den Blick auf die Melancholie des Friedhofs, der sich von Sankt Johannis her erstreckt. Seitlich ab ragt eine Birke stolz und wie am Lot gezogen in den Himmel. Allein die Besitzerin des ärmlichen Anwesens ist nicht zu entdecken. Das Mädchen versucht, einen Blick in das Innere der Hütte zu werfen, doch die hautbezogenen winzigen Fenster lassen nichts erkennen. Der fast quadratische Grundriss des Hauses verrät, dass hier kein Stall den Tieren Unterkunft gewährt, in dem man die Alte vermuten könnte. Mutter Mechthilds ganze Aufmerksamkeit gilt den Pflanzen.
Johanna kehrt auf die Dorfstraße zurück und sieht die Gesuchte bei ihrer Schwester stehen. Offensichtlich kommt sie gerade aus dem Wald, denn auf dem Rücken ragt ihr eine Kiepe über den Kopf hinaus, aus der dürre Äste zum Himmel weisen. Vor dem Bauch baumelt ein Beutel, in dem sie vermutlich Pflanzen und Wurzeln verstaut hat. Das runzlige Gesicht mit den klugen Augen wird von einem freundlichen Lächeln verschönt, das den Mädchen Vertrauen vermittelt. Wahrscheinlich ist sie soeben eingetroffen, denn Johanna hört gerade noch die Begrüßungsworte: „Na, so etwas, wer besucht ein altes Weib wie mich? Und dazu noch im Doppelpack. Wenn ich mir die Gesichter so ansehe, dann seid ihr die Prescher-Mädels, stimmt’s? Da gucken doch Magdalena und Hans aus euch heraus.“
Die Schwestern freuen sich sichtlich, dass die Alte sie zuordnen kann, denn sie haben sich höchst selten gesehen. Mechthild vermeidet es tagsüber nach Möglichkeit die Stadt zu betreten. Die Hütte der Kräutersucherin hingegen ist an sich kein Ziel für Mädchenausflüge.
„Was führt euch zu mir?“, setzt sie fort. „Wenn euch die Mutter schickt, kann es nur einen Unfall gegeben haben. Also: Wer hat sich verletzt und wie?“
Elisabeth schaut die Frau sehr erwachsen an und erwidert: „Unser Ältester hat sich etwas zugezogen. Der Stechbeitel ist ihm von der Seite her in den Bauch gedrungen. Mutter hat ihn aber herausgezogen.“
Das Kräuterweib blickt sehr ernst, als sie verstehend nickt. „Habe ich es mir doch gedacht, der Rudolf ist ein Wiedergänger“, flüstert sie gerade so laut, dass es Elisabeth eben noch verstehen kann. Fragend blickt sie die Alte an, die aber scheint den Blick nicht wahrzunehmen. „Kommt mit in mein trautes Heim, ich will euch schon das passende Kräutlein zu finden wissen.“ Sie tritt neben die Tür und lässt sich von den beiden Mädchen die schwere Kiepe vom Rücken nehmen.
In der Luft des Hauses liegt der würzige Duft unzähliger Kräuter und Wurzeln, die unter der niedrigen Decke des Zimmers hängen. Auf Wandborden finden sich Töpfchen und Becher, deren Inhalt durch Deckel geschützt ist. Auf einem massiven Tisch steht ein Mörser mit Stößel und wartet nur darauf, die Kräuter zu zerkleinern. Ohne allzu lange suchen zu müssen, greift sich Mechthild eines der Töpfchen und schüttet ein wenig von dessen Inhalt auf ein Brett, legt einige verschiedene Blätter hinzu und verstaut das Ganze in einem Leinenbeutelchen, den sie Elisabeth in die Hand drückt. „Bring das deiner Mutter, sie soll die Blätter mit sprudelndem Wasser übergießen und den Tee dem Ruprecht zu trinken geben. Das wird ihm die nötige Ruhe geben und das Fieber senken. Das Pulver aber soll sie mit Talk vermengen und diese Salbe auf die Wunde streichen.“
Das Mädchen dankt und will das Geld im Gegenzug überreichen, da wehrt die Alte energisch ab: „Nichts da, der Rudolf hat bei mir noch etwas gut!“ Sie schiebt die Schwestern aus der Tür und legt hinter ihnen den Riegel vor.
Sprachlos blickt Johanna Elisabeth an. Was hat denn das wieder zu bedeuten? Was hat die ganze Sache mit einem Rudolf zu tun? Gewiss kann sich die Alte einfach keine Namen merken. Ohne noch ein Wort zu sagen, eilen sie der Stadt zu, Mutter und Ruprecht werden warten.
Am Johannistor hat sich inzwischen ein schierer Stau gebildet. Die recht massiven Wagen aus Hilbertsdorf bringen ausgehauene Blöcke von den Steinbrüchen am Goldborn. Seit geraumer Zeit werden die Holzgebäude durch massive Steinhäuser ersetzt, soweit es der Geldbeutel neuer Grundstückseigentümer nur zulässt. Das Bestreben der Wohlhabenden, ihren Reichtum mit fest gemauerten Häusern, von allerlei Zierrat verschönt, herauszuschreien, ist keinesfalls nur ein Modedünkel. Die Stadtbrände der Vergangenheit sprechen eine zu deutliche Sprache.
Die zwei Mädchen drücken sich an einem Wagen vorbei durch das weit geöffnete Tor und betreten, erneut unbemerkt vom Scharfblick der Wachen, die Stadt.
Die Knaben um Reichenheins Claus haben offensichtlich noch immer ihr Vergnügen vor der Mauer. Kein Hinterhalt verwehrt den beiden Schwestern den Heimweg und so huschen sie, an Roselers Schuhmacherei vorbei, die Gasse hinüber zum elterlichen Haus.
An der Haustür wartet bereits die Prescherin, ohne jedoch auch nur einen Hauch von Ungeduld zu zeigen. „Na, das ging ja schneller als ich vermutete. Seid ihr geflogen oder gab es diesmal gar nichts zu untersuchen?“ In wohldosierter mütterlicher Liebe streicht sie den beiden Mädchen über die Köpfe. „Wir haben nun Zeit. Ruprecht ist eingeschlafen und scheint auf dem Weg der Genesung. Wir lassen ihn jetzt ruhen. Schlaf ist der beste Medikus.“ Sie zieht ihre Töchter in den Garten, wo sie auf der Bank an der Hecke Platz nehmen.
Nachdem Elisabeth die Handhabung der Arznei erläutert hat, kann Johanna ihren Mitteilungstrieb nicht mehr bezähmen und ohne auch nur annähernd genug Luft zu holen, platzt sie die Neuigkeiten heraus. Mehr in schwachen Ahnungen als in notwendigem Verstehen dringt das kindliche Kauderwelsch der Jüngsten in das Bewusstsein der Mutter. „Moment, Moment!“ Die Frau des Tischlers lacht verhalten. „Wie soll ich aus diesem Geschnatter schlau werden?“ Johanna, die ob des Einwurfes verstummt ist, will gerade wieder losplatzen, da hebt Magdalena, Aufmerksamkeit heischend, den rechten Zeigefinger. „Also zum Ersten: Martha von Roselers ist in Ruprecht verliebt.“ Eifrig und mit glühenden Wangen wird durch das Nicken der Mädchen die These zum Fakt erhoben. „Zweitens“, setzt die Mutter fort, „hat die Mechthild komische Sachen von sich gegeben und wollte das Geld nicht annehmen, richtig?“ Wieder nicken die Mädchen eifrig. „Nun, so will ich euch eine Geschichte erzählen, die weit in die Finsternis der entschwundenen Jahre zurückreicht. Vorher sehe ich nach Ruprecht und ob nicht euer Vater endlich zurückfindet.“ Konsequent drückt sie ihre Töchter auf die Bank und geht dann schnell ins Haus.
Wenige Augenblicke später kehrt sie zurück und setzt sich zwischen die zwei Mädchen. „Der Große schläft tief und fest, dass es eine Freude ist. Euer Vater sucht zwar immer noch den Bader oder den Medikus, aber den werden wir wohl nicht mehr brauchen.“ Sie drückt die Töchter an ihre Brust und beginnt, leise zu deklamieren:
„Die Wagen zogen mächtig schwer
durch Täler und über die Berge
vom Saalefluss im alten Land
zum Pleißenland in gewaltiger Stärke.
Der Hildebrand, den Riesen gleich,
führt er die Siedler ohne Zagen,
doch die Hildburga, die weise Fee,
sie wusste stets zu sagen
wie der Götter ihr Begehr
hilft unser Los zu tragen.
Das Volk war niemandes Untertan,
einziger Herr war der König,
der sie in dieses Land geholt,
das kränkte die Fürsten nicht wenig.
Doch war der neue Bauersmann
gekommen zu des Reiches Schutze
Seit an Seite mit des Königs Heer
der Ungarn Mächtigkeit trutzet.
Der Hildebrand ein Bauer war,
das Schwert war ihm nicht geläufig,
da rettet ihn die weise Frau
wie damals nur allzu häufig.
Sie gab ihm den Rudolf mit,
den Recken, den sie gefunden.
Der führt die Bauern in Sturmgebraus,
hat die Ungarn letztendlich geschunden.
Doch als der große Kampf vorbei,
jagt man Rudolf von hinnen.
Den Streit um den ersten Platz im Dorf,
Hildebrand wollt‘ ihn gewinnen.
So verdarb Hildburga, die weise Frau.
Es blieb nicht Rudolf der Hauptmann der Bauern.
Doch alle hundert Jahre sie wiederkehren,
erfahren wir mit Schauern.
Doch wenn dereinst die Gerechtigkeit gesiegt
und nicht das Gold in der Truhe
ist der Menschheit höchstes Begehr,
dann finden die zwei ihre Ruhe.“
Elisabeth kuschelt sich an den Arm ihrer Mutter. „Das war schön, schade, dass es schon zu Ende ist.“ Magdalena erwidert den Druck des Mädchens ganz zart. „Ach, weißt du Lisa, diese Ballade ist noch viel länger. Sie erzählt die Geschichte von unseren Vorfahren seit uralten Zeiten und reicht fast bis in die Gegenwart. Immer wenn etwas Entscheidendes passiert ist, wird ein neuer Teil dazu gedichtet, so dass unsere Geschichte nicht vergessen wird. Leider sind es nur wenige Familien, die dieses Lied weitergeben und so vor dem Vergessen bewahren.“ Elisabeth überlegt kurz und bemerkt dann: „Die Geschichte muss eben aufgeschrieben werden. Du kannst doch schreiben, Mutter, warum bringst du dieses Lied nicht zu Papier?“
Fast mädchenhaft hört sich Magdalenas Lachen an. „Ach Lisa, erstens reicht meine Schreibkunst nicht so weit, dass ich hunderte Strophen niederschreiben könnte und zweitens habe ich gar nicht so viel Zeit, denn Mutter von vier Rangen zu sein, einen Haushalt zu führen und als Meisterin dem Meister zur Seite zu stehen, dass lässt mir die Zeit wie im Fluge vergehen.“
Johanna war bis hierher still, doch nun will sie auf den Punkt kommen. „Die Ballade war ja ganz schön, Mutter. Aber was hat das Ganze mit unserem Kräuterweib zu tun? Und wieso verwechselt diese unseren Ruprecht mit jenem Rudolf?“
„Ach weißt du, die Mutter Mechthild entstammt einer uralten Familie, der nachgesagt wird, ihre Frauen seien sehr weise. Ihre Vorfahren waren wohl mit der Hildburga aus dem Lied verwandt. Wenn es auch nicht sehr gern von unserem Herrn Pfarrer gesehen wird, gehen dennoch viele Menschen zu ihr, wenn sie krank sind, denn sie vermag Kranke zu heilen. Zweifelsohne kann man auch sie zu den weisen Frauen zählen. Als unser Ruprecht auf die Welt kam, war Mutter Mechthilde ganz närrisch vor Freude, denn sie glaubte damals, der Bauerngeneral Rudolf aus unserem Lied wäre in unserem ersten Kind wiedergekehrt. Seit diesem Tag ist mir ganz bang um sie und um unseren Ruprecht. Wenn diese Mär auf die Ohren der heiligen Inquisition trifft, wird man hier Scheiterhaufen errichten. Sprecht also nicht über diese Sache. Es könnte sowohl die Mutter Mechthild als auch unserem Ruprecht zum Schaden gereichen.“ Verschwörerisch zwinkert sie ihren Töchtern zu und schiebt sie dann von sich. „So, Mädels, jetzt gebt Ruhe. Ich muss mich wieder kümmern, von allein erledigt sich meine Arbeit nicht.“
Dieses Ansinnen steht natürlich ganz entschieden gegen die Vorstellungen der wissbegierigen Johanna. Alle Enttäuschungen dieser Welt scheinen sich auf ihrem zarten Gesicht zu verewigen und mit Schmollmund und bettelndem Blick sucht sie die Mutter zu überreden. „Erzähl doch noch, wir helfen dir dann auch und so wird die Arbeit auch noch rechtzeitig fertig.“ Magdalena lässt ihre schön gezeichneten Augenbrauen nach oben schnellen. „Das wöllte ich zu gern sehen, wie du mir bei der Arbeit hilfst, dass ich schneller fertig würde. Bislang ist dir dieser Geniestreich noch nie untergekommen, du verkehrst alle Arbeit zum Spiel, meine Süße. Na ja, spinnen und weben kannst du recht gut, aber eben das muss gerade nicht getan werden.“
Von diesen Worten fühlt sich die Elfjährige über die Maßen hart getroffen. „Das ist gemein, Mutter! Ich habe heute schon die Stube gefegt, den Topf geputzt, die Asche aus dem Herd genommen …“
Weder Häme noch Bosheit liegt im Lachen der Mutter, als sie dem Kind die Haare zerzaust. „Ja, eben, in der Reihenfolge, mein Spatz! Die gefegte Stube ist nun sorgsam und ebenmäßig mit Asche bestreut.“
Puterrot wird Johannas Gesicht und Tränen der Scham treten in ihre Augen. Warum in aller Welt muss solches Ungemach immer ihr widerfahren? Enttäuscht will sie sich abwenden, da springt Elisabeth für sie in die Presche. „So schlimm kann es gar nicht sein. Ich habe gesehen, wie sorgsam das Hannel zu Werke gegangen ist. Hätte sie zu viel Asche aufgewirbelt, wäre ich gewiss deutlich geworden. Aber ich habe einen Vorschlag: wir gehen dir jetzt zur Hand und du erzählst uns heute Abend weiter, denn das interessiert mich auch.“
Magdalena gibt sich, als wäre sie sehr empört und nur die lachenden Augen lassen ihre wahre Gemütslage erkennen. „Was denn, wird das hier eine Meuterei? Ihr seid zu zweit, ich aber bin ganz allein, wie soll ich mich da erfolgreich zur Wehr setzen können? Also gut, ich gebe mich geschlagen. Heute Abend setzen wir uns an das Spinnrad und ich erzähle.“ Jubelnd laufen die Mädchen ins Haus. Bei Preschers wird nicht alle Tage gesponnen, aber wenn, dann ist es für die Mädchen immer wieder ein Höhepunkt. Die Mutter seufzt und wischt sich die Hände am Kittel ab. Die Sorge um ihren ältesten Sohn legt sich schwer auf ihre Brust und nichts von der eben empfundenen Leichtigkeit bleibt in ihrem Inneren zurück.
Leise neigt sich der Tag dem Ende entgegen und die Dämmerung beginnt, die Stadt in ein sachtes Blaugrau zu hüllen – die Zeit, die man die ‚blaue Stunde‘ zu nennen pflegt. Irgendwo in der Nachbarschaft bellt ein Hund seinen Zorn über den Hasen außerhalb seines Reviers in den Abendhimmel. Meister Prescher sitzt allein auf der Bank vor seinem Haus und schnitzt gedankenverloren an einem Holzkloben. Sein Blick irrt durch die Gasse, ohne irgendwo zu verweilen. Nein, ihn interessiert nicht das Stück Holz in seiner Hand, noch das Tun der Nachbarn. Den ganzen Nachmittag ist er durch die Stadt geirrt, ohne den Schreck über den Unfall des Sohnes verwinden zu können. Dabei hat er nicht einen Augenblick den Bader oder gar den Medikus suchen, sondern nur seine unbändige Angst um den Jungen bändigen wollen. Ihm ist klar, dass Magdalena besser als jeder andere das Richtige zu tun weiß. Tatsächlich ist sie mit dem Verletzten zurechtgekommen und hat den Sohn vor dem Vergehen gerettet. Jetzt ist die große Sorge des Tischlers, welche Richtung die Gespräche der Nachbarn nehmen werden. Es sind nicht viele, die über die entfernte Verwandtschaft Magdalenas mit der Mutter Mechthild Bescheid wissen, aber es genügt immerhin, wenn einer der Eingeweihten das Gerücht von Hexenzauber in Umlauf bringt. Es wird das Beste sein, am Sonntag eine große Kerze für die heilige Jungfrau anzuzünden.
„Vater, kommst du nicht herein? Es wird langsam kühl hier draußen und du wirst dir eine Erkältung holen!“ Im Schatten der Tür steht Magdalena und blickt auf ihren Gatten. „Nun komm schon und lass dich nicht von den Sorgen auffressen. Ruprecht ist wieder bei Sinnen und erholt sich langsam. Um das Gerede der Nachbarn musst du dir keine Gedanken machen. So oft unser Großer schon verletzt war, ist es für sie ganz logisch, dass ich ihn wieder auf Vordermann bringe. Sie würden sich eher wundern, wenn das nicht gelänge. Komm also herein, schnitzen kannst du auch während wir spinnen.“
Hans erhebt sich fast mechanisch und schüttelt dabei den Kopf – weniger aus Ablehnung als vielmehr aus Verwunderung. Wieso kennt sie immer wieder seine Gedanken?
Die Stube ist von drei Talgfunzeln erhellt, deren Licht bei weitem nicht ausreicht, die finsteren Ecken auszuleuchten. Aber gerade so ist es schön heimelig und beim Spinnen kommt es nicht so sehr darauf an, gut zu erkennen. Weil das Haus nur aus der einen Stube und der Werkstatt besteht, hat die gesamte Familie des Tischlers Anteil an der gemütlichen Atmosphäre. Die Mutter mit den zwei Töchtern bilden mit ihren Spinnrädern ein nahezu gleichseitiges Dreieck, dessen eine Seite sich nach der Schlafstatt Ruprechts öffnet, während in den anderen Seiten einmal der Vater und zur anderen Paul jeweils mit ihrem Schnitzwerkzeug Platz genommen haben. Die Anordnung hat sich im Haus des Tischlers lange schon für solche Abende eingebürgert, nur, dass Ruprecht normalerweise auch auf seinem Schemel sitzt.
Elisabeth, die das Singen über alles mag, hat eine melancholische Weise von Liebe und Abschied zu Ende gebracht und nun richten sich die Augen der Mädchen erwartungsvoll auf Magdalena. Hans, dem die stumme Aufforderung der Töchter nicht entgeht, schmunzelt der Mutter zu. „Na, meine Gute, mir scheint, du hast die zwei Mäuse mit einem Versprechen abgespeist. Was ist es diesmal?“
Scheinbar gequält stößt diese einen herzerweichenden Seufzer aus. „Ach ja, ich habe einen Teil der Rudolfballade vorgetragen und weil sie dann gar so sehr gebarmt haben, wollte ich heute Abend den Vortrag fortsetzen. Nun weiß ich nicht, ob das auch unseren drei Männern zusagt.“
Die Enttäuschung, die Mutters Antwort in das Gesicht Johannas schreibt, lässt sich nicht in Worten ausdrücken und so hakt Paul schnell ein: „Erzähl nur, Mutter. Es gibt keine schönere Geschichte über unser Volk und wir mögen sie alle. Außerdem ist es an der Zeit, dass das Hannel etwas über unsere Herkunft lernt. Ich glaube beinahe, Lisa kennt sie auch noch nicht.“
Der Vater überlegt kurz und wirft dann ein: „Stimmt, als wir sie zuletzt hören durften, waren die zwei Mädchen noch zu klein. Es wird also Zeit, die beiden einzuweihen in die dunklen, dunklen Geheimnisse unserer Vorfahren.“
Während die Schwestern schaudernd die Schultern nach oben ziehen, blickt Hans schmunzelnd in die Augen Magdalenas. Die schüttelt den Kopf und tadelt ihren Gatten: „Na, weißt du Hans, wir haben doch keine dunkle Vergangenheit! Ganz im Gegenteil, sie wird erhellt vom steten Licht reinen Glaubens!“
„Wie wahr, das wollen wir dir gerne glauben – bei Wotan und den Nornen!“ Unter Prusten stößt der Vater den Satz aus, doch die undeutliche Sprechweise lässt nicht zu, dass er verstanden wird und so wirkt sein Lachanfall eher befremdlich auf die Familie.
Magdalena lässt sich nicht stören und gleich darauf tönen die gereimten Worte, Frieden vermittelnd, durch den Raum, lassen vor den Augen der Zuhörer das Bild von den rumpelnden Wagen erstehen, die sich mühselig den Weg über die urwaldbestandenen Berge von Thüringen her an die Chemnitz bahnen.