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EINE STRAHLENDE FRAU

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Erwin lebte in einer gemütlichen Wohnung und es ging ihm gut. So lange er denken konnte, war dies sein erster Sommer ohne viel Arbeit.

Er aß gesund.

Er schlief viel.

Er arbeitete nicht.

Er hatte keine Sorgen.

Er hustete nicht mehr und fühlte sich wieder fit.

Wer gut isst, wer genug schläft, wer nicht schwer arbeitet, wer keine Sorgen hat und nicht krank ist, der ist ein glücklicher Mensch, dachte er. Wenn Leute ihn fragten: »Wie geht’s?«, antwortete er: »Gut, mir geht es ausgezeichnet.«

Aber bald hörte er auf, so zu denken, und sagte sich, es stimmt einfach nicht, ich bin nicht wirklich zufrieden. Und so entschied er, nie mehr zu sagen, dass es ihm wirklich gut ginge. Es fehlte etwas: eine Aufgabe, eine sinnvolle Tätigkeit. Ja, und sicher auch eine Partnerin, mit der er sein Leben teilen konnte. Einfach nur allein rumzuhängen, macht keinen Sinn, stellte er fest.

Wenn Leute ihn jetzt fragten, wie es ihm gehe, dann antworte er lediglich: »Gut«, und dachte gleichzeitig: Aber ich bin innerlich nicht wirklich erfüllt! Das war die Wahrheit, und es reichte, wenn die Leute nur die eine Hälfte der Wahrheit kannten.

In dieser Zeit stellte Erwin sich vor den Spiegel und schaute sich an: »Mann, bist du fett geworden«, sagte er zu seinem Spiegelbild. Das stimmte gar nicht, aber so dachte Erwin. Klar, er hatte zwei Kilo zugenommen, aber dick war er noch lange nicht. Aber Erwin sagte zu sich selbst: »Alter Mann, so geht das nicht weiter. Immer nur essen und schlafen, das ist nicht gut für dich. Du musst was tun, ab und zu mal Treppen zu steigen, ist nicht genug.«

Er zog seine Schuhe an und ging zum Lift. Er wollte gerade auf den Knopf mit der grünen Schrift ›Lift kommt‹ drücken, da fiel ihm ein, dass er sich ja mehr bewegen wollte: »Nix da, mein Junge, du nimmst die Treppen«, befahl er sich selbst.

Fünfzehn Minuten später betrat Erwin das einzige Schuhgeschäft im Dorf. Es roch nach neuen Schuhen. »Wanderschuhe, haben Sie auch Wanderschuhe?«

»Guten Tag, ja, natürlich. Bitte kommen Sie mit nach oben«, antwortete ihm eine schlanke Frau und huschte die Treppe hoch. Die ist fit, dachte Erwin und schleppte sich langsam die acht Stufen hoch. Als er oben ankam, prustete er wie Boo, als er den Traktor aus dem Dreck gezogen hatte.

Die Frau, die er fünf Jahre jünger schätzte als sich selbst, brachte ihm ein Paar Schuhe. Erwin ließ sich auf einen Stuhl fallen und zog den Bauch ein.

»Na, dann probieren wir mal«, sagte die Schlanke und kniete sich vor Erwin nieder, zog ihm seine Schuhe aus, steckte seine Füße in die Wanderschuhe, band die Schuhriemen zu und wischte mit der rechten Hand über die linke Schuhspitze. »So, stehen Sie mal auf.«

Erwin hatte die ganze Zeit nur an die Frau vor ihm auf dem Boden gedacht und gar nicht richtig zugehört. Sie ist vielleicht doch jünger, als ich dachte, ging es ihm durch den Kopf.

Schöne Hände hat sie.

Ein schönes Gesicht.

Eine sympathische Stimme.

Eine liebe Art!

»Stehen Sie doch mal auf«, wiederholte die nette Frau.

»Oh, natürlich, ja, wissen Sie, ich, äh, mir … ja, natürlich«, stotterte Erwin herum und stand flott wie ein junger Bursche auf.

»Und, wie fühlen Sie sich?«

»Wie ich mich fühle? Wie dreißig!«

»Nein, ich meine, passen die Schuhe? Fühlen Sie sich wohl in den Schuhen?«

»Ja, ja, die nehme ich, die sind genau richtig.« Er schaute die Verkäuferin an und dachte: Mit dieser Frau könnte ich glücklich werden.

»Vielen Dank, Sie sind genau die Richtige, äh, ich meine, ich bin genau ins richtige Schuhgeschäft gekommen.«

»Das ist nicht schwer«, sagte die freundliche Frau, »es gibt ja nur dieses in unserem Dorf.« Sie lächelte Erwin dabei so nett an, dass es ihm warm ums Herz wurde.

Erwin zahlte und wandte sich zur Tür.

»Brauchen Sie sonst noch was?«

Erwin schaute zurück. Wieder lächelte sie und Erwin dachte: Ja, ich brauche noch ganz viel. Ich werde jeden Tag hierherkommen und etwas kaufen. Aber er sagte etwas anderes: »Ja, vielleicht noch ein paar gute Socken.«

Erwin zahlte und ging. Sie kam ihm hinterher, öffnete ihm die Tür und gab ihm die Hand zum Abschied. Sind die Leute aber freundlich hier!, dachte er. Oder war sie nur zu mir … Hör auf zu spinnen, Alter, würgte er den Gedanken ab und ging in die nächste Kneipe.

Zwei Stunden später kam er wieder raus. Nein, betrunken war er nicht, aber vielleicht ein bisschen angeheitert. Es gibt zwei Wege nach Hause: einen kürzeren, der aber nicht am Schuhgeschäft vorbeiführte, und einen längeren, vorbei am Schuhgeschäft. Ich will ja abnehmen, überlegte er, also nehme ich den längeren!

Direkt am Schuhladen vorbeigehen wollte er nicht. Was würde die Verkäuferin von ihm denken? Also wechselte er die Straßenseite und tat so, als habe er es eilig. Dann fiel ihm ein, dass er ja gar nicht wusste, wann das Schuhgeschäft offen hatte. Nach ein paar Metern ging er wieder zurück auf die andere Straßenseite und schlenderte gemütlich von Geschäft zu Geschäft. Vor der Tür des Schuhgeschäfts hielt er an. Mit dem Finger zeigt er auf den Anschlag mit den Öffnungszeiten, fuhr langsam von oben bis unten daran entlang und bewegte seine Lippen. Seine Augen allerdings suchten das Innere des Ladens ab. Ja, da stand sie und tippte gerade Zahlen ein. Als sie ihn sah, hob sie ihre Hand zum Gruß. Er grüßte zurück, indem er die Tasche mit den Schuhen hochhielt und schwenkte. Dann zeigte er auf den Zettel, so als wollte er sagen: »Hab schnell mal geschaut, wann Sie offen haben«, und marschierte los.

Er hatte den längeren Weg nach Hause gewählt, weil er fit werden wollte. Bald würde er feststellen, dass der längere Weg noch aus einem anderen Grund der richtige gewesen war.

Erwin ging bis zur Mitte des Dorfes, dann schwenkte er nach rechts in eine schmale Gasse ein und befand sich nach 500 Metern auf einem schmalen Landweg. Der bog bald nach rechts ab. Erwin ging wieder in Richtung Wohnheim. Rechts von ihm lag das Dorf, in dem »eine wunderbare Frau« arbeitete, links erhoben sich einige Kilometer entfernt die Berge. Auf beiden Seiten breiteten sich weite Kornfelder aus. Vor ihm lag ein kleiner Wald. So, wie es aussah, führte der Weg in den Wald hinein. Eine wunderschöne Gegend, dachte er. Er breitete beide Arme aus, sog das Duftgemisch aus Blumen und Korn tief ein und sagte laut: »Ich liebe das Land, den Wald und die Berge. Es ist so schön hier!« Ungewollt hatte er sich dabei in Richtung Dorf gedreht.

Der Weg führte tatsächlich durch das kleine Wäldchen und Erwin gelangte schnell wieder auf ein freies Feld. Er hatte einen weiten Blick nach vorn. Ja, da ging es etwas bergab zum See. Vorn rechts von ihm lag das Wohnheim. Und links tauchte jetzt das Haus mit dem roten Dach auf, das er von seinem Fenster aus gesehen hatte. Er nahm sich vor, das Anwesen mal aus der Nähe anzuschauen.

An der Kreuzung blieb er stehen. Der Landweg, der weiter zum See führte, wurde hier von einer asphaltierten Straße gekreuzt, die vom Dorf hinauf zum Haus verlief. Rechts, nur wenige Meter von der Kreuzung entfernt, stand ein buschiger Haselnussbaum einsam in der Landschaft. Zwei Tauben saßen halb verdeckt auf einem Ast dicht nebeneinander.

Erwins Aufmerksamkeit richtete sich auf das große Haus links von ihm. Ein umgebauter Bauernhof, ging es ihm durch den Kopf. Links der Stall, rechts das Wohnhaus. Alles sauber und gepflegt. Das ganze Gelände mit einem hohen grünen Drahtzaun umgeben. Wer wohnt hier wohl?, fragte er sich und gab sich gleich selbst die Antwort: »Wahrscheinlich eine wichtige Persönlichkeit!« Seine Vermutung bestätigte sich, als er nach links auf den asphaltierten Weg abbog und die Einfahrt sah. Ein schwarzes Auto stand vor der Tür. Eine Wache. Das Haus wird sicher bewacht! Es hätte ihn gereizt, noch näher heranzugehen, um herauszufinden, ob wirklich ein Mann mit einem Gewehr im Auto saß. Aber vielleicht ein andermal, entschied er.

Er ging zurück, vorbei an der Kreuzung, wo die Tauben schliefen, und beschleunigte seinen Schritt. Zum Abendessen wollte er zu Hause sein. Hinter ihm wieherte ein Pferd und er vernahm eine fröhliche Kinderstimme. Aber das kümmerte ihn jetzt nicht, er war müde und hatte Hunger. Er hatte nur noch den gedeckten Abendbrottisch im Sinn.

Nach zehn Metern blieb er ruckartig stehen, als wäre er an eine unsichtbare Wand gelaufen. Er schaute zurück. Ein Pferd?! Nein, das war nicht irgendein Pferd, das war Lia! Es gab keinen Zweifel, er hatte seine Lia gehört.

Erwin drehte sich viel zu hastig um. Es wurde ihm schwindlig. Er blieb einen Augenblick ruhig stehen und atmete tief durch. Dann marschierte er entschlossen auf den Eingang zu, vor dem der schwarze Wagen stand. Er würde dem Mann mit dem Gewehr erklären, wer er war und was er wollte.

An der Stelle, wo die Wege sich kreuzten, blieb er stehen und dachte: An der »Taubenkreuzung« habe ich Lia wiedergefunden. Und er stellte fest, dass es ihn außerordentlich berührte. Es war mehr als Wiedersehensfreude. Lia hatte nur gewiehert, aber es hatte sich angefühlt, als hätte sie ihm zugerufen: »Erwin, du stehst nicht zufällig an dieser Kreuzung.« Er ahnte, dass etwas Bewegendes auf ihn zukam. Sein Blick wanderte wieder Richtung Dorf.

Schon die Begegnung mit der Verkäuferin war ihm so tief unter die Haut gegangen. Ja, er hatte sie als Frau nett und anziehend gefunden. Aber da war mehr! Erwin überlegte, was es gewesen sein könnte, fand aber keine Antwort. Was passiert hier eigentlich mit mir?, fragte er sich. Es waren gute, mächtige Gefühle, die sich in ihm breitmachten, aber sie verunsicherten ihn auch. Es fühlte sich an, als wäre da noch jemand anderes im Spiel. Dies war ihm fremd, er hatte so was noch nie erlebt.

Perlen ohne Glanz

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