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UNGLÜCK IM GLÜCK
ОглавлениеAls Lia am nächsten Tag abgeholt wurde, wurde Bauer Erwin sehr traurig. Ich habe mein kleines Pferde-Schweinchen doch lieber gehabt, als ich dachte. Und er bekam jetzt ein schlechtes Gewissen. Ich hätte ihr wirklich ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken sollen.
Als das Auto mit dem Pferdeanhänger vom Hof gefahren war, setzte er sich auf einen Stuhl und ließ seine Gedanken in die Vergangenheit schweifen. An einem Bild blieb er hängen: Boo und Sina rannten mal wieder um die Wette. Sina leichtfüßig und schnell wie ein Reh. Boo dagegen stampfte mit seinen starken Füßen auf den Boden, er kam aber nicht so recht in Schwung. Und die kleine Lia? Ihre kurzen Beine bewegten sich zwar sehr schnell, was auch ganz putzig aussah, aber weil sie so kleine Schritte machte, kam sie einfach nicht voran und blieb weit zurück.
Bauer Erwin stand ruckartig auf, wischte sich mit dem Ärmel über seine Augen und sagte hart zu sich selbst: »Schluss jetzt, was vorbei ist, ist vorbei.«
Bald verließen auch Boo und Sina den Hof: Boo kam zum dicken Klaus und würde ihm helfen, Stämme aus dem Wald zu schleppen. Er hatte ja genug Kraft dafür. Sina würde die Kinder im Heim glücklich machen.
»Ja, ja«, seufzte Bauer Erwin traurig, »so ist das Leben. Aber ich habe wirklich keine Kraft mehr für all die Arbeit auf dem Bauernhof.«
Nach zwei Wochen verkaufte er den ganzen Hof.
Bauer Erwin hatte nun viel Geld auf der Bank. Er nahm sich ein Zimmer im Hotel und wollte sich erst mal gründlich ausruhen. Und überlegen, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Irgendwann musste er auch eine Wohnung für sich finden, ewig im Hotel leben wollte er nicht.
Abends dachte er: Ich bin ein reicher Mann. Morgens dachte er: Ich bin ein armer Mann. Vormittags dachte er: Ich bin ein glücklicher Mann, weil ich nicht mehr arbeiten muss. Und nachmittags dachte er: Ich bin ein unglücklicher Mann, weil ich keine Beschäftigung mehr habe. Was soll ich bloß den lieben langen Tag machen ohne Arbeit und ohne meine Pferde?
Jeden Tag kauft er sich eine Zeitung. Zeit zum Lesen hatte er ja jetzt. An einem Vormittag saß er zusammengesunken auf seinem Bett und blätterte in der Tageszeitung. Einfach mal durchblättern, dachte er, lesen kann ich später. Plötzlich richtete er sich auf und zog das Blatt näher ans Gesicht: »Neues Wohnheim für Senioren«, las er laut vor. »In ruhiger Umgebung, mit schönem Blick auf den See«, stand da. Mehr musste er nicht wissen. Er ging an die Rezeption und ließ die Nummer wählen.
»Ja, natürlich haben wir noch eine Wohnung frei, wir haben ja gerade erst eröffnet«, sagte eine freundliche Frauenstimme.
Zwei Stunden später lenkte Bauer Erwin – er war ja eigentlich kein Bauer mehr – seinen Wagen auf den Hof der schönen Anlage. Wie gepflegt alles war. Und die großartige Aussicht! Die Chefin des Hauses begrüßte ihn freundlich und zeigte ihm mehrere kleine Wohnungen. Es roch nach frischem Anstrich. Erwin durfte sich ein Appartement aussuchen. Es sollte nicht zu klein sein, aber auch nicht zu groß; nicht zu dunkel, aber auch nicht zu hell. Die Wohnung sollte ruhig sein, aber nicht zu ruhig; etwas höher liegen, aber auch nicht zu hoch. Er wollte auf das Wasser schauen können, aber auch auf den Wald und die Wiesen. Erwin brauchte mehr als eine Stunde bis er alles bedacht hatte und sich entscheiden konnte. Schlussendlich nahm er die Wohnung im zweiten Stock. Von hier aus konnte er nach rechts auf den See schauen, wenn er es wollte, aber auch links auf die Wiesen und den kleinen Wald, wenn ihm danach war.
Als er sich entschieden hatte, ging er glücklich zur Hausleitung und unterschrieb den Mietvertrag. So eine gute Wahl, dachte er. Ich habe genau die richtige Wohnung für mich gefunden. »Darf ich noch mal schnell nach oben gehen und sie anschauen?«, fragte er die Chefin, als alles geregelt war.
»Ja, selbstverständlich, sie gehört ja jetzt Ihnen und Sie haben ja schon den Schlüssel in der Tasche.«
Erwin ging voller Erwartung die Treppen hoch. In seine eigene Wohnung! Hoffentlich habe ich nichts übersehen, fing er an zu zweifeln, ob er wirklich richtig entschieden hatte. Er hätte auch den Lift nehmen können, aber das wollte er nicht. »Wer Treppen steigt, bleibt fit«, sagte er sich nun fast übermütig.
Er öffnete seine Wohnungstür, ging sofort zum Fenster und öffnete es. Doch, er hatte vorhin etwas übersehen: Links, unweit des kleinen Wäldchens, beleuchtete die Sonne jetzt ein großes rotes Hausdach, das vorher im Schatten gelegen hatte. Arme Leute sind das nicht, dachte er und schloss das Fenster.