Читать книгу Der Neujahrsabend - Gerda M. Neumann - Страница 6
Kapitel 1
ОглавлениеWie träger Silberstaub hing der feine Regen im Lichtkreis der großen Straßenlaternen, übriggeblieben von der Silvesternacht. Die kahlen Gerippe der riesigen Bäume störten die klare Geometrie der Lichtkegel und verloren sich in einer diffusen Höhe, in jenem Reich phantastischer Schatten, die der erste Schlag der großen Uhr um Mitternacht zu einem tollen Tanz in der Welt der Menschen befreite, Schatten von Dingen, die einmal gewesen waren. Der letzte dunkle Schlag von Big Ben hatte die Ordnung wieder hergestellt und das neue Jahr konnte seinen Anfang nehmen.
Der erste Tag war vorüber. Es war Neujahrsabend. Je länger Olivia durch die Windschutzscheibe starrte, desto strenger und höher erschienen ihr die kahlen Bäume und zugleich wie der Tummelplatz von Elfenkindern durch die tausend kleinen Funken, die das Licht den feuchten Ästen und Zweigen aufsetzte.
Der rhythmische Klang hoher Damenabsätze auf dem Straßenpflaster schob sich in ihre Gedanken und verstummte. Amanda war neben ihrem alten Saab stehengeblieben, schüttelte den zusammengeklappten Regenschirm und stieg ein: »Es ist schön, dich zu sehen! Bist du gut ins neue Jahr gekommen?«
»Ja, bin ich, der Silvesterabend spielte sich zwischen Küche und Kamin ab, mit Reden und Essen, er war richtig gut!«
»Dann wünsche ich dir, dass das begonnene Jahr so weiterläuft!«
»Danke. Und dir soll es helfen, so viele deiner Ziele zu verwirklichen, wie du schaffen kannst. Also: ein gutes neues Jahr! Wie geht es dir, was hast du gestern Abend unternommen?«
»Nichts Besonderes. Wir waren bei Freunden meines Mannes eingeladen. Du weißt: das Essen ausgezeichnet, die Getränke exquisit, die Gesellschaft ermüdet von sich selbst, ersatzweise gewandet in schillernde Seide und Satin.«
Olivia grinste: »Du hast die Vorzüge der Welt der ›Reichen und Mächtigen‹ genossen, deinen Intellekt benutzt, dich über sie lustig zu machen, und hattest bei alledem deinen Spaß.«
»Ja, so war es. Geschmackvoll und kostbar eingerichtete Räume und elegante Menschen genieße ich wie einen alten Hollywood-Film. Ich spiele meine Rolle nach ihren Regeln, das kann ich gut…«
»Ich würde dir zu gern einmal zuschauen!«
»…Du würdest nichts Neues dabei entdecken, ein guter Woody Allen-Film stellt dir ungefähr dasselbe vor Augen, nur bekommst du auch noch eine interessante Geschichte dazu erzählt… Dir wäre es leid um die viele Zeit, ganz sicher.«
»Und dir?«
»Meine Rache sind meine kleinen Gesellschaftsromane, mal komisch, mal kriminalistisch. Du kennst sie ja. Zusammen macht mir all das Spaß.« Nach kurzer Pause ergänzte sie: »All die Rollen, die ich spiele, sind nicht sehr verschieden von mir, doch nie ich. Solange ich wieder ich selbst bin, wenn wir zusammen sind, ist alles in Ordnung. Du verstehst, was ich meine?« Olivia verstand und der Ernst, mit dem Amanda den letzten Satz gesprochen hatte, freute sie.
Sie waren unterdessen von Chelsea, wo Amanda ihrer Mutter einen Neujahrsbesuch gemacht hatte, über die Themse gefahren und weiter dahin unter kahlen Bäumen und großen Laternen. Nur sehr wenige Menschen waren an diesem feuchten Abend unterwegs und kaum Autos, sogar in London hätte man für den Augenblick die Ampeln ausschalten können.
»Wie hast du den Silvesterabend verbracht?« wollte Amanda wissen.
»Zuhause. Zusammen mit Leonard. Der Silvesterabend ist für mich eine Art Spalt im Rollen der Zeit, in dem ich anhalte und das alte Jahr überdenke, manchmal auch dies und das aus den Jahren davor oder was mich sonst gerade beschäftigt – oder Leonard, ihm geht es da nicht viel anders.« Olivia lachte verschmitzt zur Freundin hinüber: »Aber wir sind keine Asketen. Wir haben uns ein endloses Menü mit vielen kleinen Gängen zubereitet, ich glaube, wir haben den ganzen Abend gegessen… und der erste Schlag der Mitternacht traf uns vor dem Kamin, ordnungsgemäß mit einem Glas Sekt in der Hand.«
»Und die ganze Zeit hindurch habt ihr geredet?«
»Ja, sicher. Ist das so ungewöhnlich?«
»Vielleicht ungewöhnlicher als du glaubst.«
Für einen Moment rollten sie schweigend die breite Straße hinunter. »Ich kann mich immer wieder über die schiere Ausdehnung von Clapham Common wundern, über diese grüne Weite mitten in der Riesenstadt,« stellte Olivia fest.
»Irgendwie hast du recht,« stimmte Amanda zu, »ich überraschte mich gerade bei dem Staunen, wie schön die Häuserzeile dort hinten ist, vielleicht ein wenig bunt, aber noch sichtlich in der Eleganz des 18. Jahrhunderts.«
Gut, dass die Ampel nicht ausgeschaltet war. Als der alte Saab stand, folgte Olivia Amandas Blick. Vierstöckige Häuser mit gusseisernen Balkons im 1. Stock reihten sich an einer Straße mit großen Bäumen; die ihnen gegenüberliegende Straßenseite war Grünfläche, die in den Common überging. »Komisch,« sinnierte Olivia angesichts dieses offenkundigen Wohlstandes, »warum denke ich bei Clapham eher an kleine Leute, die ein einzelnes Zimmer gemietet haben und froh sind, am Sonntag in diesem Grün spazieren gehen zu können?«
»Keine Ahnung. Immerhin haben hier Samuel Pepys, Macauly und Lytton Stratchey gewohnt.«
»Vergiss Captain Cook nicht. Aber das ist alles lange vorbei. Ich habe andere Gestalten vor mir, zum Beispiel einen älteren Mann, der manchmal mit einem kleinen Jungen unter den alten Bäumen spazieren geht – einen, der in eine Geschichte gehört…«
Die Ampel hatte schon vor einer Weile wieder umgeschaltet und sie rollten weiter Richtung Dulwich.
»Sag mal, weiß Keith Aulton eigentlich, dass du mich anstelle deines Mannes mitbringst?« Mit einem Mal war Olivia beunruhigt. »Ich meine, in den Adelsstand erhoben zu werden, ist ja nicht irgendein Anlass und Keith Aulton ist schließlich auch nicht irgendwer.«
»Kaum, sonst hätte die Queen ihm heute nicht die Hand gereicht. Aber mach dir keine Gedanken. Er schätzt meinen Mann nicht besonders; für die Geschäftswelt wie für den Adel hat Keith nur Spott übrig. Er wird froh sein über den Tausch. Lass mich nur machen.«
Das konnte sie zweifellos, doch die plötzliche Unruhe arbeitete weiter: »Erzähl mir von seiner Familie,« schlug Olivia vor.
»Ach du lieber Himmel! Meinst du nicht, wir sind gleich da?«
»Dann beeil dich!«
»Also gut – der wichtigste Mensch in Keiths Leben ist sicherlich seine Frau Muriel…«
»Wie ist sie?« bohrte Olivia ungeduldig.
»Ja, gute Frage – sehr englisch. Ausgesprochen nett. Ziemlich genau so alt wie Keith, also Mitte sechzig. Weißt du, ich mag sie sehr, aber ich verstehe sie irgendwie nicht, vielleicht liegt es daran, dass sie in Afrika aufgewachsen ist, aber eigentlich glaube ich das nicht.« Nach kurzer Pause fuhr Amanda fort: »Edith Sitwell bezeichnet die englische Frau irgendwo als ein Geschöpf von ausnehmender Menschlichkeit und Toleranz. Ihre tiefe ruhige Geduld und ihre Beharrlichkeit hätten etwas von der Kraft jener großen Bäume, die so viel zur Schönheit Englands beitragen. Dabei musste ich an Muriel denken – schau sie dir selbst an, vermutlich werden wir eine sehr interessante Rückfahrt haben. Also weiter: Die zwei bekamen drei Kinder, von denen zwei in London leben und heute sicherlich mitfeiern werden, es sind Kamante und Wangari. Ihre Namen kommen aus jenem Kenia, in dem Muriel aufgewachsen ist. Von Kamante könntest du schon gehört haben, er ist Schriftsteller wie sein Vater, aber im Gegensatz zu ihm hat er sich für Biographien und Reiseliteratur entschieden, gar nicht schlecht! Er ist das älteste Kind. Wangari folgte ungefähr zwei Jahre später und arbeitet in der Modebranche; ich habe bis heute nicht herausgefunden, was genau. Nach einem längeren Zeitraum kam dann noch Jerrie, zarthäutig und anmutig wie eine Frühlingsblume, ein anrührendes Kind. Sie studierte Landwirtschaft, ging nach Kenia und übernahm die Farm ihrer Großeltern. Sie soll dort sehr glücklich sein, zuhause in Afrika… merkwürdig. Stopp! Wenn du nicht hier, sondern dort vorn am Anfang der Straße, die in den Park von Dulwich führt, stehen bleiben könntest, hätten wir es nicht weit zu Fuß.«
Olivia gehorchte. Als sie ausstieg, fand sie sich vor einem relativ großen Haus aus rotem Ziegelstein mit klassischen schwarzweißen Tudorgiebel. Der Garten war sehr schön, ebenso die Grünanlagen in den Park hinein, soweit man sie in der Dunkelheit noch sehen konnte. Sie dachte an den wilden Wald, der hier zurzeit von Byron gewuchert haben musste, Schutz und Heimat vieler Generationen von Zigeunern; Byron hatte sich mit ihnen angefreundet, als Schüler, vor zweihundert Jahren. Sie schüttelte sich, so viel Rückgewandtheit musste eine Spätfolge von Silvester sein. Jetzt war Neujahr und es versprach, unterhaltsam zu werden. Und feucht. Sie zog ihren Mantel enger um sich, während sie mit der freien Hand das Auto absperrte.
»Was ist das für ein Kleidungsstück?« hörte sie Amanda mit leiser Fassungslosigkeit in der Stimme fragen. Die stand, in ein glänzendes schwarzes Cape gehüllt, unter ihrem Regenschirm.
Olivia sah kurz an sich hinunter: »Ein Lodenmantel, genau das Richtige für Nieselwetter in England.«
»So sieht es aus. Wo kauft man so etwas?«
»In Salzburg.« Olivias Stimme kam unter einer riesigen Kapuze heraus. »Du siehst es daran, dass dieser spezielle Loden langhaarig und anthrazitfarben ist, dunkelgrün abgepaspelt sogar an den Knopflöchern.« Sie blickte herausfordernd zu Amanda hinauf, doch deren elegante Erscheinung holte das Unbehagen angesichts der bevorste-henden Feier zurück. »Keith Aulton soll ein unkonventioneller Mensch sein. Meinst du, es würde ihm gefallen, wenn ich mich mit einem doppelten Handstandüberschlag einführe?«
»Untersteh’ dich! Für große Auftritte bin ich zuständig.«