Читать книгу Der Neujahrsabend - Gerda M. Neumann - Страница 12

Kapitel 5

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Amanda trat das Gaspedal fast bis zum Anschlag durch. Glücklicherweise war das Land flach und die Straße leer und ziemlich gerade. Sie waren in Verzug, ein liegengebliebener Lastwagen hatte sie mehr als eine Viertelstunde gekostet und davor hatte sie noch tanken müssen. Olivia schwieg. Eine dreiviertel Stunde später schoss der Wagen nach Cambridge hinein, kurz hinter dem Fitzwilliam Museum bog Amanda in eine kleine Seitenstraße ab, fuhr dicht an den Bordstein und stellte den Motor aus.

»Heute riskiere ich ein Strafmandat. Dann schaffen wir es noch. Komm!«

Olivia stand schon auf der Straße. Immer noch schweigend folgte sie den eiligen Schritten von Amanda. An der Straßenecke blieb die unvermittelt stehen. »Ich bin sicher, unser Chief Inspector wird von der anderen Seite kommen. Wir warten hier, wenn er in den Durchgang einbiegt, folgen wir ihm.« Sie lehnte sich an den zunächst stehenden Laternenpfahl und schloss ihren Mantel ordnungsgemäß, wand ihren Schal nach kurzem Innehalten mehr wärmend als dekorativ um den Mantelkragen und hielt Olivia mit einer Handbewegung zurück: »Ich sage dir, wenn er kommt. dich darf er auf keinen Fall auch nur ahnen, also bleib unsichtbar!«

»Und du?«

»Auf mich reagiert er sicher nicht: Erstens ist er in Gedanken mit Beeverell beschäftigt, zweitens erwartet er niemanden in Cambridge unvorhergesehen zu treffen – er ist ja nicht ich – und drittens sind meine Haare unter der Fellkappe verschwunden.« All diesen überzeugenden Argumenten zum Trotz stand Amanda im nächsten Moment neben Olivia hinter der Hausecke: »Er kommt! Pünktlichkeit ist eine angenehme Tugend – jedenfalls bei anderen!«

Olivia lachte schallend, lugte anschließend um die Ecke und schoss davon, denn die Straße war bereits wieder leer. Am College-Eingang ließ sie Amanda den Vortritt. Diese bog selbstverständlich ein, nickte dem Pförtner zu und blieb vor den Anschlagtafeln stehen. Während sie die Bekanntmachungen überflog, lockerte sie ihren Schal, als wäre sie am Ziel. Olivia lehnte sich daneben an die Wand und riskierte einen Blick auf die Rasenfläche, rechtwinklig umschlossen von den alten, schweigenden Gebäuden. Sie sah in Richards Rücken. Er hielt gerade einen Studenten an. Während sie noch miteinander sprachen, flog die Tür im entfernten Eck hinter dem Rasen auf und Beeverell schritt quer über den Rasen: »Chief Inspector Bates? Ich freue mich, Sie begrüßen zu dürfen.« Die beiden Männer gaben sich die Hand, Richards Erwiderung konnte Olivia nicht verstehen. Beeverell drehte sich zu dem abwartenden Studenten: »Sehr nett, dass Sie unserem Gast behilflich sein wollten. Chief Inspector Bates kommt von Scotland Yard. Er ermittelt zu dem unerwarteten Ableben des Schriftstellers Keith Aulton.« Mit einem Nicken entließ Beeverell den Studenten und fasste Richard am Arm: »Begleiten Sie mich hinein, bitte. Ich hoffe sehr, Ihnen bei Ihren Nachforschungen nützlich sein zu können. Schließlich habe ich den Toten sehr gut gekannt.« Damit verschwanden sie durch die Tür in der Ecke hinter dem Rasen und es wurde still. Olivia wandte ihr Gesicht zu Amanda. Die zog ihren Schal wieder fester: »Komm,« war alles, was sie sagte.

Zwei Minuten später ließ sie den Motor ihres Wagens an: »Wir eilen zu Mrs Beeverell, gerade noch früh genug am Tag für den Vorwand, ihren Göttergatten treffen zu wollen.«

»Du hast ja einen strengen Tagesplan ausgearbeitet,« stellte Olivia überrascht fest.

»Nur diese zwei Ausgangspunkte, alles weitere muss sich ergeben!«

»Haben die Beeverells Kinder?«

»Nicht um diese Tageszeit.«

»Heißt das, sie sind so jung, dass sie noch zu Hause leben?«

»Ich glaube ja. Mrs Beeverell ist zwölf bis fünfzehn Jahre jünger als ihr Mann, Du könntest es mit leichten arithmetischen Aufgaben versuchen.«

»Nein, fiel mir nur gerade ein. Ich versuche, mich auf die nächste Begegnung einzustellen. Bist du sicher, dass sie zuhause ist?«

»Ja, bis gegen zehn auf alle Fälle. Sie arbeitet in einer Galerie, aber sicher nicht jeden Tag; außerdem öffnet die erst um zehn Uhr dreißig. Sie, Mrs Beeverell, hat Kunstgeschichte studiert, glaube ich. Da sind wir.« Erneut war Amanda an den Straßenrand gefahren und hatte den Motor abgestellt. »Parken ist in Cambridge ein Vergnügen,« stellte sie beiläufig fest. Sie streifte die Fellmütze vom Kopf, fuhr sich mit einer Bürste durch ihre Haarfülle und warf sie wieder auf den Rücksitz.

»Die wohnen aber nah am College,« Olivia sprang aus dem Wagen, »auch ein Vorzug von Cambridge.«

»Aber nicht gut für Beeverells Figur.« Amanda läutete, während Olivias Augen über das Einfamilienhaus streiften: hübsch, nicht älter als zwanzig Jahre, englisch aber nicht einfallsreich, Vorgarten ordentlich und langweilig, wahrscheinlich bunte Blumen im Sommer. In ihre Gedanken hinein öffnete sich die Haustür.

»Guten Morgen, Mrs Beeverell. Entschuldigen Sie den Überfall zu dieser frühen Stunde. Ich bin Lady Cranfield, Sie werden sich erinnern…« Amandas Stimme schwang aus und ließ der erstaunten Frau etwas Zeit. »Ich würde liebend gern Ihren Gatten sprechen. Ich hoffe sehr, dass er mir helfen kann!«

»Leider ist mein Mann schon im College. Er musste heute früher als üblich dort sein.«

»Ach…«

»Ein Chief Inspector von Scotland Yard will mit ihm über den Todesfall von Keith Aulton sprechen.« Mrs Beeverell stand noch immer in der halbgeöffneten Tür und hielt sich mit der linken Hand daran fest. »Sicher will sie nur die kalte Januarluft aussperren« – Olivia sah gespannt auf Amanda.

»Ich bin so erschüttert…« Amanda senkte ganz leicht ihren Kopf. »Keith und ich steckten mitten in einem literarischen Projekt, wissen Sie, und da Ihr Gatte ihn in allen literarischen Fragen beraten hat, nehme ich an, er weiß einiges über die Pläne des Verstorbenen.« Ein Frösteln schien sie zu schütteln. »Aber ich bin zu spät, da…,« wieder schüttelte sie die Kälte.

Und endlich hatte sie Erfolg. Mrs Beeverell trat von der Tür zurück: »Wenn Sie wollen, kommen Sie herein. Ich koche uns schnell einen heißen Tee, damit Ihnen wieder warm wird.« Ein etwas abweisender Blick traf Olivia.

»Oh, ich vergaß. Das ist Miss Lawrence… Sie hat heute in Cambridge zu tun, ich nahm mir aber nicht die Zeit, sie in die Stadt zu fahren, da wir sowieso schon später als beabsichtigt waren. Der Londoner Verkehr, Sie wissen das ja sicher aus eigener Erfahrung… heute hielt uns ein liegengebliebener Lastwagen auf, er blockierte die ganze Straße…« Genauso beiläufig wie zu Olivias Begleitung und über den Londoner Verkehr äußerte sich Amanda wenig später zu einen jungen Maler, von dem sie jüngst gehört hatte und dessen Gemälde sie im Laufe des Tages noch besichtigen wolle, da sie nun schon einmal in Cambridge sei…

Damit endlich hatte sie einen Spalt in den abweisenden Schirm von Mrs Beeverell gerissen: »Sie werden Ihre Zeit bestimmt nicht vergeuden! Dieser junge Mann ist wirklich ein Künstler!« Und sie redete, bis der Tee in den Bechern dampfte, sogar Olivia hatte einen bekommen, begleitet von der höflich-desinteressierten Frage: »Sie haben beruflich in Cambridge zu tun?«

»Ja, so ist es. Ich arbeite über interkulturelle Aspekte der österreichischen Literatur zu Beginn…«

»Das ist ja schön,« unterbrach Mrs Beeverell und wandte sich wieder Amanda zu.

»Der Tee tut mir ausgesprochen wohl,« teilte diese mit einem kleinen Lächeln mit. »Mrs Beeverell, wie schwer muss Ihr Gatte von der Todesnachricht aus Dulwich getroffen worden sein. Er war mit Keith Aulton eng befreundet, oder irre ich mich?«

»Kommt drauf an, was Sie unter eng befreundet verstehen…« Ihre Augen wurden ein wenig schmaler, oder bildete Olivia sich das ein?

»Nun, sie lernten sich zu Studienbeginn kennen…«

»Ja, richtig,« übernahm Mrs Beeverell eilig den Faden. »Ihre Freundschaft entstand während der gemeinsamen Studienjahre hier in Cambridge. Seitdem haben sie sich nie mehr aus den Augen verloren. Keith Aulton war danach wohl einige Jahre im Ausland, anschließend lebte er in London, aber er kam regelmäßig nach Cambridge. Ich selbst lernte ihn erst nach unserer Heirat kennen.«

»Demnach kannten Sie ihn aber recht gut?«

»Nicht allzu gut. In den ersten Jahren herrschte viel Trubel in diesem Haus, unsere Kinder waren klein – Sie verstehen? Keith mochte das nicht. Also trafen er und Henfrey sich im College. Später arbeitete ich in der Galerie und ein Haus ohne Hausfrau ist kein gastlicher Ort, betonte Henfrey immer wieder, also blieb es weiterhin beim College.«

»Nun, immerhin trifft sein Tod Sie damit nicht allzu persönlich… ganz anders als Ihren Gatten, nicht wahr?« Amanda blieb beharrlich.

»Er ist erschüttert! Er war so stolz auf Keiths Erhebung in den Adelsstand! Seit einem halben Jahr malt er sich immer wieder aus, welche Ehrungen nun auch nicht mehr auszuschließen seien…«

»Welche zum Beispiel?« unterbrach Amanda mit einem weiteren kleinen Lächeln.

»Das kann ich Ihnen jetzt nicht mehr sagen, es ist ja nun auch alles hinfällig. Über wie vielen Zukunftsplänen und Erwartungen sich von heute auf morgen der Sargdeckel geschlossen hat, machte Henfrey völlig verrückt. Stundenlang lief er hier im Wohnzimmer auf und ab, gestern, vorgestern, ich konnte ihn nicht zum Sitzen überreden.«

»Demnach hatten die beiden Männer gemeinsame Pläne?«

»Das wohl nicht. Henfrey wirkte als wissenschaftlicher Beirat für Keith, er sah sich eng verbunden mit dessen künstlerischem Schaffen. Das alles ist mit einem Schlag vorbei. Ich denke, es ist an dieser Stelle eine große Leere entstanden, die sich erst im Laufe der Zeit mit Neuem füllen wird. So etwas braucht Zeit.«

Lady Cranfield wirkte sehr mitfühlend: »Freunde können einem dabei helfen, mir ergeht es jedenfalls so,« bekannte sie. »Ihr Mann ist doch mit Bruce Trelaney ebenfalls seit Studientagen verbunden…«

»Das war früher so. Seit Bruce an der Universität in Brighton lehrt, hören wir nicht mehr viel von ihm.« Mrs Beeverells Ton wurde etwas schärfer.

»Und der junge Ingram?«

»Der scheint völlig am Boden zerstört zu sein. Gestern Abend rief er hier an, die Polizei hatte mit ihm geredet, mein Mann sprach lange mit ihm. Heute oder morgen will er nach Cambridge kommen.« Der scharfe Ton verfestigte sich.

»Alle Welt scheint nach Cambridge zu kommen…« Lady Cranfield erhob sich – dieses Mal mit einem verwunderten Lächeln. »Eigentlich sollte man erwarten, dass die Freunde eher nach Dulwich fahren, um Muriel beizustehen…«

»Der Witwe beizustehen ist doch eher Sache der Verwandten, finden Sie nicht?« Mrs Beeverell hatte sich gleichfalls erhoben. »Außerdem hat sie Kinder!«

»Richtig.« Lady Cranfield schritt hinaus in die Diele. Olivia war vorausgegangen und wartete neben der Haustür, als Amanda noch einmal innehielt: »Leider sehe ich Henfrey jetzt gar nicht…«

Der Aufbruch verwandelte Mrs Beeverell zurück in eine höfliche Gastgeberin: »Lassen Sie mich nachdenken – ich glaube, er hat heute Nachmittag sein vierzehntägiges Treffen mit einem Kollegen aus dem Trinity. Seit die zwei ihre Besprechung in den ›Dying Dragon‹ verlegt haben, dauert sie doppelt so lange wie früher. Sie werden ihn heute wirklich nicht mehr treffen können. Vielleicht ist es möglich, dass Sie sich telefonisch mit ihm beraten, ich werde ihm jedenfalls ausrichten, dass Sie hier waren.«

Ein warmer Dank für den Tee, einige höfliche Abschiedsfloskeln und die Haustür schloss sich hinter den Eindringlingen.

Der Neujahrsabend

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