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Kapitel 4

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In der kahlen Allee raschelten die letzten trockengefrorenen Blätter unter den Schritten und draußen auf den weiten leeren Rasenflächen grasten einige kanadische Gänse. Gelegentlich ging ein Hundebesitzer in Erfüllung seiner Pflicht vorbei, darüber hinaus war es leer im Regent’s Park an diesem bleichen Januarmittag.

Der tote Schriftsteller-Freund hielt Amandas Gedanken fest. Sie ging neben Olivia her und beschwor eine Erinnerung nach der anderen, setzte damit das Erinnern gegen den Tod: »Weißt du, seine langen Spaziergänge im Park von Dulwich führten ihn auch an den Stadtstreichern vorbei, die dort in der Sonne saßen,« Amandas Blick fing sich an einer leeren Bank. »Mit einigen von ihnen hat er sich regelrecht angefreundet, er wusste, wo er sie zuverlässig antreffen konnte und hat ihnen auch hin und wieder etwas zu essen mitgebracht. Er behauptete, es gebe sehr interessante Menschen unter ihnen.«

»Daran besteht vermutlich kein Zweifel. Ich habe keinerlei Erfahrung mit ihnen, ehrlich gesagt meide ich sie lieber,« gestand Olivia, »aber Richard trifft immer wieder auf sie und berichtet, wie schwierig es ist, mit ihnen umzugehen, und wie langwierig, wenn man sie zum Reden bringen will. Keith Aulton ist nun kein Polizist, aber dennoch scheint es eine Herausforderung für Takt und Einfühlungsvermögen darzustellen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie haben ihn mit Sicherheit von einer uns allen verborgenen Seite kennengelernt, darüber sollte man mal grübeln.«

»Oh, die Beziehung zwischen Keith und den Stadtstreichern hatte noch eine amüsante Seite: Keith ging nie ohne ein Buch in den Park, auch nicht in den unwirtlichen Jahreszeiten, die einem eher nicht nahelegen, länger auf einer Bank zu sitzen. Ob grundsätzlich oder nur nach Unterhaltungen mit seinen streunenden Brüdern, jedenfalls ließ er sehr häufig sein Buch im Park liegen. So führte sich der Brauch ein, dass Muriel einmal in der Woche zu einem alten Baum, der eine große Höhlung im Stamm besitzt, pilgerte und die Bücher wieder abholte. Denn dort, in einer wasserfesten Plastiktüte, die sie jedes Mal zurückließ, sammelten die Stadtstreicher seine Bücher.«

Olivia sah verträumt übers Wasser: »Das ist eine schöne Geschichte…«

Amanda blieb auf der langen Holzbrücke, die über einen Seitenarm des großen Sees führte, stehen und sah hinunter. »Ja, nicht wahr? Weißt du, wenn ich einen Roman schreibe, verdichten sich solche kleinen Geschichten und Beobachtungen zu einigen Handlungssträngen, die ich zu einem möglichst unterhaltsamen Muster verwebe und dem Leser zum Nachdenken überantworte. In unserem Mordfall scheint der Arbeitsablauf umgekehrt zu sein: Ich muss die Handlungsstränge auseinanderdröseln, um sie wie die Fäden eines komplizierten Klöppelwerkes einzeln zurückverfolgen zu können. Und das, was mal ein Kunstwerk war, wird zerstört.«

»Das Leben ist aber kein Kunstwerk! Und ein Kunstwerk nicht das Leben, nicht einmal der realistische Roman. Über ihn hat mal ein kluger Kopf gesagt, dass das ›als-ob‹ eines Kunstwerkes nie die Möglichkeit ausschließt, die ›wahre‹ Wirklichkeit könne sich schließlich doch als etwas ganz anderes herausstellen.«

»Aber als was?«

»Im Moment als hässliches Rätsel! Wenn wir genügend Einzelteile und vor allem die richtigen zusammengetragen haben, werden sie sich wieder zu einem sprechenden Bild gruppieren. Das ist dann kein Kunstwerk, hoffentlich aber die Lösung.«

Amanda musterte die Freundin, ein wenig nachdenklich, ein wenig unzufrieden, schließlich ruhten ihre Augen auf der stillen Wasserfläche aus. Olivia sah den Enten zu und schwieg.

Als sich Amanda nach einer langen Weile wieder regte, klang ihre Stimme beinahe mädchenhaft: »Meine Gedanken kreisen fast nur noch um Keith, mir fallen mehr Episoden ein, als ich gedacht hätte, je mit ihm erlebt zu haben. Aber sie alle miteinander helfen mir nicht zu begreifen, dass er tot ist und schon überhaupt nicht, dass er ermordet wurde…«

»Du willst einfach nicht, dass es so ist – kann das sein?«

»Nicht mal das weiß ich. Er war ein Freund, aber er gehörte nicht in den Kreis der Unverzichtbaren, so wie du das tust. Also macht meine Reaktion keinen Sinn, aber ich kann sie auch nicht loswerden. In meinem Kopf drehen sich die Geschichten wie ein Ringelspiel, das Lied heißt ›Es war einmal…‹ und das Karussell dreht sich, als wolle es nie wieder damit aufhören.«

»Dagegen hilft nur Arbeit,« Olivias Stimme klang sanft, »an was für einer Geschichte schreibst du gerade? Erzähl mir davon!« Sie schob ihren Arm unter den der Freundin und brachte sie wieder zum Gehen. Das war bei den Januartemperaturen nicht das schlechteste.

Zehn Meter weiter blieb Amanda abrupt stehen: »›Arbeit‹ ist das richtige Stichwort! Aber nicht an meinem derzeitigen Roman – der muss warten, sondern an einer Mordgeschichte. Ich werde mich umhören, Luncheinladungen aussprechen und Telefonate führen. Freundlich, ein wenig klatschsüchtig und unermüdlich – auf der Suche nach Material, wie ich das meistens mache. Niemand wird sich wundern, alle werden normal reagieren und reden, wie sie es immer tun…«

»Du willst dich auf die Suche nach Aultons Mörder machen?«

»Nicht so direkt und schon gar nicht allein. Ich möchte, dass du mitkommst! Du hast dieses spezielle Gehör für das, was die Leute verschweigen. Deswegen konntest du der Polizei ja früher schon helfen. Auch in diesem Fall kannst du arbeiten, wie du es gewohnt bist und ich versuche, den Ablauf zu beschleunigen, indem ich dir sicher manches Nützliche über die einzelnen Leute erzählen kann. Und ich werde mich umhören, wie gesagt. Dazu die Arbeit deines Freundes Richard… das ist hervorragend! Wir werden den Mörder finden…« Amanda zog ihren Arm aus dem der Freundin und ging davon. Nach einem verdutzten Moment folgte Olivia ihr.

»Warum bist du auf einmal verstummt? War das Wort ›Mörder‹ zu wirklich?«

»Vielleicht… Mir kam gerade der Gedanke, dass ich die meisten der in Frage kommenden Kandidaten gut kenne und eigentlich auch gut leiden kann. Am Ende freut mich unsere Lösung gar nicht…«

»Das kann so sein, aber da ist keine Hilfe.«

»So ist es wohl.« Amanda wirkte nicht sehr glücklich über diese Einsicht. Nach einem tiefen Atemzug kehrte ihr Blick zu Olivia zurück: »Heißt das, du bist einverstanden?«

Olivia raschelte durch das alte Laub der Allee. Als sie genug davon hatte, bog sie rechtwinklig ab und schritt hinaus auf die weite Rasenfläche. Der offene Himmel gab ihr das Gefühl von Freiheit. Sie sah zur Freundin zurück, die unruhig auf Antwort wartete: »Genau betrachtet, stecke ich schon mitten in dieser Geschichte drin. Gestern habe ich meine ›Londoner Skizze‹ für die Zeitung in München zwar irgendwie fertig geschrieben, nicht zuletzt, weil ich von ihr lebe. Aber viel mehr habe ich nicht zustande gebracht. Richard rief an, anschließend haben wir zwei telefoniert, am Abend saß Richard wieder da und Leonard packte um Mitternacht der Übermut. Denk dir, wir werden heute am Nachmittag nach Willesden aufbrechen und versuchen, afrikanisches Pfeilgift zu organisieren.«

»Das gibt es nicht!«

»Sollte man meinen! Wir werden sehen, wie die Sache ausgeht. Und dazwischen du – seit zwei Stunden gehen wir nebeneinander her und reden über nichts anderes. Das kann vermutlich auch gar nicht anders sein. Also machen wir einfach weiter!«

Amanda umarmte die Freundin: »Du bist großartig! Komm, wir gehen nach Hause ins Warme!« Damit ließ sie sie wieder frei. »Jetzt brauchen wir einen Aktionsplan.«

Der Neujahrsabend

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