Читать книгу Der Neujahrsabend - Gerda M. Neumann - Страница 15

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Im ›Dying Dragon‹ drängten sich die Studenten um die lange Theke, auch sonst war der große Schankraum bereits ziemlich voll. Nach einem kurzen Rundumblick verschaffte Amanda sich die Aufmerksamkeit des Wirtes und wurde zu einem ruhigen Hinterzimmer geleitet. Dort entließ sie ihn und hielt kurz inne. Energisch schüttelte sie ihre langen blonden Haare. So auffällig sie waren, Professor Beeverell hatte sie dennoch nicht bemerkt, als er mit seinem Kollegen ins Pub ging. Sie klopfte.

Henfrey Beeverell verbarg seine Freude über die Ehre, Lady Cranfield seinem Kollegen vorstellen zu dürfen, keinen Augenblick. Entgegenkommend bot er ihr Platz an seinem Tisch an und selbstverständlich auch ihrer Begleiterin.

Auf die naheliegende Eingangsfrage, was sie nach Cambridge geführt habe, begann Amanda ein leichtes Gespräch über verschiedene Bibliotheken, ihre Vorzüge und ihre Verführungskräfte. Nachdem die Getränke gebracht worden waren, änderte sie die Zielrichtung: »Es fällt mir schwer, an Keiths Tod zu glauben. Was immer ich tue, meine Gedanken kehren zu ihm zurück. Um diesem Kreisen ein Ende zu machen, habe ich mich auf die Arbeit an unseren gemeinsamen Anthologieprojekten gestürzt,« teilte sie dem überraschten Professor mit. »Keith hat Sie in all seine Pläne eingeweiht, also sicherlich auch in diese, oder nicht?«

»Ja, selbstverständlich. In allen wissenschaftlichen Fragen war ich sein Ratgeber. Allerdings liegt das Material in meinen Räumen im College und so einfach aus der hohlen Hand vermag ich Fragen dazu kaum zu beantworten.«

»Natürlich nicht, das habe ich auch gar nicht erwartet,« Amanda sah ihn mit andeutungsweiser Entschuldigung im Blick an. »Miss Lawrence überraschte mich heute sehr früh am Morgen mit der Frage, ob ich sie nach Cambridge begleiten wolle, deshalb konnte ich mich nicht rechtzeitig mit Ihnen verständigen. Und da ich nun schon einmal hier bin, wollte ich Sie wenigstens sehen.« Dieses Mal warb ihr Blick verhalten um Verständnis, das umgehend gewährt wurde.

»Ich wäre untröstlich gewesen, Sie nicht zu sehen. Nach dem Schock, den der unbegreifliche Tod unseres gemeinsamen Freundes für uns beide bedeutet, könnte es eine gute Sache sein, das Material, das ich für die Anthologien drüben im College liegen habe, mit Ihnen durchzugehen. Ich bin sehr dankbar, dass Sie gekommen sind.« Beeverell erhob sich leicht von seinem Platz und deutete eine Verbeugung an.

»Haben Sie sich häufig mit Keith getroffen?«

Beeverell überlegte seine Antwort sorgfältig: »Gesehen haben wir uns gar nicht mal allzu häufig, nichtsdestotrotz pflegten wir einen sehr intensiven Kontakt. Glücklicherweise gibt es ja das Telefon, nicht wahr? Sie müssen sich vorstellen, dass ich Keith das Material für seine Romane hier in den großen Bibliotheken, über die wir gerade sprachen, zusammentrug. Wir erörterten die Fragen, die beim Planen und Schreiben auftauchten, und ich recherchierte so umfangreich, wie er es für seinen Zusammenhang gebrauchte – eine wunderbare Tätigkeit,« ergänzte er, als Amanda schwieg. »Auf diese Weise war ich an den Entstehungsprozessen seiner Werke sehr direkt beteiligt.«

»Dann müssen Sie über seine Arbeit mehr wissen als jeder andere! Helfen Sie dem jungen Ingram? Wie kam es überhaupt dazu, dass er in seiner Jugend die Verantwortung für die Gesamtausgabe übertragen bekam?«

»Mr Byatt, der Verleger – Sie kennen Ihn?«

»Ich weiß, wer er ist und erlebte ihn am Neujahrsabend…«

»Richtig – ja natürlich. Mr Byatt wandte sich an mich, als er diese Stelle in seinem Verlag besetzen wollte. Keith hatte ihn an mich verwiesen. Jeremy Ingram ist umfassend literarisch gebildet, ich hatte mich wiederholt davon überzeugt, er ist fleißig, gewissenhaft und fügsam.« Amanda zuckte leicht zurück. »Fügsamkeit ist nichts unbedingt Negatives,« erläuterte Beeverell. »Ich schätze sie bei einem jungen Assistenten sehr. Selbständigkeit ist doch erst angebracht, wenn man ausreichend Erfahrung besitzt. Keith seinerseits hätte mit einem eigenwilligen, eigenständigen Herausgeber Krieg angefangen. Ich glaube, meine Empfehlung erwies sich für alle Beteiligten als praktikabel – und darum geht es.«

Amanda musterte den Professor. Sie sah einen aufmerksamen, beinahe munteren Sechziger vor sich, der zumindest gegenwärtig seine Trauer vergessen hatte. »Weiß Ingram von Ihrer Mitarbeit an Keiths Romanen?«

»Er hat nur eine vage Ahnung davon, dass ich wiederholt Material zusammengestellt habe. Nein, normalerweise spreche ich darüber nicht. Sie sind selber Schriftstellerin, deswegen nahm ich an, Sie hätten ein professionelles Interesse an dieser Frage – sozusagen.«

Amanda schenkte ihm ein dankbares Lächeln für diese Anerkennung. Anschließend wanderte ein rätselnder Blick zu dem vierten Mann am Tisch, der, nachdem der Name Keith Aulton gefallen war, kein Wort mehr gesagt hatte. Beeverells Augen folgten denen von Amanda und er räumte die Bedenken aus, bevor sie formuliert wurden: »Mein Kollege vom Trinity ist die Schweigsamkeit in Person, sonst würde ich nicht so offen hier mit Ihnen reden.«

Amanda erneuerte ihr Lächeln: »Dann ist es ja gut.« Sie sah zu Olivia hinüber, die ebenfalls vollkommen schweigsam dem Gespräch folgte und auch jetzt keine Anstalten machte, daran etwas zu ändern. Beeverell schien diese Zurückhaltung äußerst naheliegend zu finden. Seine ganze Konzentration galt der schönen, hochadeligen Lady Cran-field. ›Und seiner eigenen Wenigkeit‹, dachte Olivia bei sich.

Eine längere Pause entstand, die Beeverell ganz entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nicht unterbrach, er ließ der Lady weiterhin die Gesprächsführung. Ob es Höflichkeit oder Taktik verriet, wagte Olivia nicht zu entscheiden. Schließlich ließ Amanda die anderen an ihren Gedankengängen wieder teilhaben: »Woran hat Keith in den zurückliegenden Jahren, in denen er keinen Roman und nur sehr selten eine Erzählung publiziert hat, gearbeitet? Zu welchen Themen bat er Sie um Material?«

»Es waren weitgespannte Themen,« begann ihr Gegenüber mit volltönender Stimme. »Zum Beispiel verfolgte er literaturtheoretische Fragen, Gattungsfragen und so weiter. Ich nehme ziemlich sicher an, dass sich in seinem Schreibtisch in Dulwich ein Manuskript zum Thema ›Literatur und Schreiben‹ befindet – ungefähr in dieser Art jedenfalls. Daneben überlegte er immer wieder, einige politische Essays zu verfassen; ich versuchte jedes Mal, ihn davon abzubringen.«

»Sie vermuten, dass das nicht seine Sache war?«

»Ja, in der Tat, da bin ich mir ziemlich sicher. Schließlich sprachen wir auch darüber. Seine persönlichen Kenntnisse von Afrika stammen aus den sechziger Jahren, also aus der Zeit, als unser Land seine Kolonien nach und nach in die Unabhängigkeit entließ. Ich brauche nicht zu betonen, wie viel sich seither verändert hat. Er war privat immer wieder in Kenia, aber ich weiß, dass seine Aufenthalte auf der Farm seiner Schwiegereltern seit langem ausschließlich der Entspannung gewidmet waren, allenfalls hat er dort geschrieben…«

»Ja, glücklicherweise – es gibt eine große Anzahl sehr schöner Erzählungen über Afrika,« bestätigte Amanda. »Werden sie jetzt in einem eigenen Band zusammengefasst?«

»Ja, so ist es. Ingram dürfte die meisten inzwischen gefunden haben. Wissen Sie, Keith hat keine Liste über seine Zeitungspublikationen, alles muss in Detektivarbeit wiedergefunden werden.«

»Als er noch regelmäßig Romane geschrieben hat, waren seine Tage zu kurz für solch bürokratische Notizen. Manchmal erzählte er mir von diesen Zeiten…«

»Sie kannten ihn damals noch nicht?«

»Nicht persönlich. Ich lernte ihn durch meinen ersten kleinen Roman kennen, das war nach meiner Heirat. Vor vielleicht zehn Jahren, genau weiß ich es nicht mehr.«

»Das ist sehr schade. Er war ein völlig anderer Mensch in jenen zurückliegenden Zeiten. Es gab verschiedene Schaffensperioden, die sich klar voneinander abgrenzen lassen… Es ist sehr bedauerlich, dass Sie nur die letzte Periode persönlich erlebt haben.«

»Ich kenne all seine Romane. Zumindest habe ich durch sie eine Vorstellung von dem Künstler, der er war. Warum hörte er auf zu schreiben?«

»Er hatte keine Themen mehr, die ihn ernsthaft umtrieben, glaube ich.«

»Sie meinen, seine Themen trieben ihn nicht so hart voran, dass er sich darum der Anstrengung des Schreibens aussetzte – und er kam nach einem langen Schriftstellerdasein ohne das aus?«

»Ich weiß nur, dass er es nicht mehr tat. Wieweit er darunter litt, weiß ich nicht, darüber sprach er nicht.«

Amanda betrachtete den Professor ruhig, bevor sie fortfuhr, er erwiderte ihren Blick: »Die Romane der letzten ›Schaffensperiode‹ bezogen ihre Themen aus den Lebensläufen der Stadtstreicher von Dulwich. Er kannte diese Menschen persönlich – ist das Gerücht richtig?«

»Oh, Sie dürfen es nicht für ein Gerücht halten! Er hat sich ausführlich mit diesen Menschen unterhalten, sehr ausführlich, bei Wind und Wetter. Seine Frau war gelegentlich ganz verzweifelt.«

»Warum?«

»Er war nicht so abgehärtet wie seine Gesprächspartner und saß trotzdem bei jedem Wetter auf den Parkbänken!«

»Ich verstehe… Was ihn wohl dazu gebracht hat?«

»Vermutlich bin ich schuld. Ich erzählte ihm von meiner Entdeckung, dass Lord Byron – er ist eines meiner wissenschaftlichen Spezialgebiete – in den zwei Jahren, die er als Schüler in einem Internat in Dulwich verbrachte, immer wieder in den Stadtwald getürmt ist, um sich mit den dort hausenden Zigeunern zu treffen. Als Keith sich wenig später für die Herumtreiber im Park zu interessieren begann, hielt ich das für eine Byron-Imitation. Bis dahin, dass der heutige Park auf dem Areal des damaligen wilden Waldes liegt. Alles passt!«

»Immerhin erwies sich sein Entschluss, Byrons Spuren zu folgen, als so fruchtbar, dass er gleich mehreren Romanen den Stoff lieferte.«

»Wunderbar, nicht wahr? Keith war ein Genie, ein großer Künstler! Die ganzen letzten Jahre hindurch habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass es noch eine eindrucksvolle Altersperiode geben wird. Allein die Krisen der stummen Jahre müssten doch schließlich wieder zu Romanen werden!« Er sah in Amandas Augen und schwieg.

Sie erwiderte seinen Blick und wartete, aber der beredte Mann war verstummt. »Fast haben wir vergessen, dass Keith nicht mehr lebt,« fing sie die sich ausbreitende Stille ein. »Können Sie sich vorstellen, was zu seinem Tod geführt haben könnte?«

Henfrey Beeverell starrte sie unverwandt an. Fassungslosigkeit lag in seinem Blick und er wirkte auf Olivia viel älter als noch ein paar Minuten zuvor. »Ich habe keine Ahnung, wer ihn umgebracht hat!« Für einige Sekunden schloss er die Augen und gewann damit seine Distanz zumindest teilweise zurück. »Heute Vormittag suchte mich Chief Inspector Bates auf. Er leitet die Ermittlungen von Scotland Yard. Ein freundlicher, überraschend dezenter Mensch. Die bisherigen Ermittlungsergebnisse haben, so berichtete er mir, unumstößlich geklärt, dass Keith das Gift während des Festes am Neujahrsabend zu sich genommen hat. Mir ist das unbegreiflich! Das sagte ich ihm auch.«

Amanda schien zu schaudern: »Mir steht ein solches Gespräch noch bevor. Sagen Sie, was wollte Scotland Yard von Ihnen wissen?«

Dieses Thema schien Beeverell auf den Magen zu schlagen. Schwerfällig erhob er sich und ging zur Tür. Der Wirt reagierte schnell und nahm die Bestellung eines doppelten Whisky auf Eis entgegen; alle anderen waren mit den Getränken vor sich auf dem Tisch noch ausreichend versorgt. »Was wollte Chief Inspector Bates von mir wissen – so genau weiß ich das eigentlich gar nicht. Merkwürdig, nicht wahr?« Er nahm einen Schluck und schien den Whisky zu kauen, bevor er fortfuhr: »Wir haben die meiste Zeit über Keith geredet. Ich erzählte ihm über sein Leben, seine Arbeit und über unsere Beziehung. Ich schmeichle mir, dass er mit einem genauen Bild des Toten davon geschritten ist. Wie ihm das allerdings weiterhelfen soll, fehlt mir die Phantasie.« Ein überraschendes Aufleuchten flog über sein Gesicht: »Vielleicht wissen Sie es – Sie sind doch Schriftstellerin!«

Ein Lachen erklang als Antwort, doch nur leise und kurz, schließlich war die Situation ernst. »Lieber Professor, in Polizeiarbeit kenne ich mich überhaupt nicht aus. Ich finde es allerdings plausibel, dass dieser Bates sich ein möglichst genaues Bild von seinem Opfer verschafft, bevor er nach dem Mörder sucht. Schließlich liegt die Ursache für den Mord im Leben. Stellen Sie sich vor, Bates lässt sich von jedem der Gäste Keiths Leben erzählen, soweit der Betreffende das kann – am Ende tauchen Widersprüche auf, mit denen die Polizei weiterkommt… könnte sein. Meinen Sie nicht?«

Der Neujahrsabend

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