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DIE VISION AN DER HOCHZEITSTAFEL

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Es kommt nicht alle Tage vor, dass in der Gasse „Hinter der Bach“ Hochzeit gefeiert wird und so haben alle Nachbarn ihren Beitrag geleistet, um ein gelungenes Fest zu erleben. Die Gasse wurde vom Brautpaar, nachdem gestern mit lautstarkem Gerassel und vielen Scherben die Unglücksgeister vertrieben wurden, mit einer Intensität gefegt, dass die Bruchsteine der Fahrbahn zwischen den seitlich begrenzenden uralten Baumstämmen wieder deutlich zu erkennen sind. Eine lange Tafel zieht sich von Roselers Haus bis hoch zum Anwesen von Lorenz Ule. Musikanten und Gaukler umschwirren die Hochzeiter und deren Gäste, dass es nur so seine Art hat.

Seit die Brautleute von Sankt Jakobi zurückgekommen sind, wird hier gezecht, getanzt und gesungen. Verwandte, Freunde und Bekannte aus der ganzen Stadt, aus den Vorstädten sowie den nahen Dörfern sitzen zwischen all den Nachbarn und lassen das junge Paar immer wieder hochleben. Selbst der Bürgermeister Stobener und all die Ratsherren haben es sich nicht nehmen lassen und sind bei der Hochzeitsfeier des jungen Stadtschreibers zugegen.

Freilich hätten weder die Brauteltern noch die Preschers, selbst beide Familien zusammen, die Beköstigung der vielen Gäste je tragen können. Aber da ein Hochzeitsfest solch ein freudiger Anlass ist, roch es schon tagelang in allen Häusern der Gasse recht lecker und nun biegt sich die Tafel unter all den Köstlichkeiten.

Ein Zufall ist es gewiss, dass der Herr Pfarrer und die Mutter Mechthild gegenüber der Braut nebeneinandersitzen, flankiert vom Schulmeister und dem Ratsherrn Pirne.

„Ich fühle mich wie im Heiligen Land“, bemerkt der Pfarrer soeben und zeigt sehr bedeutungsvoll auf die Tafel. „Der Korb mit dem Brot wird nicht leer und Wein gibt es in Hülle und Fülle. Das ist eindeutig eine Ehe im Zeichen des Herrn!“ Der Schulmeister nickt zu diesen Worten sehr weise und meint dann belehrend: „Bei Gott, so ist es. Nur ist das Brot hier Kuchen und manch andere Spezerei.“ Worauf das Kräuterweib bemerkt: „Und wenn bei der Hochzeit zu Khana das Wasser zu Wein wurde, dann müssen wir hier eher damit rechnen, dass nach und nach das gute Bier zu Wasser wird.“

Entrüstet lehnt sich der Pfarrer zurück. „Welcher Vergleich ist denn das, Weib?! Du wirst doch nicht die heiligen Gaben unseres Herrn mit der geizhalsigen Panscherei mancher Wirtsleute gleichsetzen!“ Die Alte zieht den Mund breit und lässt die braunen Zahnstummel sehen, die ihr die Jahre von ihren ehemals strahlend weißen und ebenmäßigen Zahnreihen gelassen haben. „Wie werde ich, Herr Pfarrer? Ich meine nur, wir sollten nicht im Übermaß genießen und lieber im Interesse der Brautleute darauf achten, dass stets nur das Beste auf der Tafel gereicht wird.“

„Das ist nicht zu weit hergeholt“, stimmt der Schulmeister zu, „selbst im ‚Ritter zum Sankt Georg‘ soll zu später Stunde das Bier verdächtig nach Bernsbach schmecken, habe ich sagen hören. Es heißt, der Wirt hätte den Wasserlauf unter seinem Haus extra deswegen angestaut.“

„Nun sitzt ihr wohl den übelsten Verleumdungen auf?“, mischt sich Hans Prescher in das Gespräch. „Unter ehrlichen Chemnitzern ist es nicht üblich, sich zu betrügen, aber um euch zu beruhigen: das Bier ruht schon seit drei Tagen in seinen Fässern bei mir in der Werkstatt und ich habe jedem Fässchen eine gute Probe entnommen.“

Beruhigt prosten sich die Männer zu, während sich Mutter Mechthild ihren Becher aus der Weinkanne füllt. Der vollmundige rote Tropfen von den Hängen der Saale sagt ihr mehr zu als der einheimische Gerstentrunk, der so schnell den Kopf schwer werden lässt. Wie es heißt, soll es bei Meißen auch Weinberge geben, die den Hof des Kurfürsten beliefern, aber von solchem Tropfen zu kosten, war ihr bislang noch nicht vergönnt. Außerdem liebt sie den Gedanken, dass der Wein in ihrem Becher aus den gleichen Landen kommt wie ihre Vorfahren.

Träumerisch schließt sie die Augen und lässt den Schluck über ihre Zunge perlen. Unversehens rücken die Geräusche um sie herum in den Hintergrund, dringen an ihr Ohr nur noch wie durch Watte. Die ganze Gesellschaft erscheint ihr wie von orangem Licht übergossen und plötzlich, gänzlich ohne jeden Laut, führt das Brautpaar alle Gäste aus der Stadt hinüber zum Katzberg, wo sie durch ein großes offenes Tor in der Erde verschwinden. Um das Tor herum aber stehen fremde Söldner in drohender Haltung, vermögen jedoch nicht, ihre Speere zu werfen und so scheinen sie im Schrei der Wut erstarrt. Ein Blick zurück zeigt ihr, dass eine Feuersbrunst die Stadt in Schutt und Asche legt. Erschrocken schreit Mutter Mechthild die Warnung in die unwirkliche Stille: „Gefaaaahr!“

„Was schreist du da, Weib?!“ Urplötzlich sieht sich die Alte wieder inmitten der Hochzeitsgesellschaft den neugierigen Blicken der Gäste ausgesetzt. Der Pfarrer hat mahnend die Hand erhoben und starrt ihr in die Augen. „Ist der Gehörnte in dich gefahren? Was plärrst du da von Gefahr, wo der Anlass des Festes glücklicher nicht sein könnte?!“

Scheinbar demütig senkt Mechthild den Blick. „Entschuldigt, Hochwürden. Es war wohl ein Schluck zu viel, den ich durch meine Kehle rinnen ließ. Ich sah die Tischkante auf mich zukommen und meinte, es sei eines Schwertes Klinge, daher mein Schrei. Entschuldigt einem alten Weib. Ich werde besser auf mein Nachtlager kriechen.“

Auf gar keinen Fall will sie den Schwarzkittel ins Vertrauen ziehen, denn es war kein Traum, sondern eine Erscheinung, die ihr widerfahren ist. Dies aber sollte der Herr Pfarrer besser nicht bemerken, die Folgen wären eine Katastrophe, für sie und all jene, die ihre besonderen Fähigkeiten nutzen. Es wirkt ein wenig mühselig, wie sie sich von der Bank erhebt und die alten Beine über die sperrige Bank zu bringen trachtet.

Der Pfarrer sieht sich noch immer von Misstrauen durchdrungen und so forscht er im Gesicht seiner Nachbarin. Wie trunken wirkt sie nun gerade nicht auf ihn, aber was hat sie zu dem Warnruf getrieben? Dieser Frage will er auf den Grund gehen und so richtet er seine Aufmerksamkeit weiter auf die Alte, die ihm nunmehr den Rücken zukehrt. „Was tischst du mir da für ein Märchen auf? Die drei Schluck in deinem Becher machen keine Fliege wirr.“

Der alte Schlosser Bronnewitz drängt sich an den Pfarrer heran und schniefend lässt er seinen fauligen Atem in dessen Nase dringen, dass der sich ihm unwillig zuwendet. „Was willst du, dass du deinen stinkigen Odem in mein Gesicht bläst?“

Entrüstet nuschelt der Alte: „Wenn das mal eine Art ist, Hochwürden! In meinem Alter riecht man nicht mehr nach Veilchen, sondern eher nach Pisse. Aber deswegen ist man nicht blöd und will auch nicht so behandelt werden.“

„Gegen den Geruch hilft das Wasser hinterm Haus, man muss sich nur waschen. Aber du stinkst aus dem Maul, als verfaultest du innerlich. Vielleicht solltest du öfter mit einem Kräutersud gurgeln. Da weiß die Mechthild bestimmt Abhilfe, wo sie sich mit dem Grünzeug so gut auskennt“, versucht der Pfarrer zu beschwichtigen, doch der alte Schlossermeister ist nicht halb so empört, wie er sich gibt. Weil er in Mechthild etwas Besonderes sieht, er sie als weise Frau schätzt, gilt sein Sinnen, den Kirchenmann abzulenken und so erwidert er: „Das will ich versuchen, Herr Pfarrer, aber damit warte ich lieber bis morgen, habe ich doch die Mechthild vorhin schon im Hause der Brauteltern trinken sehen. So wie sie jetzt drauf ist, gibt sie mir vielleicht Latrinenwasser zum Gurgeln.“ Angeekelt winkt der Pfarrer ab und will sich der Alten zuwenden, aber die hat längst das Weite gesucht und so wandert sein Blick vergebens um das Rund.

Indes hat Mutter Mechthild das Prescherche Anwesen erreicht und eilig durchquert sie den Garten, um durch die Hintertür zu schlüpfen. Im Haus hofft sie, die Mutter des Bräutigams zu finden, denn an der langen Tafel hat sie diese schon geraume Zeit nicht mehr gesehen.

Tatsächlich hört sie Magdalena in der Werkstatt hantieren. „Hallo, ist da jemand?“, macht sie sich bemerkbar. „Magdalena, bist du im Hause?“ Endlich wird sie hereingebeten. „Komm in die Werkstatt, Mutter Mechthild, ich bin am Sortieren, damit nicht der falsche Trunk serviert wird und genug Brot auf dem Tisch steht. Willst du mir helfen?“

„Na gut, ein wenig kann ich dir beistehen, wenn du mir dabei zuhören willst. Es scheint etwas auf uns zuzukommen, was wir nicht steuern können“, nuschelt die Ältere und schlüpft durch die Tür – gar nicht einem alten Weib angemessen.

Erstaunt blickt ihr die Mutter des Bräutigams entgegen. „Um Gottes Willen, Mechthild, du siehst kreidebleich aus! Was ist dir widerfahren? Es scheint mir stark nach Ärger zu riechen. Bist du wieder mit dem Herrn Pfarrer aneinander geraten? Wie oft haben wir dir nahegelegt, diesen Zwist zu meiden. Nicht jeder Pfarrer ist initiiert und das weißt du ganz genau.“

„Nichts davon!“, wehrt die Seherin ab. „Ich hatte gerade eine Vision und kann sie nicht so recht zuordnen. Ich brauche die Unterstützung der anderen Weisen. Können wir uns nicht oben an der Ulme treffen, sagen wir zu Sonnenuntergang?“

Erschrocken richtet sich Magdalena auf. „Bist du wohl ruhig! Willst du die Leute auf uns aufmerksam machen? Wenn das jetzt jemand gehört hat!?“ Hastig nimmt sie einen Topf mit Hirse und lässt die Körner auf dem Boden des Gefäßes durch Schütteln tanzen, dass ein rasselndes Geräusch den Raum füllt und die weiteren Worte der beiden Frauen nicht nach außen dringen. „Nun sag schon, was dich so sehr durcheinander bringt, dass du alle Sicherheitsvorkehrungen unbeachtet lässt? Du bist sonst immer sehr auf deren Einhaltung bedacht.“

Mutter Mechthild hat sich auf dem Bretterstapel an der Wand niedergelassen und atmet schwer. „Du musst entschuldigen, aber die Vision hat mich arg getroffen und auch du wirst durch sie nicht ruhiger werden. Wir müssen uns unbedingt im Kreise der Weisen zusammensetzen, denn ich habe großes Unglück gesehen. Das Brautpaar hat die Stadtbewohner in den Katzberg geführt und fremde Söldner haben das Volk mit ihren Waffen bedroht.“

Wenngleich Mechthild sonst immer die resolutere der zwei Frauen ist, übernimmt jetzt Magdalena die Initiative und gewährt der Älteren den dringend benötigten Halt. „Nun bleib besonnen, Mechthild. Wie besagen unsere Regeln? Welchen Inhaltes auch unsere Visionen sind, erst müssen sie gründlich durchdacht werden, bevor wir in Gefahr geraten, falsche Schlussfolgerungen zu ziehen. Vielleicht steht das Gesehene in Verbindung mit dem späteren Leben der Brautleute? Vielleicht werden sie in ferner Zukunft die Stadt vor einer Katastrophe retten? Wir werden uns also heute Abend zusammenfinden. Gebe den anderen Bescheid, während ich mich weiter um das Fest kümmere.“

Entschlossen schiebt sie die Ältere aus der Tür und wendet sich wieder ihrer Arbeit zu. Eine dicke Sorgenfalte lässt die sonst so freundlich mit lustigen Runzeln verzierte Stirn in zwei bekümmerte Hälften klaffen und die eben noch so flotten Bewegungen sind nun bedächtig und verraten schwere Gedanken im Kopfe der Frau. Hoffentlich droht das Unglück nicht unmittelbar. Vielleicht hat der schwere Wein der Mutter Mechthild einen Streich gespielt? Aber sie kann die Überlegungen anstellen wie auch immer sie mag, eine Klärung vermag sie nicht herbeizuführen. Leider hat sie die Vision nicht selbst gesehen und so muss sie erst den Abend abwarten. Entschlossen schüttelt sie den Kopf und energisch wendet sie sich ihrer Tätigkeit zu, denn schließlich soll den Gästen das Hochzeitsmahl unvergesslich bleiben.

Wenig später tritt Magdalena auf die Gasse hinaus und gibt ihrem jüngeren Sohn zu verstehen, dass neuer Wein und frisches Bier herangebracht werden können, dass die Fässer und Krüge im Hause bereitstehen. Ihre Augen indes streifen die Tafel und suchen den Pfarrer, der sich nunmehr dem alten Schulmeister zugewandt hat und mit diesem eifrig debattiert, inwiefern die heutige Jugend den moralischen Ansprüchen des Lebens gewachsen sei. Erleichtert schmunzelt Magdalena. Offenbar hat der Priester doch keinen nachhaltigen Verdacht geschöpft. Vielleicht hat er nicht einmal den Hauch einer Ahnung. Stattdessen ereifert er sich gerade über die unfassbare Handlungsweise des Kunz von Kauffungen, dessen Beweggründe vom Schulmeister durchaus verstanden werden, wenngleich dieser den Tathergang an sich ablehnt.

„Der Ritter hat doch den Lohn vom König angenommen, was erdreistet er sich, mehr zu fordern?!“, wettert der Schwarzkittel. „Wenn er den Hals nicht voll bekommen kann, muss eben der Kopf herunter. Mir wäre nur lieber gewesen, der Schädel wäre nicht auf dem Freiberger Markt, sondern hier auf das Pflaster gefallen, dann gäbe es mehr Respekt vor der Obrigkeit!“

Nachdenklich reibt sich der Lehrer die Nase. „Tja, wenn er seine Rache nicht auf Kosten der Knaben vollzogen hätte, ich könnte es ihm nicht verdenken, Hochwürden. Ich kann nicht große Versprechungen machen und dann kneifen. Die Stadt muss auch den Bauern das Versprochene zahlen, ansonsten fließt das Wasser vom Goldborn eben nicht durch die Röhre in die Stadt, sondern in den Hilbertsdorfer Bach.“

Während Magdalena langsam weitergeht, glättet die Beruhigung die Spuren der Sorge auf ihrer Stirn. Nein, der Pfarrer hat keinen Verdacht geschöpft. Entspannt rutscht sie neben ihrem Hans auf die Bank und ergreift den Becher, denn soeben bringt der Bürgermeister Stobener einen Trinkspruch auf das Brautpaar.

„Was war denn mit der alten Mechthild los?“, fragt ihr Mann zwischen zwei Zügen von seinem Bier, den Schaum des Gerstensaftes in seinem Bart verteilend. „Hat sie sich mit dem Schwarzkittel angelegt oder geht es der Kräuterhexe nicht gut? Es ist doch sonst nicht ihre Art, so schnell zu verschwinden.“

Ärgerlich tritt ihm Magdalena auf den Fuß. „Du sollst sie nicht immer Kräuterhexe nennen! Irgendwann geht es ihr noch an den Kragen, nur weil du dich nicht beherrschen kannst! Johanna hat den Ausdruck schon von dir übernommen und das macht es noch schlimmer!“

„Nun hab dich nicht so, es ist doch nicht ernst gemeint! Es wird ihr schon keiner den Kopf abreißen. Außerdem muss sie sich nicht so deutlich als das zu erkennen geben, was sie ist“, wiegelt der Tischler ab. „Du gibst dich auch nicht so zu erkennen.“

„Und du musst noch ein Bier mehr trinken, damit du gar nicht mehr weißt, was du von dir gibst. Die ganze Stadt kann zuhören, worüber wir uns unterhalten und manch einer wäre vielleicht ganz stolz darauf, jemanden wegen Hexerei in Verruf zu bringen. Halte also lieber den Mund!“ Ärgerlich blickt sie in die Runde und stellt befriedigt fest, dass niemand von ihrem Wortwechsel Notiz genommen hat.

Plötzlich spürt sie Hans‘ Hand auf ihrem Arm. „Nur keine Sorge, mein Käuzchen, ich werde dich nicht in Gefahr bringen und habe gesehen, dass uns niemand wahrnimmt. Wir könnten von hier verschwinden und es würde im Augenblick niemand merken.“ Er zieht sie an sich und drückt ihr einen langen Schmatz auf die Wange, dem zu entziehen ihr trotz Mühe nicht gelingt und so lehnt sie sich an ihn und lächelt zart. „Ach, du großer Junge, wirst du nie erwachsen? Trotzdem solltest du vorsichtiger mit dem sein, was du von dir gibst. Wir haben hier nicht nur Nachbarn, die uns wohlgesonnen sind, sondern es gibt auch Neider, zumal unser ungeschickter großer Sohn auch noch Stadtschreiber werden konnte.“

„Nanu, was turtelt ihr denn hier? Das Brautpaar sitzt da vorn, ihr verwechselt da sicher etwas“, tönt es plötzlich zu ihnen herüber. Lorenz Uhle, der Metzgermeister hat sich ihnen gegenüber niedergelassen und lacht ihnen offen ins Gesicht. „Es ist immer wieder schön anzusehen, wie ihr auch nach so langen Ehejahren miteinander turtelt. Mein Weib wird mich einen alten Holzklotz schimpfen, weil unsere Liebe nicht mehr ganz so taufrisch erscheint. Wie macht ihr das nur?“

„Es kommt nicht darauf an, die Lenden des Viehs feilzubieten, sondern den Saft der eigenen Lenden freigiebig sprudeln zu lassen“, belehrt der Tischler den feisten Metzger, doch dieser wiehert: „Sprudeln ist gut, ich vermute aber eher, der Saft sickert mehr aus dem alten Gemächt.“

„Haltet die Luft an, Knochenhauer, Ihr zählt wohl über zwanzig Lenze mehr als ich. Allerdings macht mich stutzig, dass da acht Paar Kinderfüße durch Euer Haus trippeln. Aber das sind anscheinend Enkelkinder und damit mag das mit dem Sickern wohl eher auf Euch zutreffen“, erwidert Hans wohlgelaunt.

Lorenz Uhle lacht schallend über die Antwort seines Gegenübers. „Gut pariert, Hans Prescher. Ich schlage vor, wir trinken lieber einen Krug zusammen, als uns zu streiten. Wenn dein Weib uns das Vergnügen lässt?“

Magdalena nickt ihm huldvoll zu. „Diese Gunst will ich euch erweisen. Trinkt auf mein Wohl, während ich mich um die Gäste kümmern will.“ Leise lachend prosten sich die beiden Alten zu und lassen das edle Nass durch die Kehle rinnen.

Zufrieden zwinkert die Frau des Fleischers herüber und raunt verhalten: „Na, Prescherin, da haben sich zwei gefunden. Wenn es denen mit der Liebe so wäre, wie mit dem Krug, dann ginge es uns beiden besser, oder? Ich meine fast, der Lorenz hätte sein bestes Stück nur noch, um Wasser abzuschlagen. Wir sollten die beiden alten Kerle ein wenig vom Fass weglocken, sonst passiert heute wieder nichts.“

Glucksend lacht Magdalena in sich hinein. „Du meine Güte, Nachbarin, das hört sich sehr verschwörerisch an. Vielleicht hält es aber mein Hans anders und ich bin ganz froh, wenn er mich einmal abends in Ruhe lässt? Immerhin ist unser Kindersegen mittlerweile groß genug und wir sollten langsam auf Enkel warten.“

Die Ältere winkt ab. „Was denkst du denn? Die Enkel kommen von ganz alleine, das bringen die Jungen schon ganz gut. Aber das Vergnügen sollten wir uns gönnen, zumal nichts mehr passieren kann.“ Verschwörerisch schiebt sie der Jüngeren ihren Krug zu. „Komm Prescherin, füll mir richtig nach, ich will meinem Alten noch einmal den Weg in die Glückseligkeit zeigen.“

Magdalena entspricht ihrem Wunsch gern und schiebt sich dann von der Tafel nach hinten in den Schatten der Hecke, wo sie unversehens auf Ruprecht trifft, der den Weg zur Latrine sucht.

„Was denn, Bräutigam, du wirst doch nicht den Wein im Übermaß in dich hineinschütten? Denke daran, dass du heute noch Pflichten zu erfüllen hast, die nicht zu verachten sind!“

Der Junge grient ihr ins Gesicht. „Meinst du die Pflichten, die eben die Uhlin eingefordert hat? Das werde ich schon zu meistern wissen. So alt bin ich noch nicht und die Lust darauf ist mir auch noch nicht vergangen.“

„Kindskopf, was verstehst du schon davon? Hast noch keine Frau gesehen und kennst nicht die Qual des Versagens im Bett. Da mussten schon ganz andere Kerle klein beigeben. Vielleicht kommst du aber auch nach deinem Vater, der war diesbezüglich immer bestens orientiert. Das brauchst du mir aber morgen nicht zu berichten, das will ich gar nicht wissen.“

Ruprecht schüttelt den Kopf. „Mein Gott, Mutter! Solche Worte kenne ich gar nicht aus deinem Munde! Aber im Augenblick habe ich andere Sorgen. Ich muss von hier fort, ohne dass es auffällt. Irgendetwas sagt mir, dass ich oben auf dem Katzberg gebraucht werde. Eben hatte ich das Gefühl, als hätte mich die Mutter Mechthild gerufen. Ich soll auf den Katzberg kommen zu den drei alten Ulmen mit Haselstrauch, du weißt schon, dort, wo wir immer im Sommer Verstecken gespielt haben.“

Prüfend blickt Magdalena ihrem Sohn ins Gesicht. „Sag, Großer, hast du bisher nie solche Erscheinungen gehabt? Ich meine, dir muss es doch geläufig sein, dass wir hin und wieder Sachen erleben, die anderen Leuten nicht widerfahren. Dafür entstammen wir den weisen Frauen unseres Volkes – was aber eben niemand wissen sollte. Du aber bist für noch ganz anderes vorgesehen, wenn die Mutter Mechthild recht hat.“

„Nun mach halb lang, Mutter“, wehrt Ruprecht entschieden ab. „Von der alten Mechthild bin ich derartige Bemerkungen gewohnt, aber von dir?! Na klar wissen wir von deiner Berufung und der Rolle unserer Schwestern. Unsere Aufgabe als eure Beschützer ist uns mehr als bewusst. Aber wieso sollte ich etwas Besonderes sein? Ich kann schlecht als weise Frau durchgehen – oder als Hexe, wenn du den Herrn Pfarrer hörst.“

Magdalena lässt einen gequälten Seufzer hören. „Nun, dann wird es höchste Zeit, dich in Kenntnis zu setzen. Komm mit mir und lass die Hochzeitsgesellschaft eine kleine Weile allein feiern. Sie werden unser Fehlen gar nicht wahrnehmen. Wir haben das gleiche Ziel und unterwegs kann ich dir alles erklären.“

Unentschlossenheit schleicht zaghaft in Ruprechts Gesicht, lässt ihn verwirrt auf seine Mutter sehen und fast schon mechanisch schließt er sich ihr an. Parallel zur Gasse führt ein gewundener Pfad durch die brachen Grundstücke und trifft neben Stanges Anwesen auf die Gasse „Uff der Bach“. Eiligen Schrittes wenden sie sich der langen Gasse zu und verlassen die Stadt schließlich durch das Nikolaitor. Als sie die Häuser jenseits des Flüsschens hinter sich gelassen haben und den Hang zum Katzberg hinauf erklimmen, beginnt Magdalena endlich, ihrem ältesten Sohn die versprochene Erklärung zu liefern.

„Ich will hoffen, dass uns hier niemand belauscht, während wir den Anstieg hinaufkraxeln. Du hast ganz richtig gesagt, wir Frauen unserer Familie gehören zu den weisen Frauen unseres Volkes seit uralten Zeiten. Wir haben die Aufgabe, unser Volk vor Unglück zu schützen, Kranke zu heilen und die uralten Kenntnisse unserer Vorfahren zu bewahren und zum Wohle unserer Leute anzuwenden. Nein, zaubern können wir nicht – falls du das fragen wolltest – und hexen auch nicht. Aber wir können Dinge wahrnehmen, die anderen Menschen verborgen bleiben. Dazu gehört auch, dass wir das zweite Gesicht haben und unsere Gedanken über große Entfernungen ohne Worte weitergeben können. Allerdings können wir, genau wie jeder andere, nicht das Denken der Menschen beeinflussen, es bedarf unseres aktiven Tuns. Deshalb ist es ein deutliches Zeichen für dein besonderes Wesen, wenn du den Ruf Mechthilds vernommen hast. Seit jeher vertritt sie die Meinung, dass du der Hüter der Stadt wärst. Das ist der Nachfolger des Rudolf in direkter Linie, den die heilige Hildburga an ihre Seite gewählt hat, das Schicksal der Stadt vor Unbilden zu bewahren.“

Wenn es vielleicht nicht unbedingt die aufgerissenen Augen sind, dann doch der offene Mund, der Ruprechts ungläubiges Staunen zum Ausdruck bringt. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“, bringt er schließlich hervor. „Du hast uns immer angehalten, nicht dem Aberglauben zu verfallen und immer den wahren Kern zu suchen. Jetzt offenbarst du mir so ganz nebenbei, dass ich der Sagenwelt entsprungen sein soll!“

Magdalena setzt sich auf einen Baumstumpf und bedeutet ihrem Sohn, es ihr gleich zu tun und so sitzen sie kurz darauf inmitten der bunten Blüten der Wildblumen, gedeckt vom stachelbewehrten Gesträuch der Brombeere. Bedeutungsvoll reibt sie sich die Nase und sieht dabei nachdenklich auf Ruprechts zerzaustes Haar. „Es ist alles nicht so eindeutig, wie es scheint. Richtig ist, dass die gute Mutter Mechthilde seit deiner Geburt behauptet, dass du der Wiedergänger wärst, was eine andere Bezeichnung für den Hüter der Stadt ist. Weil diese Vermutung aber niemals durch andere bestätigt werden konnte, haben wir sie einfach ignoriert, so oft die Alte sie auch wiederholte. Nun hat sie uns aber ein deutliches Zeichen gegeben, dass sie recht hat, denn du hast ihren Ruf verstanden und folgst ihm. Ein einfacher Mensch wäre durch Mechthilds Ruf nie erreicht worden oder besser: er hätte ihn nicht verstanden. Dass du aber genau wusstest, wer dich gerufen hat und wohin, zeigt mir, dass du tatsächlich der Hüter bist und nun die erste große Aufgabe auf dich wartet. Stell dich also deiner Pflicht und tu, was dir aufgetragen wird.“

Entschlossen erhebt sie sich und zieht Ruprecht hinter sich her. Der aber staunt noch immer. Endlich brummt er vor sich hin: „Das ist schon merkwürdig. Zum Tischler tauge ich nicht mit meinen ungeschickten Händen. Dann werde ich durch Gottes Fügung zum Stadtschreiber und nun soll ich gar der Hüter der Stadt sein? Ist das nicht alles ein wenig dick aufgetragen? Ich meine, kann ich nicht einfach der sein, der ich immer war?“

Die Mutter blickt ihn über die Schulter an. „Du bist doch der, der du schon immer warst. Seit deiner Kindheit tust du Dinge, die anderen Knaben deines Alters nicht im Traum eingefallen wären. Du suchtest immer Buchstaben und Zahlen zu erkennen, jede Gelegenheit hast du zum Zählen und Rechnen wie auch zum Schreiben genutzt und dein Ungeschick als Tischler ist dem geschuldet, dass du in deinen Gedanken immer hinter die Dinge zu sehen trachtest. All dies hat die Mutter Mechthilde in ihrer Auffassung bestärkt.“

„Das mag alles sein“, weigert er sich, zuzustimmen, „aber deswegen muss ich lange nicht zu diesen Schauergestalten gehören, die durch die fantastischen Geschichten in der Spinnstube geistern. Nicht jeder, der so viel Gefallen am Lesen und Rechnen gefunden hat, muss deswegen gleich von einem uralten Volk sein, aus dem die Weisen hervorgegangen sind.“

„Nun ist aber gut“, weist ihn Magdalena zurecht, „sind wir vielleicht Schauergestalten? Wir sind solche Menschen wie die anderen auch, nur haben wir einen Sinn mehr. Wir können uns besser mitteilen und haben ein feineres Gespür für die Zeitläufe, wodurch wir unsere Visionen haben. Deswegen sind wir doch keine Gespenster!“

Endlich schmunzelt der Jungvermählte. „Stimmt, Gespenster seid ihr nicht, wobei ich allerdings hin und wieder diesbezüglich Zweifel bei meinen Schwestern habe. So viel Blödsinn wie die verzapfen, kann nicht aus einem gesunden Menschenhirn kommen.“

Schmerzhaft trifft ihn der Ellenbogen der Mutter an der Rippe. „Untersteh dich, so von deinen Schwestern zu reden! So schwierig sie manchmal sind, so liebenswert sind sie auch.“

„Aber sicher doch und ich werde mich hüten, sie jemals in Gefahr zu bringen“, beruhigt sie ihr Sohn. Dann eilen sie schweigend den schmalen Pfad hinauf zum Kamm der langgezogenen Höhe. Immerhin wollen sie nicht gar so lange, und vor allem unbemerkt, von der Feier fernbleiben.

Endlich erkennen sie die drei Ulmen inmitten der Lichtung auf der Höhe. Seit ewigen Zeiten sind sie markanter Punkt für spielende Kinder im Wald. Die sie umgebenden Buchen protzen mit ihrer silbernen, glatten Rinde, während die tiefen Furchen der braunen Ulmenstämme die Weisheit gleich der Stirn eines Greises widerspiegeln. Die gezackten Blätter wiegen sich sacht in ihren Zeilen an den Zweigen, während die Buchen nebenan die glattrandigen Blätter an den Zweigenden in ihren Büscheln leise tanzen lassen.

Unter den alten Bäumen haben einige Frauen inmitten eines Kreises aus Steinen Platz genommen und schauen den Ankömmlingen gespannt entgegen.

Als Ruprecht mit seiner Mutter die Wartenden erreicht, streckt ihm die alte Mechthild beide Hände entgegen. „Habe ich es nicht immer gesagt, dass er zu uns gehört? Du hast also meinen Ruf gehört?! Ein deutlicheres Zeichen kann es nicht geben, will ich meinen. Du bist ganz sicher der Rudolf und wirst uns helfen, die Stadt vor Unglück zu bewahren.“

Offensichtlich finden ihre Worte die Zustimmung der anderen Frauen und so schwappt ihm eine Woge der Sympathie entgegen.

„Nun übereilt nur nichts“, versucht Magdalena die Euphorie zu dämpfen, „noch wissen wir nicht, ob Mechthilde im Recht ist mit ihrer Vermutung und dann steht da noch die Frage, ob wir seiner Unterstützung heute tatsächlich bedürfen. Immerhin sollte er als eine Hauptperson des Festes seiner Braut zur Seite stehen.“

„Ach was“, kontert die Alte, „es ist keine Frage mehr, ob Ruprecht der Rudolf ist. Ich habe eine ganze Reihe von Untersuchungen angestellt und mein Ruf nach ihm war nur das letzte Glied einer langen Kette. Du kannst getrost davon ausgehen, dass in deinem Schoß der Hüter herangereift ist und sein ganzes Auftreten von Kindesbeinen an zeigt, dass er es tatsächlich ist. Nun soll er seine Aufgabe erfüllen.“

Entschlossen zieht sie den Jungen in den Kreis und Ruprecht ist keinesfalls geneigt, sich zu widersetzen. Es macht ihn neugierig, was man mit ihm vorhaben mag und interessant erscheint ihm die Gesellschaft der Frauen allemal.

Als diese ihr Ritual zur Eröffnung der Zusammenkunft abgehalten haben, erläutert Mechthilde ihre Vision während der Hochzeitsfeier und erfragt die Meinung der anderen.

„Es ist eindeutig der Hinweis auf einen bevorstehenden Krieg!“, bekräftigt die noch recht junge Martha aus Bernsdorf. „Allerdings haben wir bislang keinen anderen Hinweis auf einen Waffengang. Sollte sich da etwas am Horizont zusammenbrauen, wovon wir keine Ahnung haben?“

„Das scheint mir nicht so“, widerspricht Magdalena energisch, „wenn kein anderer Hinweis zu erkennen ist als diese Vision, dann geht es eher nicht um Krieg, dann geht es um etwas anderes. Meiner Meinung nach sollten wir dies sinnbildlich sehen und überlegen, was eine Rettung der Einwohner erforderlich machen könnte. Zeichnet sich vielleicht ein Stadtbrand ab oder droht eine neuerliche Flutkatastrophe?“

„Vielleicht sollten wir auch in Erwägung ziehen, dass sich einer der adligen Herren, wie anno 55 der edle Kunz von Kauffungen, daneben benimmt und gar einen Krieg mit dem Landesherrn vom Zaune bricht?“, wirft die alte Bertha aus Ebersdorf ein, die das Drama um die beiden Prinzen damals aus nächster Nähe miterlebt hat.

„Solch eine Auseinandersetzung gefährdet zwar die Dörfer, vermag aber keine Stadt so zu bedrohen, dass die Einwohner flüchten müssen“, bemerkt Mechthilde und fügt hinzu: „Vielleicht erhebt sich aber auch die Bürgerschaft gegen den Rat wie seinerzeit im Jahre 1414. Also irgendetwas in dieser Art wird es wohl sein, was Chemnitz bedroht.“

„Nun, ich will hoffen, dass uns kein Krieg droht. Seit über hundert Jahren mussten wir keinen mehr erleben und es wäre wünschenswert, dass dies auch weitere hundert Jahre so bliebe“, meldet sich ungefragt Ruprecht zu Wort. „Wenn es keine weiteren Anzeichen einer derartigen Gefahr gibt, dann sollten wir uns eher fragen, ob die gute Mechthilde nicht an Stelle der Vision eine Halluzination hatte. Vielleicht hat jemand Vogelbeeren auf die Hochzeitstafel gebracht? Ich meine, es wäre ganz und gar nicht in eurem Interesse, wenn falsche Warnungen die Stadt erreichten!“

Die Alte ist deswegen keineswegs missgestimmt. „Deswegen kommen wir bei solchen Erscheinungen zusammen. Der Grat zwischen Hellsehen und Halluzinieren ist sehr schmal, insbesondere, wenn mit diversen Mittelchen nachgeholfen wird. Allerdings habe ich auf derartige Unterstützung in diesem Falle nicht zurückgegriffen und so prüfen wir den Wahrscheinlichkeitsgehalt in Gemeinschaft.“

Die Frauen wägen die Möglichkeiten ab und beschließen, sehr ernsthaft die nächsten Visionen zu beobachten. Vielleicht droht doch Gefahr. Dann trennen sie sich und begeben sich auf den Weg nach Hause.

Ruprecht hakt seine Mutter und die alte Mechthild unter und gemeinsam wandern sie den Weg talwärts, den Windungen des Pfades im hochgewölbten Gras folgend, die sie um die Hindernisse am Boden herumführen. Im warmen Licht der Sonne tanzen die Bienen und Schmetterlinge von Blüte zu Blüte und metallisch glänzen die Körper der Libellen im Wechsel des Verhaltens auf der Stelle und dem pfeilschnellen Davonhuschen. Sichtlich genießerisch lassen sich die zwei Frauen von ihrem jungen Begleiter stützen und der gibt ihnen gern das Gefühl des Geborgenseins.

Es ist eine geraume Zeit vergangen, seit Ruprecht sich mit seiner Mutter von der Hochzeitstafel davongeschlichen hat und so eilen sie, nachdem sich Mutter Mechthild vor dem Nikolaitor verabschiedet hat, flinken Fußes in die heimatliche Gasse. Sie haben noch nicht das Bretgässchen erreicht, da hören sie einen gewaltigen Lärm aus dem hinteren Teil der Langgasse, die da Hinter der Bach genannt wird und ihr Zuhause darstellt.

Die ganze Hochzeitsgesellschaft hat sich von den Bänken und Schemeln erhoben und allesamt blicken sie hinüber zu der Stelle, wo vorhin noch der Herr Pfarrer mit der Mechthilde debattiert hatte. Hans steht ratlos an der Hecke des brachliegenden Grundstücks neben seinem Anwesen und kratzt sich den zerzausten Schopf. Die Roselers stehen etwas weiter zu ihrem Hause zu und blicken verstört auf die Gesellschaft, während die Gäste eher sensationslüstern zu sein scheinen.

Über all dieser merkwürdigen Anordnung aber liegt ein Geschrei sondergleichen. Es ist die hektische Stimme des Pfarrers, die sich mit dem ruhigen Bass des Bürgermeisters misst. „Und ich sage noch einmal deutlich, dass hier der Teufel seine Hand im Spiel hat!“, geifert der Pfarrer. „Wie kann es sein, dass eine Hexe plötzlich von der Hochzeitstafel aufspringt und Zeter und Mordio schreit? Und dann auf einmal ist sie verschwunden, mit ihr der Bräutigam und seine Mutter! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!“

„Nun haltet die Luft an, Hochwürden!“, brummt der Bürgermeister. „Vielleicht hat der Bräutigam mit seiner Mutter etwas herbeizuschaffen, dass es uns nicht dürstet? Eventuell ist die Mechthilde auch allein nach Hause gegangen, weil ihr Euer Gezänk zu viel wurde?“

Eben will der Pfarrer in aller Giftigkeit antworten, da gibt sich Magdalena zu erkennen. „Nur keinen Streit, Herr Pfarrer und Herr Bürgermeister. Eben brachten wir die Mutter Mechthild aus der Stadt, denn ihr ist ein kleines Unglück passiert. Ihr wurde mächtig schlecht und unheimlich. Mir scheint, hier sind Vogelbeeren auf die Tafel gekommen und wenn mich nicht alles täuscht, dann steht dort drüben eine Schale mit diesen Früchten.

Ganz bleich wird der Pfarrer und nunmehr stotternd bringt er hervor: „Bei Gott, dann habe ich wohl halluziniert, denn ich habe davon reichlich genossen. Dachte ich doch, es seien Preiselbeeren und die esse ich für mein Leben gern. Ich werde mich sofort hinlegen. Hoffentlich habe ich mich nicht vergiftet und gehe heim zu unserem Vater!“

„Ach woher denn, Herr Pfarrer, sie können sich höchstens den Magen verdorben haben, so giftig ist das Zeug nun auch wieder nicht“, beruhigt ihn der Bürgermeister. „Da hilft nur reichlich trinken, dass der Körper gut durchgespült wird!“ Mit Elan schiebt er seinem Widerpart den Bierkrug zu. Der nimmt ihn nur zu gern auf und lässt das Nass glucksend durch die Kehle rinnen, erhöht doch das Wissen um die heilende Wirkung solchen Tuns enorm das Selbstbewusstsein.

Die Gesellschaft scheint dies als Aufforderung zu verstehen. Im Nu schlagen die Krüge im Takt auf die Tafel und lautstark wird Nachschub verlangt. Diesem Begehren kommen die Gastgeber nach dem Schreck nur zu gern nach, denn ein Streit an der Hochzeitstafel – das schreit doch geradezu nach Unglück in der Ehe.

Indes haben sich die Brautleute zurückgezogen. Eng umschlungen haben sie sich auf Vaters Bank im Prescherchen Garten niedergelassen. Eigentlich wären sie hier ja um diese Tageszeit nicht ungesehen, jedoch ist heute alles anders, denn jedermann ist draußen auf der Gasse und genießt das Hochzeitsmahl.

„Wo warst du denn nun wirklich so lange?“, will Martha drängend wissen. „es hat mindestens eine Stunde gedauert, die du weg warst, wenn nicht noch viel länger.“

Verlegen dreht Ruprecht den Kopf zur Seite, denn es bereitet ihm Unbehagen, an einem Tag wie diesem seine junge Gattin anzulügen. „Frage mich lieber nicht“, bringt er schließlich hervor, „der Mutter Mechthild ging es noch schlechter als eben dem Pfarrer. Sie hatte Halluzinationen und so brachten wir sie nach Hause. Daher wusste meine Mutter auch sofort von den falschen Preiselbeeren.“

„Und geht es ihr jetzt wieder besser?“, will Martha wissen. „Ja, sicher, wir sind mit ihr langsam gelaufen und so konnte sie sich erholen“, lautet die gestotterte Antwort.

Prüfend blickt Martha ihm ins Gesicht. „Warum nur habe ich das Gefühl, dass du mir nicht die Wahrheit sagst? Lass nicht zu, dass ich dieses Gefühl öfter habe, denn dann werde ich Mittel und Wege wissen, die Wahrheit zu erfahren!“

Während er stumm den Kopf schüttelt, kuschelt sie sich an ihn und flüstert: „Lass uns den Tag so richtig genießen!“

Des Rates Schreiber - Chemnitzer Annalen

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